Mehr Babel war nie! Jenny Michel in Bergisch Gladbach
Was können wir wissen von der Welt? Inwieweit ist ihre Erklärbarkeit in Abstraktionen Utopie? Und: Was kommt als Erkenntnis danach? Für diese Fragen erfindet Jenny Michel in der Villa Zanders mehrschichtige Collage-Bilder, in denen man, heilsam überfordert, lesen und herumdenken kann.
Zur Jahrtausendwende hatte Einer von uns ziemlich lange ein Zimmer in der Bibliothek von Babel. Als Chefredakteur einer 30-köpfigen Lexikonredaktion versuchte er damals, das Wissen der Welt von A bis Z kategorisierend & hierarchisierend neu zu verorten: ein anderer roter Faden durchs Wissens-Labyrinth. “Verschlagwortung” hieß damals das hippe Zauberwort.
Ein Auftraggeber war die letzte Brockhaus Enzyklopädie: die älteren unter den geneigten Leser*innen werden sich erinnern. Denn dann kam die wild wuchernde Wikipedia, und die über 2.000-jährige Historie des enzyklopädischen Kanons war quasi über Nacht Geschichte.
Die Monster auf der flachen Erde
Inzwischen ist die von Jorge Luis Borges noch auf Papier prosaisch prophezeite Bibliothek von Babel ja virtuell Fleisch geworden: und zwar mit dem postfaktischen Internet. Hier sind nicht nur alle denkbaren Modelle von Welterklärung raum-zeitlos über- und nebeneinander geschichtet, sondern auch das absurdeste Gestammel.
In den Zimmern dieser Bibliothek von Babel wohnen schon lange keine Redakteure mehr, sondern Algorithmen. Der rote Ariadnefaden ist im Malstrom von Big Data heillos zersplissen.
Kein Kanon: nirgends. Und an den Meeresrändern einer flachen Erde lauern wieder die Monster.
An all dies haben wir denken müssen, als wir durch Jenny Michels Ausstellung “Soft Ruins” mit ihren Fragment-Collagen aus Schalt- und Fluchtplänen, Seekarten, wissenschaftlichen oder mythischen Zeichnungen, philosophischen & literarischen Zitaten – sowie eigenen Gedankenfetzen – gegangen sind.
Auf uns wirkte sie in ihrer Gesamtheit wie ein Palimpsest einer immer wieder neu ausgeloteten Utopie der mit den jeweiligen Wissenswertigkeiten des Orts & der Epoche erklärbaren, durch Bild & Sprache in Ordnung zu bringenden Welt.
Die enzyklopädische Geborgenheit
“Wir analog Geborenen konnten uns noch kommod im Vertrauen sonnen, etwas zu wissen, weil es in der Zeitung stand oder im Lexikon”, dachten wir beim Durchgang zum Beispiel. “Aber unser Gefühl enzyklopädischer Geborgenheit, dieses Vertrauen von damals, ist der digitalen Jugend fremd.”
Und dann dachten wir noch: “Mehr Babel als heute war nie. Dabei hat die Epoche der KI noch nicht mal richtig angefangen.”
Aber vielleicht war ja auch unser Gefühl enzyklopädischer Geborgenheit, schon damals, trügerisch? Haben uns all diese Abstraktionen Welt wirklich erklärt? Auch das haben wir beim Durchgang durch “Soft Ruins” mehrfach gedacht.
Und damit hat Jenny Michel etwas geschafft, was eigentlich nur gute Kunst vermag: Sie hat uns zum Grübeln gebracht, im besten Sinn des Worts verunsichert. Und zwar nicht durch die Kraft kluger Argumente – an die Existenz von evidenzbasierten Wahrheit jenseits von Meinungen glauben wir halt immer noch –, sondern allein durch die Kraft wirkmächtiger, teils lesbarer, teils kryptischer Bilder. Auf eine ebenso intellektuelle wie emotionale Art.
Mit Hilfe vieldeutiger, offener, auf eine sehr schön poetisch-überzeitliche Weise antiquiert wirkender, aber doch hoch aktueller Inszenierungen. Und zwar analog. Und, wie es sich für das Kunstmuseum Villa Zanders gehört, neben Holz, vor allem mit bedruckter Pappe & beschriebenem, zerschnittenem Papier.
Wo Utopien stranden
In Bergisch Gladbach kann man dieses Gefühl auch unserer Verunsicherung in einer Ecke förmlich wuchern sehn wie ein undurchschaubares Rhizom: Vermutlich hat sich das Gebilde seit unserem letzten Besuch im ganzen Raum längst ausgedehnt!
Und auf dem Boden der Villa liegen die Skelette der gestrandeten Schiffe unserer – bekanntlich auf kolonialer Ausbeutung basierenden – wissenschaftlichen Expeditionen mit ihrer rissigen Kartenhaut gestrandet & merkwürdig deformiert, also: gescheitert, auf den ausgetrockneten Ozeanen des Parketts.
Jenny Michel, “Paradise Vehicle” (2012/2013), Kunstmuseum Villa Zanders, Bergisch Gladbach 2024
Ach ja: Die Monster von den Rändern unserer Welterkenntnis gibt es bei Jenny Michel auch. Man kann sie in dieser riesigen Ausstellungs-Collage finden, wenn man nur sucht, wenn man bereit ist, zu lesen, zu sehen, selbst zu entdecken: ganz analog, ganz ohne Google.
Ob wir die Wahrheit schreiben? Darüber muss man sich halt vor Ort vergewissern! Man weiß ja heutzutage (?) nie.
Was und besonders gut gefallen hat
Besonders gut hat uns übrigens die Arbeit “Fallen Gardens” gefallen, die im Kunstmuseum Villa Zanders in langen Streifen von der Decke regnet. Aus Gründen, wie man heute sagt.
Hierfür hat Jenny Michel die Oberfläche der Seiten eines Medizin-Lexikons mit Tesafilm-Streifen vom Rest des Papiers abgezogen – und so die Einträge im Original-Buch ausgelöscht.
Das einst selbst in Fachkreisen als gesichert geltende Wissen fällt nun als Rauschen buchstäblich zu Boden. Der rote Ariadnefaden ist nun das Labyrinth.
(Bild: Jenny Michel, “Fallen Gardens”, mehrere Varianten, seit 2013, Kunstmuseum Villa Zanders, Bergisch Gladbach 2024)
Ein wenig fühlten wir uns in “Soft Ruins” so wie der blinde Bibliothekar Jorge von Burgos alias Jorge Luis Borges in Umberto Ecos “Der Name der Rose”, der über das seit der Antike zusammenkopierte Weltwissen in den labyrinthischen Gängen seiner Klosterbibliothek wacht, bevor es auf seinem fragilen Träger in Flammen aufgeht und dadurch erlischt wie bei der Bibliothek von Alexandria.
In unseren Augen hat “Soft Ruins” den Zustand mitten im unkontrollierbaren Brand eingefroren: Zwar ist die Erkenntnis vom Verlust schon gewachsen, alle Notausgänge sind versperrt. Aber die sich überlagernden Bruchstücke einer Ordnung der Welt durch Sprache & Bilder sind eben noch da.
In Ecos “Name der Rose” geht es vor allem um das letzte Exemplar eines Buches des großen Philosophen Aristoteles, der bekanntlich unter anderem versucht hat, Natur und Welt in seinem Verständnis “wissenschaftlich” sinnvoll systematisch zu ordnen.
Jorge Luis Borges schlug mit seiner – angeblich aus einer chinesischen Enzyklopädie entnommenen – absurden Kategorisierung der Tiere eine eher poetische Art der Strukturierung vor – auch, um die Willkür derartiger Systematiken als enzyklopädischen Zeitgeist zu entlarven.
Landkarten-Bilder einer terra incognita
Jetzt sind wir also bei Jenny Michel angekommen. Und finden uns in “Soft Ruins”, diesen nicht mehr linearen Informationsschichten, diesen Überschreibungen und Neuzuschreibungen plötzlich in einer künstlerischen Realität, die in heilsamer Überforderung infrage stellt, dass mit diesen ganzen Abstraktionen überhaupt irgendetwas darüber ausgesagt werden könnte, was “Natur”, “Welt” oder “Wirklichkeit” eigentlich ist.
All den Erklärungs-Utopien mit ihren Absolutheits-Ansprüchen stellt Jenny Michel ihre dystopischen, hoch ästhetischen Bilder entgegen: Landkarten von etwas, das sich als terra incognita erweist.. Und das finden wir ziemlich fulminant.
In der Bibliothek von Babel jedenfalls hätte “Soft Ruins” unserer Meinung nach eine eigene Etage verdient. (15.09.2024)
“Jenny Michel. Soft Ruins” ist noch bis zum 10. November 2024 im Kunstmuseum Villa Zanders in Bergisch Gladbach zu sehen.
Anmerkung: Wir haben oben von den Monstern am Rande der Meere berichtet, die es bei Jenny Michel zu entdecken gibt. Aber im Grunde sollte man sich in der gesamten Villa Zanders auf eine Expedition begeben. Denn die wuchernden Module der Künstlerin finden sich an den überraschendsten Orten – und schaffen teils sehr witzige Bezüge. Wir sagen nur: Feuerlöscher. Notausgang! Und Kamin.
Die Villa Zanders in der KunstArztPraxis:
Wie sagen wir’s den Bienen? “HONIG” in der Villa Zanders
In Brüchen denken: “Martin Noël – Otto Freundlich”
33 Malantworten: Rolf Rose in der Villa Zanders
Mechtild Frisch: Aufschein im Verschwinden (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Katharina Hinsberg: Making-of “Linie im Raum” (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Reine Bildgebung (8): “Still Lines” in der Villa Zanders (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Schönheits-OPs (3): Kunstmuseum Villa Zanders
Intuition statt Kochbuch. Ein Editionsgedicht
“Bibliomania” in Bergisch Gladbach: Buch als Körper (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Hede Bühl: Mit Strichen modellieren (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Für enzyklopädische Analogist*innen: Mariana Castillo Deball: Im Museum der Zukunft
Wieder ganz toller Beitrag! Weiter so