Der Mann aus Gips. Alberto Giacometti in Brühl
In einer wundervoll eleganten Schau zeigt das Max Ernst Museum in Brühl gerade das surrealistische Frühwerk von Alberto Giacometti und seine berühmten, lang gedehnten Figuren nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir stoßen erstmal in die Leerstelle dazwischen. Natürlich, wie es sich in diesem Fall gehört, in Form eines Traums.
Manchmal legen wir uns in der KunstArztPraxis selbst auf die Couch und träumen. Und wenn wir unsere Schuhe vorm Schlafen besonders akkurat vor der Couch drapiert haben, dann träumen wir von Giacometti.
Die Träume mit Giacometti sind nicht immer schön. Es hausen Ängste und Zwänge darin, düstre Obsessionen. Gewalt – Vergewaltigung sogar! Oder, auch ganz schlimm: die nackte Existenz.
Und wenn wir Giacometti im Traum die falschen Schuhe schenken, dann brüllt uns Giacometti sogar wütend ins Gesicht.
Es geht auch anders!
Aber neulich hatten wir einen wirklich schönen surrealen Giacometti-Traum, der augenscheinlich bestechend war:
Darin trat Giacometti aus seinem tief verschneiten Hotelzimmer leicht hinkend ins Freie und ging auf dem verschneiten Trottoir Richtung verschneitem, braunem, schwarzem Wald.
Augenscheinlich bestechend: Alberto Giacometti, “Pointe à l‘œil” /
Stachel gegen das Auge (1931/1932), Max Ernst Museum, Brühl 2024
Drinnen wie draußen war es derart weiß, dass wir fast schneeblind geworden wären: Wir mussten die Augen zusammenkneifen. Da sahen wir den weißen Kopf Giacomettis in der Ferne schemenhaft wie durch ein Nichts aus spitzen und runden Formen schweben: Seine weißen Schuhe modellierten derweil weiße Schuhabdrücke auf dem weißen Trottoir.
Der Sarg der Streichholzschachtel
Irgendwann griff Giacomettis weiße Hand in Giacomettis weiße Manteltasche und hielt plötzlich eine weiße Streichholzschachtel vors weiße, zusammengekniffene Auge.
Wir konnten es ja eigentlich nicht sehen, wegen der Distanz, der Haut der Streichholzschachtel. Aber wir wussten traumlogischerweise trotzdem instinktiv: In der Schachtel lag eine winzig kleine weiße Gipsfigur, fast unsichtbar. Aufgebahrt wie in einem Sarg.
Und dann hatten wir es endlich begriffen:
Die ganze weiße Welt, die wir auf unserer Couch erträumten, diese Welt, durch die der weiße Kopf Giacomettis schwebte, war aus dem Staub jenes riesenhaften Gipsblocks gemacht, von dem Giacometti in seinem verschneiten Hotelzimmer nur noch diese lächerlich kleine Zwergenfigur in ihrem Schachtel-Särglein hatte übriglassen können.
Das Trottoir, der Mantel, die Schachtel, der Kopf, der Körper, der Wald, die Welt – kurzum: der ganze Raum um diese winzig kleine Figur, dieses ganze unendliche Nichts aus geometrischen und baumartigen Formen war gemacht aus dem von Giacometti verworfenen Staub dieses einstmals riesenhaften Blocks aus Gips.
Wie jeder Traum, so hat auch unserer einen wahren Kern. Die riesigen Blöcke und die winzigen Figuren in ihren Streichholzschachteln gab es ja wirklich, während des Zweiten Weltkriegs, genauer: in Genf.
Giacometti hat sie aus seinem tief verschneiten Hotelzimmer durch die Stadt getragen, über dem Mantel selbst weiß von Gipsstaub, die zweite Haut. Und weiße Fußabdrücke hinterlassend auf dem Trottoir.
Zweifel und Verzweiflung
Für Giacometti war diese Zeit offenbar eine Leerstelle: zwischen Erfolg und Erfolg, zwischen Paris und Paris. 1935 hat ihn der Hohepriester der Surrealisten André Breton per “Ausschlussdekret” ganz bürokratisch aus seiner Sekte geworfen: weil Giacometti das Sakrileg begangen hat, sich wieder ganz der Figur zu widmen.
Aber Giacometti ist eben auch noch nicht bei seinem unverwechselbar grazilen Stil des Figurativen angekommen: Noch arbeitet er sich Tag und Nacht unermüdlich ab an der Figur. Dass die Figur dabei fast verschwindet, dass Giacometti den Großteil davon am Ende selbst vernichtet, ist Ausdruck dieses zweifelnden, fast verzweifelten Ringens.
Diese Leerstelle dauert viele Jahre, hält auch nach der Rückkehr nach Paris, ins alte, winzige Atelier am Montparnasse, noch an . “Surrealistische Entdeckungen” zeigt das Davor und das Danach.
In rund 60 Werken setzt die Ausstellung das postkubistische & surrealistische Frühwerk Giacomettis mit den Werken der Nachkriegszeit bis in die Sechzigerjahre in Bezug: vom Weißen des Gipses und des Steins zum Braun & Schwarz des Tons, der Bronze: bildhauerisch betrachtet ein wenig auch vom abnehmenden zum zunehmenden Volumen, also von Stein und Gips zu Ton und Bronze.
In Brühl gibt es also die teils archaisch wirkenden, mit Sexualität und Grausamkeit aufgeladenen Objekte, deren spannungsvolle Rätselhaftigkeit und Mehrdeutigkeit ein mulmiges Gefühl verursacht und den Surrealisten deshalb so gefiel.
Aber es gibt eben auch die späteren Köpfe mit jenen Gesichtern, denen sich Giacometti irgendwann physiognomisch anglich wie der Herr dem Hund.
Die – vom Schmerz, vom Gähnen vom Lachen? – weit aufgerissenen Münder, die degenspitzen Nasen. Die langgestreckten Büsten mit den zusammengekniffenen Augen, in denen das Reale und das Imaginäre verschwimmen wie in unserem Giacometti-Traum.
Und es gibt die einsamen, in unerreichbarer Ferne stehenden, wie vom gleißenden Sonnenlicht zerfurchten Figuren mit ihrem für jeden Schuh zu großen Fuß, die zumindest uns beim Betrachten vermitteln, fast schneeblind zu sein.
Alberto Giacometti, “Buste d’homme” / Büste eines Mannes (1961),
Max Ernst Museum, Brühl 2024)
Es sind Figuren, die, teils immer noch winzig klein & auf voluminösen Sockeln stehend, inzwischen in Käfigen statt in Schachteln stecken. Die den Raum um sich herum unendlich machen. Die für Giacometti wie braune, schwarze Wälder sind.
Es sind Wälder und Skulpturen, die für Giacometti nicht Abbilder von Köpfen und Körpern waren, sondern vor allem konstruierte Objekte. Das ist die Konstante seines Werks: dass, was er Zeit seines Lebens vom Surrealismus über die Genfer Leerstelle von Paris nach Paris hinübergerettet hat.
Von daher hat der erst einmal verwirrende Titel der Ausstellung, – “Surrealistische Entdeckungen”, warum nur surrealistische Entdeckungen? – bei allem Existentialismus und aller Phänomenologie Giacomettis in der Zeit nach 1945 recht.
Es ist schon wahr: Die Leerstelle unseres surrealen Traums auf der Couch der KunstArztPraxis kann “Surrealistische Entdeckungen” nicht füllen, deshalb haben wir ihn hier ja auch erzählt. Aber Giacomettis zähes Ringen ist in diesem scheinbar ungeheuerlichen Bruch, der eben auch eine Brücke hat, als verbindendes Element atmosphärisch spürbar.
Das finden wir kuratonisch ziemlich bewundernswert.
Unfassbar elegant, ein Traum!
Und noch etwas ist in unseren zusammengekniffenen Augen bewundernswert: Diese Ausstellung ist in ihrer Cremigkeit architektonisch unfassbar elegant! So etwas architektonisch Elegantes haben wir schon lange nicht mehr gesehen.
Vermutlich wären auch die beiden Kuratorinnen ob dieser Eleganz per “Ausschlussdekret” achtkantig aus Andrè Bretons Surrealisten-Sekte geflogen wie einst Alberto Giacometti. Ist aber, wie beim Mann aus Gips, egal.
Wir finden: “Alberto Giacometti. Surrealistische Entdeckungen” ist ein echter Traum. (22.09.2024)
“Alberto Giacometti. Surrealistischee Entdeckungen” ist noch bis zum 15. Januar 2015 im Max Ernst Museum in Brühl zu sehen. Ach ja: Die fruchtbare Freundschaft Giacomettis zu Max Ernst, in dessen Atelier er aus Platzmangel einen Teil seiner Skulpturen unterstellte, beleuchtet die Ausstellung am Rande auch.
Anmerkung: Viele Anekdoten unseres surrealen Traums verdanken sich der Giacometti-Biografie von James Lord – auch die mit den akkurat drapierten Schuhen vorm Schlafengehen, den Vergewaltigungsphantasien, den Wutausbrüchen.
Wir mögen das Buch nicht besonders, weil es unserer Meinung nach allzu viel plaudert & heillos psychologisiert. Aber dazu, einige unserer über die Jahrzehnte gewachsenen Giacometti-Klischees vom Sockel zu stoßen, und für die Anekdoten, taugte es schon.
Das Max Ernst Museum in der KunstArztPraxis:
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Ich bin begeistert, mal wieder! Wo nehmt Ihr nur immer eure Ideen her. Das ist eine ganz eigene, ganz frische, ganz tolle, ja: schon fast literarische Kunstkritik. Macht weiter so. Sagt: Enno
Antwort KunstArztPraxis: Hach, Herr Hoepker, wundervoll! Danke danke danke!! Fr Nutzer wie Sie lohnt sich das alles. 🙂 Herzliche Grüße, bleiben Sie uns gewogen, Ihre KunstArztPraxis