Joseph Beuys: Krise & Heilung
Im Mai 2021 wäre Joseph Beuys 100 Jahre alt geworden. Zeit, um zu fragen: Was hat uns Beuys heute noch zu sagen? Und: Was hat das mit Corona zu tun? Ein paar programmatische Äußerungen zu Kunst und Gesellschaft – anlässlich unserer Eröffnung.
Joseph Beuys war nie in der KunstArztPraxis. Dabei hätten wir ihm zu seinem 100. Geburtstag so gerne unsere Wunde gezeigt. Und ihm auf unserer Couch ein paar Fragen zum Zeitgeist gestellt.
Ob Fettecken und Filzanzüge Wirkstoff gegen Pandemien sein könnten zum Beispiel. Oder ob er lieber beim Parteitag seiner gerade ziemlich machtverliebten Grünen auf der virtuellen Bühne stünde – oder doch eher ganz real bei den schamanistischen Querdenkern von der AfD.
Kunst kommt von Krise
„Die Kunst ist in einer Krise“, hat Joseph Beuys im Büro seiner „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ 1972 auf der documenta 5 in Kassel zu einer Besucherin gesagt. „Alle Gebiete sind in einer Krise.“ Ersteres interessiert, wie wir befürchten, heutzutage eher Wenige. Letzteres hingegen würden vermutlich selbst viele Bürger aus der sogenannten Mitte kontextlos per Online-Petition basisdemokratisch unterschreiben.
Die vom Internet geformte soziale Skulptur der Community scheint sich nämlich gerade relativ einig, dass je nach Perspektive Kultur oder Presse, Demokratie oder Gesellschaft, Kirche oder Umwelt, Wahrheit, Wissenschaft oder Wirtschaft in einer solchen „Krise“ sind.
Von den Ärzten aufgegeben
Eine Krise im Sozialen hat Joseph Beuys schon vor 50 Jahren gesehen. Persönliche Krisen hat er ohnehin von Kindesbeinen an am eigenen Leib erfahren. Schon als Fünfjähriger habe er das Gefühl gehabt, dass er „jetzt abtreten müsste“, erinnerte sich der Künstler in einem Interview. Mitte der 1950er Jahre sei der „Wille, von der Erde zu verschwinden“, noch viel größer gewesen.
Für Beuys war das ein „wirkliches Sterben“ in einem durch Liebeskummer verstärkten Zustand kompletter Erfolglosigkeit. Laut seinem ersten Sammler Franz Joseph van der Grinten hatten die Ärzte Beuys damals auch schon aufgegeben. Aus dieser Krise musste sich der Künstler durch harte Feldarbeit und zaghaftes Zeichnen auf dem Bauernhof der befreundeten van der Grintens am Niederrhein über Jahre bis zur Auferstehung buchstäblich freiackern.
Tatarenfilz oder Fettfabrik?
Einer bekannten Legende zufolge wäre Beuys da fast schon wirklich gestorben gewesen. 1944 war das, als die Rote Armee den Wehrmachtsfunker mit seiner Stuka über der Krim abschoss. Schwer verwundet überlebte Beuys angeblich nur, weil Tataren ihn mit Tierfett im Filz-Zelt acht Tage lang aufopfernd salbten.
Das kathartische Ereignis gilt heute gemeinhin als biografisch widerlegt. Demnach wäre Beuys ins Lazarett und mit einer Gehirnerschütterung davon gekommen. Aber: Ob Fett und Filz ein Geschenk der Krimtataren an die Kunstwelt waren, oder ob die künstlerisch wertvollen Materialien einer Stiefelmanufaktur und einer (rein pflanzlichen) Margarinefabrik in der Nähe der elterlichen Wohnung in Beuys‘ Wunsch-Geburtsort Kleve zu verdanken sind, ist im Grunde herzlich egal.
Denn: Warum sollte ein Künstler, der Werk- und Lebenslauf derart in eins dachte, Biografie nicht von der Kunst her denken dürfen?
Reden mit Underdogs
Wichtig ist doch vielmehr, dass Joseph Beuys mit Filz und Fett, Honig, Gold oder Blut symbolisch aufladbare Kraftspeicher für seine von der Krise genährte Kunst gefunden hat. Und diese derart einleuchtend einzusetzen wusste, dass sie selbst einem toten Hasen erklärbar war.
Wie bei unserer poetisch-politischen Lieblingsaktion „I like Amerika and Amerika likes Me“, für die sich Beuys 1974 in Filz verborgen im Krankenwagen durch New York fahren ließ, um mehrere Tage allein mit einem Kojoten im Zimmer zu verbringen – und dann in seiner gefilzten Isolierung wieder im Krankenwagen zu verschwinden.
Ohne viel mehr vom Land gesehen zu haben als das Wall Street Journal und dieses von Indianern verehrte und von Siedlern gehasste Tier.
Wofür wir Beuys leider ewig etwas böse sind
In diesem Rahmen hat Joseph Beuys mit „Heilung“ ein Wort ins Spiel gebracht, das weitaus weniger mehrheitsfähig ist als „Krise“: Weil man den Begriff von ideologischem Makel nie ganz reinwaschen kann. Zumindest dann nicht, wenn man ihn wie Beuys von der eigenen Verletzung und Auferstehung loslöst und auf eine „Krankheit der Gesellschaft“ und deren „Totenstarre“ projiziert.
Gerade durch unsere Lieblingsaktion mit dem Kojoten hat sich Beuys zu jenem Schamanen und „Schmerzensmann der Kunst“ stilisiert, der nicht nur die Wunde zwischen Natur und Geist ganzheitlich schließen, sondern mit seiner Lehre und Passion auch die „gesellschaftliche Krankheit“ heilen will.
Dafür, dass Beuys die Welt dabei auch noch am deutschen Wesen genesen lassen wollte, muss man ihm zudem leider ewig etwas böse sein.
Obacht bei medizinischen Metaphern!
Um es deshalb klar zu sagen: Wir glauben nicht, dass die Welt ernsthaft durch Kunst von irgendeiner Krankheit „geheilt“ werden könnte – auch nicht im erweiterten Sinn irgendeines Kunstbegriffs. Im Gegenteil muss man unserer Meinung nach mit medizinischen Metaphern auf diesem Feld arg vorsichtig sein. Ohnehin ist unbedingt auch Ironie geboten.
Aber wir glauben wie Beuys, dass interessante Kunst die Welt verbessern und verschönern kann. Dass sie bewusstseinserweiternd wirkt. Und dass sie Rezepte für ein besseres Leben liefert – Rezepte , die man dann allerdings schon beim Betrachten persönlich einlösen muss.
So gesehen hat Joseph Beuys in seiner blitzgescheiten Geistesgegenwart auf ebenso provokante wie poetische, teils auch humorvolle Art und Weise schon damals jene Fragen gestellt, auf die wir in unseren krisenbewussten – und ja auch demokratiegefährdeten – Zeiten möglichst schnell Antworten finden sollten. Politisch, aber auch ganz individuell. Und: Warum nicht auch mit den Mitteln der Kunst?
Vernunft und Mag(g)i(e)
Wo gerade viele Menschen wieder in ihre selbst verschuldete Unmündigkeit einzugehen drohen, tut der Beuyssche Aufklärungswille dringend Not. Gegen den Turbokapitalismus hilft eben nur das schonungslose Kapital der Kunst, gegen Verschwörungstheorien und „alternative Fakten“ nur der Geist realer Legenden und wahrer Fiktionen. Und gegen die isolierende Globalisierung vielleicht sogar die Ordnung einer „sozialen Plastik“.
In diesem übertragenen Sinn könnten Filz und Fett tatsächlich Wirkstoff gegen Pandemien sein.
So gesehen ist Prof. Beuys mit seinen Gehirnerschütterungen zu Krise, Demokratie und Umwelt – und zur Rolle von künstlerischer Energie in der Gesellschaft – für uns einmal mehr der Mann der Stunde. Und könnte vermutlich sogar den Querdenkern erklären, wie querdenken richtig geht.
Dem entsprechend gehört für uns an jeden Homeoffice-Schreibtisch ab sofort eine intakte Honigpumpe. Und wenn wir wüssten, dass morgen die Welt – oder in 2.274 Tagen doch zumindest der Kapitalismus – unterginge, dann wäre es nicht falsch, heute noch gemeinsam 7.000 Eichen zu pflanzen.
Auf jeden Fall sollten wir Joseph Beuys in den kommenden Monaten unbedingt unsere Wunde zeigen.
In diesem Sinn freuen wir uns sehr auf das Beuys-Jahr 2021.
Die KunstArztPraxis (11.01.2021)
Anmerkung: Da interessierte Kreise die Abbildung von Beuys-Werken gern gerichtlich zu verhindern suchen, sind hier nur Fotos zu sehen, die den Typ von Beuys-Werken wiedergeben („Serviervorschläge“).
Beuys2021: Informationen zum NRW-Jubiläumsjahr
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