Mechtild Frisch: Aufschein im Verschwinden
Postkarten und Pappverpackungen perforieren und verfärben: Mechtild Frisch bildhauert mit Banalem aus Supermärkten und Museums-Shops. Vor Kurzem haben wir ein Buch mit ihr gemacht. Jetzt freuen wir uns über die Schau ihrer “Sehstücke”, deren Löcher für wahrnehmungserweiternden Durchblick sorgen.
2021 ereilte uns ein Anruf der Direktorin des Kunstmuseums Villa Zanders aus Bergisch Gladbach. Wir hätten vor einiger Zeit in einer Ausstellung ein Foto von einer durchlöcherten Van-Gogh-Postkarte Mechtild Frischs gemacht, ob wir uns erinnern könnten? Die Künstlerin würde gern ein Buch mit uns machen, so sehr habe ihr das Foto gefallen.
Wir wussten damals wirklich nicht, was Mechtild Frisch so sehr gefallen hatte. Wir wissen bis heute nicht einmal, welches unserer Fotos sie genau gemeint haben könnte, es gibt nämlich zwei. Inzwischen kennen wir zumindest die Gründe der Begeisterung. Aber, Ende des Cliffhangers: von Anfang an.

Wir fuhren zu Mechtild Frisch in ihr Kölner Atelier, wir dachten, zu einem Vorgespräch: Man braucht ja ein Konzept. Wir plauderten, wir fanden uns sympathisch. Es lief ganz lässig an.
Plötzlich begann Mechtild Frisch, eine Auswahl ihrer mit der Lochzange perforierten Postkarten zur Erläuterung an die für solche Zwecke immer vorhandenen Nägel an der Wand zu hängen, auf den Boden zu legen, auf dem Ateliertisch auszubreiten: Sofort war uns klar, dass es das Beste wäre, sie einfach dabei zu fotografieren. Jetzt war der rechte Augenblick.
So sind die Fotos zu Mechtild Frischs Buch “Nothings” entstanden.
Das Gegenteil von Bilder-Machen
Erst beim Blättern durchs fertige Buch begriffen wir so richtig, dass wir mit unseren Atelier-Stillleben das Gegenteil von dem gemacht hatten, was Mechtild Frisch macht: Wir hatten Bilder gemacht. Mechtild Frisch aber sucht seit 40 Jahren nach dem Kipppunkt, an dem ein Bild aufhört, ein Bild zu sein. Sich Bekanntes in Wohlgefallen auflöst.
Oder das Abbild eines Gemäldes zu etwas gänzlich Neues wird: Im Idealfall zu einem skulpturalen Objekt aus Löcherlicht und Löcherschatten.
“Das ist ja das Dilemma:
Mechtild Frisch
Dass wir das Bild fast nie wegkriegen.”

Wie viel muss (oder darf) ich von einem Botticelli wegnehmen, bevor er in Unkenntlichkeit verpufft? Wie viele Hunderte Löcher brauche ich, um aus einem gegenständlichen Gerhard Richter einen abstrakten zu machen, aus einem Porträt van Goghs eine Serie aus Unikaten, die der berühmten Reproduktion des Selbstbildnisses immer wieder neue Facetten abgewinnt – und zwar auch abhängig vom Licht, das darauf fällt?
Und: Wann wandeln sich die Schlitze eines Fontana in einen Strudel aus Nichts, der die Abbildung aus Papier zum “Dahinter” ebenso zerreißt wie das Original des Italieners die Leinwand – nur anders, neu?
Beim Blättern durchs Buch, über die von Mechtild Frisch ausgewählten Fotos erkannten wir die Arbeit der Künstlerin als obsessives Löchern an der Schnittstelle zur Transparenz. Diesen letzten Aufschein im Verschwinden, diesen Übergang in eine dritte Dimension fotografisch festzuhalten war tatsächlich nicht ganz einfach.
Es ist auch nicht auf allen Fotos geglückt.

2023 waren wir wieder im Atelier – und ein paar Wochen später beim Ausstellungsaufbau von Frischs “Sehstücken” im Kunstmuseum Villa Zanders in Bergisch Gladbach. Diesmal ging es um ein paar Bilder für den Katalog, vor allem um Frischs Skulpturen. Und um ein großes Banner über der Museumstür.
Wieder die helle Freude
Wir sahen Mechtild Frisch beim Ringen zu: um den richtigen Abstand, das richtige Licht, die richtigen Kombinationen ihrer Werke, den optimalen Schattenwurf. Und machten dabei quasi en passant unsere Fotos. Wir hatten ja gelernt, dass diese Methode bei Mechtild Frisch die Beste ist.
Auch das war wieder die helle Freude.
„Ich lache.
Joachim Ringelnatz
Die Löcher sind die Hauptsache
An einem Sieb.
…“

Angesichts der Schau von Barbara Hepworth im Duisburger Lehmbruck Museum haben wir schon einmal vom Loch als Öffnung der Skulptur zum Unendlichen gesprochen. Bei Frisch hingegen weisen die Löcher nach innen: Die Oberfläche wird durchlässig, die Trennung von “Form” und “Inhalt” wird als jene Schimäre entlarvt, die sie ist.
Frischs Löcher machen das Leichte schwer und das Schwere leicht. Aus Wegwerfmaterial wird kostbar flirrende Struktur.
Implosion statt Explosion
Irgendwo haben wir gelesen, dass Frischs Skulpturen sich zum Raum hin weiten. Das ist so ein Reflex der Kunstkritik bei Skulpturen, dieser Satz vom Zum-Raum-hin-Weiten. Wir finden aber, dass sich Frischs Skulpturen vor allem nach innen weiten. In unseren Augen ist es eben nicht so, dass die Skulptur den Raum neu interpretiert. Sondern der Raum spendet seinen Schatten der Skulptur, die ihn zum Dank einfärbt, und deutet so das Skulpturale mit.
Implosion statt Explosion. Nicht Urknall, sondern Schwarzes Loch. So irgendwie ein bisschen. Das ist, auch im Vergleich zu Barbara Hepworth, eine völlig andere Sache.
Was schläft im Sarg?
So kommt es, dass uns in der Villa Zanders jetzt ein Papierhai mit seinen zahllosen Zahnreihen zu verschlingen sucht. Und das Gläserne, Lichte eines schwarzen – wirklich schwarzen? – Schneewittchen-Sarges besteht aus farbig umrundeten Nichtsigkeiten, die uns auf märchenhafte Weise weismachen wollen, wir könnten im Objekt etwas retten wie die sieben Zwerge.
Und WEIL wir hineinschauen, scheint darin wirklich etwas zu schlummern, was durch die wirbelnden Luftlöcher atmet.

“Man sieht nur dank der Löcher gut.
Ricardo Reuss
Sonst wäre das Wesentliche für das Auge unsichtbar.”
Wenn man wie wir lange genug im Museum bleibt und sich auf einen der villeneigenen Sitzkuben hockt, kann man den Skulpturen und Gemälden Frischs sogar beim Verwandeln zuschauen: weil die Sonne vor den Fenstern ihre Bahnen zieht und den Objekten drinnen zu Diensten ist. Ansonsten reicht aber auch die eigene Bewegung aus.
Ein ganzes Werk dank Chappi
Und wer hätte gedacht, dass die Pfotenspuren von Konservendosen für Hundefutter auf ihren Stapel-Kartonagen eigentlich Kosmen aus Mondmuster-Phasen, tanzenden Robben und Vogelwesen sind, wenn man sie nur umdreht, also von ihrer dunklen Unterseite betrachtet, wo besagte Sonne eigentlich niemals scheint? Mechtild Frisch hat das gesehen und für uns aufgemalt. Jetzt sehen wir es auch.
Und müssen uns fragen lassen, warum wir das im Supermarkt bisher nicht mal ansatzweise bemerkten.

Deshalb sind die gebohrten, gestochenen, gerissenen oder gestanzten “Sehstücke” aus der Villa Zanders eigentlich auch Sehhilfen, Wahrnehmungs-Wünschelruten, die uns von Blindheit Geschlagenen zauberhaft aufzeigen, was an Liedern eigentlich in allen Dingen des Alltags in der Regel schläft.
Man muss den Aufschein im Verschwinden eben nur bemerken. Hellsichtigkeit ist da gefragt. Substanzvolles Schauen gegen die Perspektive. Phantasie. Und Humor.
Federleichtes Fotografieren allein jedenfalls ist nicht genug. (28.08.2023)

Und das besagte Buch – ebenfalls in Mechtild Frischs Atelier:

Mechtild Frisch: Nothings. Mit Fotografien von Thomas Köster und einem Text von Petra Oelschlägel. Verlag Kettler 2022, 64 Seiten, ISBN 3862069621.
Kostenpunkt: 24,00 Euro.
Anmerkung 1: Wir hätten natürlich noch viel mehr Fotos zeigen können von Mechtild Frischs Kunst. SEHR viel mehr Fotos. Aber die Unsichtbarkeits-Maschine bringt mit drohenden Finanzierungs-Löchern den Großteil unserer Bilder leider komplett zum Verschwinden. Tut uns leid (auch für uns).
Anmerkung 2: Unser Rezept gegen Anmerkung 1: Einfach “Nothings” kaufen. 😊 Oder den Katalog zu “Sehstücke”, der bald erscheint. Künstlerinnengespräch und Katalogpräsentation jedenfalls sind am 14.September 2023 um 19:00 Uhr im Kunstmuseum. Safe the Date.
“Mechtild Frisch. Sehstücke” ist noch bis zum 8. Oktober 2023 im Kunstmuseum Villa Zanders in Bergisch Gladbach zu sehen.
Das Kunstmuseum Villa Zanders in der KunstArztPraxis:
Katharina Hinsberg: Making-of “Linie im Raum” (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Reine Bildgebung (8): “Still Lines” in der Villa Zanders (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Schönheits-OPs (3): Kunstmuseum Villa Zanders
Intuition statt Kochbuch. Ein Editionsgedicht
“Bibliomania” in Bergisch Gladbach: Buch als Körper (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Hede Bühl: Mit Strichen modellieren (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Homepage des Kunstmuseums Villa Zanders

Vielen Dank für die stimmungsvollen und unglaublich guten Fotos!
Antwort KunstArztPraxis: Und wir bedanken uns für das schöne Kompliment. Wie oben schon gesagt: Wir haben sehr viel mehr und hätten sie sehr, sehr gerne auch gezeigt.
Herzlichen Glückwunsch zum Buch!
Antwort KunstArztPraxis: Danke vielmals!