Wir heben einen Schatz oder: Münster, kauf Tilo Keil!
Neulich haben wir von Tilo Keil aus Münster berichtet, dessen sensationelle Negativ-Collagen komplett in Vergessenheit geraten sind. Jetzt sind wir nach München gefahren, wo sein Nachlass liegt. Wir zeigen die Fotos hier exklusiv. Und fragen uns: Warum kauft Münster dieses große Werk nicht einfach an?
Momentan wird in Münster viel nackte Haut gezeigt. Frauen räkeln sich auf allen nur erdenklichen Sitz- und Schlafgelegenheiten, im Bade präsentieren sich Pos und Brüste. Hin und wieder rutscht neben einer Vulva sogar ein schlaffes Glied ins Bild. Ein Penis stammt von einer Frau.
Wir sind in der Ausstellung „Nudes“ im LWL-Museum für Kunst und Kultur, und das hat momentan Entblößungen sehr, sehr berühmter Künstler*innen aufgefahren. Dabei fiel uns auf, dass der Variantenreichtum in der malerischen Darstellung von Haut in der Kunstgeschichte zwar bewundernswert war, das Arsenal gewählter Posituren für Nackte aber eher überschaubar blieb.
Und dass die größten Aufreger von damals heute eher zum Dekor mutiert sind. Selbst die in „Nudes“ gezeigten Schlachthaus-Leiber eines Francis Bacon haben ja inzwischen Kunstdruck-Reife. Hardcore ist nicht mehr Courbets grandioser „Ursprung der Welt“ (der in „Nudes“ leider fehlt), sondern auf diverse Weise das World Wide Web.
Dabei gab es mit Tilo Keil einen Münsteraner Künstler, der sich in dem von ihm erfundenen Verfahren der Negativ-Collage zwischen 1965 und 1969 ganz anders der Nacktheit verschrieben hatte.
An anderer Stelle haben wir bereits versucht, den komplett Vergessenen in der KunstArztPraxis zu reanimieren.
Der positive Schock der Negativ-Collage
Arbeiten von Tilo Keil hätten auch „Nudes“ ganz neue, nicht nur provokante, sondern in der Darstellung des menschlichen Körpers formal innovative Impulse verliehen. Denn die Foto-Haut seiner einzigartigen Negativ-Collagen ist auch über fünf Jahrzehnte nach ihrer Entstehung, wie wir finden, noch unglaublich frisch.
Auch hier geht es um Geschlechteridentitäten, das heute so aktuelle fluide Dazwischen. Und dies auf eine im positiven Sinne ziemlich schockierende Art.
Das LWL-Museum für Kunst und Kultur besitzt keine einzige Arbeit von Tilo Keil, kein einziges Museum in Münster tut das, vielleicht sogar kein einziges Museum auf der ganzen Welt. Vieles ist ja auch vernichtet und verschollen, ein Gutteil davon, wie bei Kafka, in Amerika.
Aber ein Konvolut gibt es in Deutschland noch. Es lagert in sechs unscheinbaren Foto-Kartons in München, verborgen im Lager eines Galeristen. Die Geschichte seiner Entdeckung haben wir im Appendix „Der knallorange Reisekoffer“ unter unserer Fotostrecke niedergeschrieben:
Sie ist ein Kunstkrimi für sich.
Um diese Werke zu betrachten, sind wir nach München gefahren. Wir haben dem Galeristen dabei zugesehen, wie er ein Foto nach dem anderen aus seiner Cellophanhülle zog. Wir haben vieles davon in die Hand genommen. Es waren wahre Wunder darunter.
Jedes dieser Fotos ist ein Original
Jedes dieser Fotos ist ein Original, mit starken Varianten: weil Keil die Collage-Teile des Negativs nach der Belichtung offenbar noch in der Dunkelkammer im Rotlicht sofort neu arrangierte.
Wegen seiner Krebserkrankung blieben ihm ja nur rund drei Jahre für dieses umwerfende Werk. Er muss wie ein Besessener gearbeitet haben. Und er muss stark überzeugt davon gewesen sein, dass es sich lohnt, sein restliches Leben ganz und gar dem zu widmen, was er der Nachwelt hinterlassen hat.
Aus Sicht der Nachwelt finden wir: Er hatte vollkommen recht.
Von Keils künstlerischer Besessenheit haben uns ja auch die Frau und die Geliebte erzählt, seine Freunde haben das bestätigt. Aber auch die Fotos erzählen davon.
Was die Fotos erzählen
So sind auf einigen Bildern die Schlieren Newtonscher Ringe zu sehen: weil Keil beim allzu hastigen Arbeiten in der Dunkelkammer die Einzelteile seiner Collagen nicht immer ganz plan zwischen die Glasplatten der Negativbühne seines Vergrößerungs-Apparats gespannt hat und kleine Luftbläschen das Licht falsch brachen.
Und es gibt braune Oxidationen auf manchen Abzügen: weil Keil zu ungeduldig war, die nicht fixierten Silbersalze beim Wässern am Ende des Entwicklungs-Prozesses hinlänglich aus dem Fotopapier herauszuwaschen. In einem Fall hat Keil die braune Stelle einfach vom Blatt abgeschnitten. Das wirkt sehr elegant.
Und hier nun exklusiv die Bilder jenes Augenblicks, in dem vor unseren Augen ein echter Kunst-Schatz gehoben wurde:
Wir können in der KunstArztPraxis leider nur Fotos der Fotos zeigen. Den Zauber der Originale, ihre Aura, ist hier nicht fixierbar.
Dafür muss man diese Vintages schon selbst betrachten. Und dafür braucht es ein Museum. Man kann ja nicht immer nach München in die Galerie.
Deshalb appellieren wir an Münster
Deshalb appellieren wir hiermit einfach einmal an das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster: Das Konvolut ist da. Jetzt braucht es nur noch etwas kuratorische Weitsicht & Gespür für einen Ankauf.
Aus Sicht aller KunstArztPraxis-Ärzte haben es Tilo Keils Negativ-Collagen nämlich unbedingt verdient, posthum genauso berühmt zu werden wie die in „Nudes“ versammelten Nacktheiten von Pablo Picasso, Lucian Freud oder Marlene Dumas. (21.01.2024)
„Nudes“ ist noch bis zum 14. April 2024 im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster zu sehen. Die Ausstellung lohnt sich natürlich, allein der gezeigte Akt von Pablo Picasso ist einer der zauberhaftesten, den wir von Picasso bisher sahen. Und Fans von Lucian Freud und Marlene Dumas sind wir natürlich auch! Aber trotzdem, ja, noch einmal wollen wir es sagen: Es fehlt, neben Courbet, ein Tilo Keil.
Appendix: Der knallorange Reisekoffer oder: Wie ein Galerist Tilo Keil entdeckte
Vor kurzem haben wir versucht, die Persönlichkeit Tilo Keils und zentrale Aspekte seines Werks collageartig aus Gesprächen mit seiner Frau und seiner Geliebten sowie aus Aussagen von Freunden zusammenzusetzen. Hiermit fügen wir noch die Geschichte seines posthumen Galeristen bei, um die Sache rund zu machen.
Nur soviel vorweg: Kunst kann manchmal Detektivarbeit sein. Und ein beglückendes Abenteuer. Und der von uns so geliebte objektive Zufall hatte seine Hände auch mit im Spiel.
Der Flohmarkt-Fund
Also: Besagter Galerist war früher einmal in einem Auktionshaus direkt am Münchner Odeonsplatz als Experte für Papierkunst tätig. In dieser Eigenschaft fiel ihm zur Jahrtausendwende ein Selbstporträt Tilo Keils in seinem Atelier in Münster in die Hände, später kamen einige kleinere Abzüge der Negativ-Collagen dazu. Der Einlieferer gab an, die Werke auf einem Flohmarkt in Niederbayern entdeckt zu haben; irgendwann erfuhr der Galerist, dass sie wohl aus dem Insolvenznachlass eines bekannten Münchner Möbelhändlers stammten, in dessen Galerie „Avant Art Galerie Casa“ Tilo Keil 1968 seine letzte große Einzelausstellung hatte (wir berichteten).
Und jetzt kommen die Hände des von uns so geliebten objektiven Zufalls ins Spiel, und zwar als:
Der Freund des Freundes
Der Galerist fragte seinen Freund, einen Psychoanalytiker und Kenner der Münchner Kunstszene, ob ihm zufällig jemals Tilo Keil untergekommen sei. Ja natürlich, gab der Freund zur Antwort: Tilo Keil habe immer bei ihm und seiner Frau gewohnt, wenn er in München war, um sich mit seinen Künstlerfreunden zu treffen!
Keil habe dann die Wohnung in kürzester Zeit in ein Atelier mit Dunkelkammer verwandelt, sodass Freund & Frau nurmehr eine Nebenrolle in ihrem eigenen Zuhause hätten spielen dürfen. In der Wohnung habe Keil eigentlich unentwegt gearbeitet – und zwischendurch Geige für seine Performances geübt.
Die Reise zu & mit Keils Koffer
2007 reisten der Galerist und der Psychoanalytiker nach Münster, um die Witwe Tilo Keils nach einem möglichen Nachlass zu fragen. Sie wisse nichts von einem Nachlass, sagte die Witwe bei der Ankunft; nach dem Tod ihres Mannes habe sie 1969 viele Negativ-Collagen und die Ölbilder im Atelierofen verfeuert. Nur ein Koffer mit Dokumenten und ein paar Ausstellungsplatten stünde noch im Keller.
„Wir also runter zum Koffer“, erinnert sich der Galerist. „Es war ein weicher, teils aus Schaumstoff bestehender, sich schon in Zersetzung befindlicher knalloranger Reisekoffer, der ungeheuer schwer war. Vor lauter Aufregung wagte ich es erst zwei Tage später, abends, auf einer Reise nach Jever, ihn in meinem Pensionszimmer zu öffnen. So fiel mir der gesamte noch erhaltene Nachlass des Künstlers in die Hände: Fotoarbeiten in allen Formaten, Selbstbildnisse, Zeichnungen und Dokumente. An diesem Abend beschloss ich, in München mit einer Retrospektive zu Tilo Keil meine neue Galerie zu eröffnen.“
Viele Freunde Tilo Keils hätten auf der Vernissage die Negativ-Collagen nach 35 Jahren erstmals wiedergesehen, sagt der Galerist. Darunter sei auch der bekannte Porträt-Fotograf Stefan Moses gewesen, der 1968 Keils Nackt-Performance in der „Avant Art Galerie Casa“ fotografiert hatte.
Den Freunden sollen die Bilder genauso frisch & spektakulär erschienen sein wie nochmal 20 Jahre später uns.
55 Jahre 68: Spurensuche: Wer hat Angst vor Tilo Keil?
Homepage der Galerie Christian Pixis
Homepage des LWL-Museums für Kunst und Kultur in Münster
Ich bin begeistert ! Warum kauft kein Museum in Münster das an? Das ist für mich einfach unbegreiflich. Siegfried Berlinger
Unglaublich, so erinnert mich diese Fotografie an die heutigen „Kunst“ KI generierten Bilder. Wie kann es sein, das diese Schätze jahrelang verborgen blieben? Wieder ein bedeutender Fund der KunstArztPraxis. Danke!
Antwort KunstArztPraxis: Danke, lieber Herr Bösel! Wir freuen uns immer, wenn Menschen mit ihren Augen ähnlich wie wir auf die Dinge schauen. Ihre KunstArztPraxis.
Das ist wirklich ein ungeheuerlicher Schatz! Ich danke sehr für diese wunderbare Entdeckung. Edi B.