Topf für Tier & Trecker. „Interieur als Idee“ im Marta
Wie riecht Heimat? Können sich Gedanken auf Sessel setzen? Wo wohnten Adam & Eva? Und was hat diese Schau mit Robert Wilsons Fluch zu tun? Wir geben Antworten – und lassen hierzu bei vier Kunstwerken, die uns in „Interieur als Idee“ besonders gefallen haben, die Gedanken schweifen.
Wo man wohnt, will man zuhause sein: Das ging in der Kindheit am besten. Wenn man später in die Fremde muss, dann wohnt man plötzlich anders. Wer aber Glück hat, der nimmt das Zuhause seiner Kindheit mit. In Bildern, Geschichten, Tönen und Gerüchen.
1. Lena Henke, „Marta L. Henke“ (2023)
Lena Henke hat offensichtlich Glück gehabt – zumindest, was Bilder und Gerüche angeht.
Der Email-Topf, der jetzt in der Lippold-Galerie zum „Interieur als Idee“ gehört, ist dafür der lebende Beweis. Denn er lebt ja wirklich! Zumindest vermuten wir das: entströmt ihm doch ein Gemisch aus Pferd, Stroh und Gummi, als wäre er ein kleiner Stall für Tier & Trecker.
Ihre Kindheit in Westfalen habe so gerochen, sagt Lena Henke. Quod erat demonstrandum.
Wir sagen es nicht ohne Stolz
Wir sagen es nicht ohne Stolz: Ohne uns hätte es Lena Henkes Stall-Topf wohl niemals nicht gegeben!
Wir haben Lena Henke nämlich 2021 für den – immerhin mit 25.000 Euro dotierten – Marta-Preis der Wemhöner-Stiftung vorgeschlagen – und Lena Henke hat ihn doch tatsächlich bekommen! Die Jury fand sie genauso toll wie wir.
Der Topf ist dann als Teil des Preises speziell fürs Marta entstanden. Die Idee, ihn mit Kindheit anzufüllen, kam der Künstlerin in der Fremde in New York. Weit weg vom westfälischen Zuhause also.
Dufte, oder?

Einige Mitarbeiter*innen des Marta haben uns allerdings sicher insgeheim verflucht, denn als der Topf zu Lena Henkes ebenfalls mit dem Marta-Preis verbundener Solo-Ausstellung vorm Entrée der Lippold-Galerie stand, da hauchte er dem gesamten Interieur des Marta seinen etwas penetranten Odem ein.
Das tat er, weil er das Flakon einer unsichtbare Geruchs-Skulptur ist, die sich den Raum griff, selbst den hohen Dom zum Stall der Kindheit machte. Ähnliches hat Napoleon mit Kirchen ja auch gemacht.

Erinnerungs-Kunst, die ihr Revier markiert: Diese Idee gefällt uns gut. Aber wir verstehen auch, dass man nicht den ganzen Tag die Kindheit anderer Leute in der Nase haben mag. Proust natürlich ausgenommen.
In seiner neuesten Wohnung, also: im INNERN der Lippold-Galerie hat sich der Topf übrigens geruchlich stark zurückgenommen. Er müsste es nicht: Die Kraft zu stärkerer Dünstung wohnt ihm unumwunden inne. Aber er lebt ja jetzt in einer WG mit Design & Kunst, die andere Geschichten erzählen will. Und die soll seinen Stallgeruch nicht allzusehr inhalieren.
Lena Henkes Kindheits-Topf hat Manieren genug, um Rücksicht zu nehmen. Er ist gut erzogen.
Man kann es aber auch symbolisch sehen: Im Grunde ist es beim Topf wie mit allen Gerüchen der Kindheit, wenn man irgendwann irgendwo anders in der Fremde wohnt: Sie verblassen. Und zwar je eher, je mehr man sich in diesem Irgendwoanders in der Fremde selbst zuhause fühlt.
Meint: Henkes Topf ist im Marta angekommen.
2. Rodney McMillian, „chair“ (2003)


Lena Henkes Pferde-Topf hat einen sehr zerzausten Nachbarn, der am Ende seines Lebens im Gnadenhof des Marta Asyl gefunden hat.
Er war noch auf der Durchreise
Als wir ihn zum ersten Mal sahen, da gehörte er noch Rodney McMillian. Er war schon genauso zerzaust, wohnte aber ungleich heller & luxuriöser, vis-à-vis vom Marta-Dom, beschützt von vier an der Mittelachse bespiegelten Heiländern.
Obwohl es natürlich nur einen geben kann, wenn uns das Wortspiel, was vielleicht noch die Wenigsten verstehen, an dieser Stelle erlaubt ist. Das ist halt eine prägende Geschichte aus UNSERER Jugend.
Egal. Damals war der Sessel auf jeden Fall noch auf der Durchreise. Jetzt gehört er, wie Lena Henkes Topf, dazu.
Als Rodney McMillian den Sessel auf der Straße auflas, da sah er schon genauso aus wie jetzt, der Künstler hat nichts an ihm verändert. Außer den Raum, der ihn umgibt. Er hat also eine neue Wohnung um den Sessel herumgebaut: Das Gesetz der Readymades. So ist er SEIN Sessel und der des Museums geworden.
Und dadurch hat sich etwas Wunderbares vollzogen! Der Sessel hat nicht nur seine Würde wiedergefunden: Er ist auch zu einem Objekt geworden, auf dem unsere Gedanken Platz nehmen können.
Bevor sie den Sessel auf die Straße setzten, haben ja Menschen mit Gesäßen und Geschichten auf ihm gesessen. Aber was für Menschen mögen das gewesen sein?

Und mit welcher „Ten Ton Catastrophe“ (Nick Cave) ihrer prekären Biografien haben sie dem armen Kerl so zugesetzt?
Das macht in unseren Augen gute Kunst
Rodney McMillian soll einmal gesagt haben, sein Sessel erfülle alle Kriterien, die Kunst haben müsse, und das finden wir – siehe eben oben – auch. Denn er ist ja selbst ein Reflexionsraum, der uns ausladend einlädt, ihn gedanklich zu bewohnen, während wir ihn in aller Ruhe betrachtend umrunden dürfen. Und das macht in unseren Augen gute Kunst. Selbst dann, wenn sie an der Wand hängt.
Wenn es also ein Werk gibt, das für uns den Ausstellungstitel „Interieur als Idee“ am Prägnantesten verwirklicht, dann ist es für uns Rodney McMillians Sessel.
3. Norbert Schwonkkowski, „Licht an“ (2010)

„Licht an“ des hoch, ach, was sagen wir: SEHR hoch verehrten Norbert Schwontkowski lieben wir besonders.
Und wir finden, dass das Marta ihm etwas Unrecht tut, wenn es im (für Besucher*innen übrigens kostenlosen) Handout viel zu prosaisch aus der – im Grunde korrekten – Beobachtung, Schwontkowskis Glühbirne hinge „verloren im Raum“ und würde „absurderweise nur die Leere um sie herum erkennen“ lassen, nicht die korrekten demiurgischen Schlüsse zieht.
Die noch unbehauste Wohnung
Wir ziehen hiermit gerne diese Schlüsse. „Licht an“ beleuchtet eine Zeit ganz am Anfang aller biblischen Zeiten, als die Welt noch nicht mit Morgen und Gewölbe und Wasser und Trockenem und Grün und Lichtern und dem Gewimmel lebendiger Wesen möbliert war! Kurzum: „Licht an“ zeigt uns die globale Wohnung, die auf ihren Erstbezug – durch Adam & Eva– noch wartet.*
*Kurz darauf hat Gott Adam & Eva wegen Mundraubs fristlos gekündigt, die Geschichte ist bekannt.
Alle späteren HausHERRN wissen das: Man kann sich den perfekten Mieter leider nicht backen.
Und so wie Gott sich in der Erschaffung seines Mieters bekanntlich zweitverwertend selbst zitiert hat, so möchten wir uns als drei seiner Ebenbilder hiermit auch zweitverwertend selbst zitieren, und zwar mit einem leicht modifizierten literarischen Text, den wir anlässlich der Ausstellung „Marta Maps“ 2022 schon mal zur Glühbirne verfasst haben. Voìla:
Und Gott sprach: Es werde Nachtlicht
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht.
Nun also gab es Hell und Dunkel, aber die Idee mit Sonne, Mond und Sternen war Gott noch nicht gekommen: DAS geschah ja erst am vierten Tag. Aber Gott hatte bereits gemerkt, dass für seinen sportlichen Sechstagesplan Nachtschichten dringend vonnöten wären. Das mit dem Hell und Dunkel hatte schon zu lang gedauert.
Um also selbst in der Finsternis genug Licht zum Schöpfen zu haben, erschuf Gott kurzerhand die Glühbirne: eine Innovation, die er dann, als er sah, dass alles sehr gut war, im letzten Akt vorm siebten Tag wieder rückstandsfrei entsorgte – zum Ausruhen braucht man ja bekanntlich ABSOLUTE Finsternis. Erst 1880 wurde die Glühbirne von Thomas Alva Edison (wie wir jetzt wissen: zu Unrecht!) patentiert.
Norbert Schwontkowski hat die Erde in der zweiten Schöpfungsnacht gemalt, also kurz bevor Gott im Licht seiner Birne Wasser und Boden voneinander geschieden hat. Übrigens hat Caspar David Friedrich um 1809 dieselbe Stelle gemalt, allerdings im Querformat. Und ein paar Schöpfungstage später.
Denn wie man beim Romantiker unschwer erkennen kann, hatte Gott da sogar den Mönch schon erschaffen.


P.S.: Uns geht gerade ein Licht auf! Vielleicht war ja alles ganz anders? Vielleicht war der Apfel vom Baum der Erkenntnis ja eigentlich eine vom göttlichen Firmament baumelnde glühende Birne, die Eva unter des Vermieters fassungslosem Auge aus der Fassung schraubte? Dann freilich müsste die Bibel neu geschrieben werden.
Danke, Norbert Schwontkowski.
4. Robert Wilson, „Quartett Sofa (Heiner Muller und Madame de Merteuil)“ (1987)

Auf unserer Beziehung zu Robert Wilson lastet ein Fluch, und daran tragen wir Drei von der KunstArztPraxis null Schuld – Robert Wilson aber voll. Er hat uns die Seelen geraubt, unsere Sinne verwirrt, seinen Namen in unseren Hirnen neuronal mit Amnesie verschaltet. Warum? – erklären wir später. Zunächst einmal zum Fluch.
Es muss 2018 passiert sein, da waren wir zur Pressekonferenz in Wilsons Schau „The Hat Makes The Man“ im Max Ernst Museum Brühl. Es klingt unglaublich, aber KunstArzt1 war tatsächlich der einzige Fotograf, der Wilson porträtieren durfte! Und beim Foto-Shooting führte der weltberühmte Regisseur eine noch nie zuvor – und vielleicht auch nie danach – gezeigte Performance der Leere auf, die einzig und allein UNS gewidmet war.
Selbst die Kamera kriegte sich nicht mehr richtig scharf gestellt. Und die Performance endete offensichtlich mit besagtem Fluch.
Ohne diesen Fluch können wir uns nämlich nicht erklären, warum KunstArzt1 vergessen hat, bei unserem Besuch von „Interieur als Idee“ Robert Wilsons Sofa, das ja eher eine Ottomane ist, zu fotografieren – und uns anderen Zweien das nicht aufgefallen ist!
Deshalb haben wir, noch von unserem Besuch im Marta Depot 2022, nur ein Bild jener Kiste, in der Robert Wilsons Sofa den Großteil seines Lebens von neuerlicher Besetzung träumt wie eine vegetarische Fledermaus vom süßen Nektar im Winterschlaf.
Und eines aus der Ausstellung, auf dem es sich tarnt wie die listige Muräne vor der ahnungslosen Krake. Für uns als erklärte Sichtbar-Macher ein Desaster.

DAS (Pfeile) ist leider alles, was wir von Robert Wilsons Sofa zu bieten haben

Wir können Ihnen also nur dringend anraten, sich a) auf jeden Fall Robert Wilsons hier unsichtbares Sofa in „Interieur als Idee“ im Marta Herford anzusehen und b) unserem Foto vom leeren Blick Robert Wilsons AUF KEINEN FALL! in die Augen zu schauen – nicht, dass auch mit Ihnen noch etwas Schreckliches, Verfluchendes passiert!
Zu spät? Oh je. Tut uns leid! Trotzdem: Willkommen im Club. Ihre KunstArztPraxis. (08.06.2025)
„Interieur als Idee. Werke aus der Sammlung Marta“ ist noch bis zum 29. Juni 2025 zu sehen. Danach werden als Fortsetzung Ankäufe des Museums aus den letzten Jahren gezeigt.
Lena Henkes Kochtopf darf dabei, wenn wir das recht verstanden haben, wohnen bleiben.
Anmerkung: Um ein Haar hätte unser KunstArzt2 wegen Robert Wilsons Fluch sogar vergessen, etwas über Robert Wilsons Sofa zu schreiben! Dabei müssen wir unbedingt Abbitte leisten, denn wir haben einen Kunstfehler begangen!
Bei unseren Besuch im Marta Depot 2022 dachten wir nämlich noch, das Sofa stamme aus einer Performance, die Robert Wilson mal mit einer Sängerin namens Madame de Merteuil im Museum aufgeführt hat. Seit „Interieur als Idee“ wissen wir aber, dass sein Titel „Quartett Sofa (Heiner Muller und Madame de Merteuil“ auf Wilsons Inszenierung von Müllers Theaterstück „Quartett“ verweist. Auch diesen offensichtlichen Kunstfehler verdanken wir vermutlich Robert Wilsons leerem Blick.
Das wiederum ist KunstArzt3 als Literaturwissenschaftler ziemlich peinlich, denn die durchtriebene Madame de Merteuil ist eine Figur aus dem Briefroman „Gefährliche Liebschaften“ (1782) von Pierre Choderlos de Laclos, den er für eine Seminararbeit sogar einmal mit Begeisterung gelesen hat. Egal. Jetzt jedenfalls ist das Sofa leer & lebensmüde und wartet auf seinem Sockel vergeblich auf Lust & Verführung – zumal der Sockel extra so hoch gestaltet ist, damit niemand auf die Idee kommten könnte. sich lienbestrunken in seine Arme zu schmeißen.
Armes Sofa.

Das Marta in der KunstArztPraxis:
Der Kreativ-Krakeeler. Luigi Colani
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Wie wir „Das reisende Auge“ gesehen haben. Teil 1
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Ein gut bestelltes Haus? Rodney McMillian
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+++ Eil +++ Eil +++ Eil +++ Piraten entern Marta!
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Fotos malen? „Trügerische Bilder“
das mit dem Heiländer verstehe ich!
Antwort KunstArztPraxis: Danke! Vermutlich also ein Alter. Also, genauer: VIER Alter. Also, leider: alt. Traurig: Ihre KunstArztPraxis