Die Villa Zanders hat uns eingeladen, Katharina Hinsberg beim Kunstmachen für ihre aktuelle Ausstellung “Still Lines” zuzusehen. Seitdem wissen wir, dass man nicht nur in der Fläche zeichnen kann, sondern genauso gut im Raum. Und dass Kunst eine bewegende Erfahrung ist.
Mit einem Bleistift in der Hand steht Katharina Hinsberg im Kunstmuseum Villa Zanders in Bergisch Gladbach vor einer weißen Wand. Das ist jetzt ihr Papier.
Sie sammelt sich, als wolle sie das Kunstwerk, das entstehen soll, im Kopf Revue passieren lassen. Irgendwann legt sie den Stift in einer Ecke an, dann geht sie los. Den Strich setzt sie kontinuierlich, ausufernd, ohne anzuhalten.Die Bewegung der Hand ist ein Maßstab für dieses Auf und Ab, aber auch der Schritt. Wo die Hand nicht hinreicht, ist Ende.
Wenden wie ein Schwimmer
Am Türsturz dreht Hinsberg um, wie ein Schwimmer bei der Wende. Zurück zur ersten Ecke: Wand abgehen, Wellen machen, Berge, Täler. Ohne abzusetzen. Konzentriert im Auf und Ab des Stifts. Und in der Ecke wieder zurück.
Dieses Hin und Her wiederholt Hinsberg insgesamt 18 Mal. Und wir haben zunächst keine Ahnung warum.

Zuvor hat Hinsberg eine Linie am Boden gezogen, hier beinahe tänzelnd, auf Socken, den Stift zu ihren Füßen an einer Holzstange führend, im Fluss, auch hier, mäandernd, irgendwie scheint der Weg bekannt: Am Ende wird die Linie durch fünf Räume gehen. Alle zehn Zentimeter bekommt sie zudem eine Markierung: Auf dem Boden kniend setzt Hinsberg sie aus Klebestreifen.
Das alles ist faszinierend anzusehen, ergibt für uns aber zunächst keinen Sinn. Und es dauert eine Weile, bis wir begreifen, dass es im Grunde um diese beiden Linien gar nicht geht. Klar gehören sie zum Kunstwerk. Aber sie sind eigentlich eher eine Vorarbeit, eine Art Vorzeichnung, die die Tiefe auslotet für das, was kommen soll.
Zeichnen ohne Grund
Was kommen soll, hat Hinsberg “Linie im Raum” genannt. Es ist eine Linie. Das klingt prosaisch, ist aber sowohl aus ästhetischer als auch aus kunsttheoretischer Perspektive nichts weniger als spektakulär.
Denn die “Linie im Raum” ist eine Art frei schwebender, plastischer Strich ohne Untergrund, etwa von Papier. Eigentlich ist er sogar selbst immateriell: Denn seine imaginäre Existenz wird stellvertretend verkörpert von einer Spur aus 830 schwarz-weiß melierten Knete-Kugeln, die sich am Ende durch die fünf Räume schlängeln wird.
Die Kugeln sind Wahrnehmungspunkte für uns Betrachter*innen. Die verbindende Linie müssen wir in der Bewegung unserer Augen und unserer Beine – also mit dem, was wir haben, um Raum zu erleben – schon selber schaffen.

Wenn man es mathematisch sagen will, dann sind die Linien auf Wand und Boden die beiden X- und Y-Achsen, über deren Koordinatengitter sich die Kugelspur des Kunstwerks exakt positionieren lässt. Die gedachte Verbindung aller Kugeln ist der Graph, die mitgedachte Linie. Nur eben in 3D.
Die“Linie im Raum” ist eine neue Art der Zeichnung, plastisch und schwebend. Schön und tiefsinnig zugleich. Nach einer Weile haben auch wir das begriffen.
90 Schritte Hinsbergs lang
Aber so weit ist es noch lange nicht. Erstmal muss Hinsberg mit dem Laserstrahl über die Markierungen am Boden an der Decke ein Linien-Pendant aus Klebestreifen schaffen, von dem aus sie per Hebebühne Nylonfäden herunterbaumeln lässt: die fast unsichtbaren Halterungen für die Kugeln, die jetzt mit dem Messer eingeritzt, um einen zuvor mit einer Zange am Faden angequetschten Metallkern gelegt und wieder zusammengeknetet werden.
Die jeweilige Höhe der Kerne – und damit auch der Kugeln – bestimmt Hinsberg mit einer eigens hierfür konstruierten Messapparatur anhand der Zeichnung an der Wand. Alle zehn Zentimeter nimmt sie hierfür Maß, parallel zu den Markierungen am Boden.
Wir haben später dann doch noch nachgefragt: Die Höhenlinie an der Wand und die Grundlinie am Boden sind jeweils 90 Schritte Hinsbergs lang. Und es hat eine ganze Arbeitswoche gedauert, bis die “Linie im Raum” fertig war. Nicht für die Künstlerin allein, sondern für ihr Team. Als wir zugeschaut haben, waren zeitweise drei Menschen mit Kunstmachen beschäftigt.
Bewegung – Vermessung – Zeichnung: Das ist, wenn wir das beim Zusehen in der Villa Zanders richtig verstanden haben, in vielfacher Hinsicht der Dreiklang für Hinsbergs “Linie im Raum”: für die Künstlerin, aber auch für die Betrachter*innen. Als Richtschnur des Sehens und Gehens steht sie inzwischen wie festgefroren im Nichts der von Boden, Decke und Wänden umrahmten Leere.
Es ist eine gedachte Welle aus Teilchen, die den sie umgebenen Raum gleichzeitig durchstreicht und zerschneidet. Und die die Luft als ihr vermeintlicher Träger zu verdichten scheint. Auch wenn wir jetzt natürlich wissen, dass die Nylonfäden sie halten.
Aber der kleinste Windhauch, die kleinste Unachtsamkeit kann das Gefüge verändern. Dann entsteht eine neue Dynamik, die den Raum anders vermisst, eine temporäre Spur. Ein neuer Fluss, ein neuer Ton, bis sich alles wieder eingependelt hat. Oder sich fast unentwirrbar verheddert. Auch das haben wir beim Aufbau gesehen.
Zeichnen mit Impulsen
“Zeichnen ist immer eine Aktivität des ganzen Körpers, durch dessen physische Impulse eine Linie auf dem Papier entsteht”, sagt Hinsberg. “Ich möchte diese räumlichen Bewegungen als wesentlichen Teil der Zeichnung sichtbar machen, ohne dass sie sich auf einer Fläche abzeichnen.” Haben wir also offenbar ganz richtig hingeschaut.
Das mit den physischen Impulsen gilt auch für “Scala”, die zweite raumgreifende Installation der Schau in Bergisch Gladbach. Hier hat Hinsberg mit der Schere aus der Fläche roter DIN-A4-Blätter dreidimensionale Linien zurechtgeschnitten und in den eigentlich schlecht nutzbaren Raum unter der Museumstreppe in den zweiten Stock geklebt.
Auch dabei durften wir zuschauen.
Nun hängt der Papiervorhang wie eine Wand herunter und teilt den Raum – zumindest ein bisschen. Was die Besucher zwingt, einen bestimmten Weg zu jenem Teil der Ausstellung zu suchen, den er durch den Vorhang schon sehen kann. Die bewegte und bewegende Einheit von Sehen und Gehen wird teils zerschnitten wie das Papier.
Die Linien auf Hinsbergs begehbaren Zeichnungen sind also Grenzen, die uns . auch im Hinblick auf unser Verständnis von Zeichnung – in neue Richtungen lenken. Aber sie schaffen auch neue Verbindungen, durchbrechen in gewisser Weise Schranken. Durch die “Linie im Raum” etwa werden fünf Räume eins. Und dieser Verlauf ist ganz wunderbar.
Magie aus dem Anglerfachgeschäft
Ist Kunst weniger wunderbar, wenn man weiß, wie sie entstanden ist? Verliert sie ihren Zauber im Bewusstsein, dass die Magie oft auf Alltäglichem, vielleicht sogar Gewöhnlichem basiert? Dass ihre Zutaten dem Bastelladen, dem Baumarkt oder – wie die Metallkerne im Innern von Hinsbergs Knetkugeln – einem Geschäft für Angelbedarf entnommen sind?
Wir finden nicht. Im Gegenteil: Es ist ja gerade immer wieder magisch mitzuerleben, wie sich vermeintlich Banales im Schaffensprozess in etwas Phantastisches verwandelt. Wie bei Katharina Hinsberg eben. Dass wir dabei sein durften, war uns eine große Freude. (21.02.2022)

“Katharina Hinsberg. Still Lines” läuft noch bis zum 7. August 2022 im Kunstmuseum Villa Zanders in Bergisch Gladbach. Da gibt es natürlich weit mehr zu sehen als “Linie im Raum” und “Scala”. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
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Homepage des Kunstmuseums Villa Zanders