Aus der ZEIT Nr. 47/1994 18. November 1994, 8:00 Uhr

Die italienischen Futuristen waren vor allem die Ästheten der Beschleunigung. Berauscht von der Geschwindigkeit der Großstadt erträumten sich die Künstler einen synthetischen Kosmos, eine mit Automobilen, Überseedampfern und Zeppelinen in Sekundenschnelle durchquerbare Welt-Fabrik. Nach dem Reich der Lebewesen sei nun das Reich der Maschine angebrochen, verkündete der Dichter Emilio Filippo Tommaso Marinetti überschwenglich, und der Maler Umberto Boccioni setzte hinzu, daß die “Ära der großen mechanischen Individualitäten” in naher Zukunft liege.

Der denaturierte Kosmos verlangte nach der denaturierten Persönlichkeit, und so machte sich der Futurismus zu Beginn des Jahrhunderts daran, diese Vision zu projizieren. In einer dynamisierten Moderne, die nach Ansicht ihrer Apologeten Subjekt- und Objektwelt unaufhörlich ineinanderschob, lag die Vorstellung eines utopischen Menschen nah, der unauflöslich mit der Kraft des Motors verschmolz. Hatten bereits die Futuristen Corradini und Settimelli behauptet, “daß es keinen wesentlichen Unterschied zwischen einem menschlichen Gehirn und einer Maschine” gebe (und damit ein zentrales Theorem der Kybernetik vorweggenommen), postulierte Marinetti 1912 eine Symbiose zwischen künstlichem und biologischem Körper. Mit Elektrizität gespeist, mit Kolben und Zylindern ausgestattet, sollte der Übermensch sich seine Autonomie erkämpfen. “Bereiten wir die Schöpfung des mechanischen Menschen mit Ersatzteilen vor”, heißt es in einem der futuristischen Manifeste.

Heute, am Vorabend der Jahrtausendwende, verkörpert der australische Performancekünstler Stelarc in einer gespenstischen Adaption der Phantasien Marinettis und Boccionis das futuristische Phantom. Das Projekt, die nur “scheinbar unbeugsame Feindschaft” zu besiegen, “die unser menschliches Fleisch vom Metall der Motoren trennt” (Marinetti), hat in der Person des mit Roboterarmen, Laseraugen und elektronischen Impulssystemen auf der Haut ausgerüsteten Australiers Gestalt angenommen. Stelarc betreibt einen computergestützten Selbstversuch, der den mit Elektroden und Antennen übersäten eigenen Körper programmierbar, physiologisch abbaubar und damit letztlich überflüssig machen soll. Für den neofuturistischen Künstler bedeutet dies das Erreichen einer fast uneingeschränkten Autarkie. Für den französischen Kulturphilosophen Paul Virilio allerdings, der die Aussagen Stelarcs in seinem neuen Buch “Die Eroberung des Körpers” ausführlich untersucht, bedeutet die szientistische Utopie des Australiers das Ende jeglicher Individualität. Virilio, Urbanist, Medienkritiker und Erfinder der “Dromologie”, der Lehre von der Geschwindigkeit, sieht in dem freiwilligen Mutanten Stelarc den Prototyp einer Entwicklung, die er als “Intrastruktur” moderner Technologien bezeichnet: Miniaturisierte Apparate und die bionischen Accessoires der Industrie nehmen den Körper in Besitz.

Will man Virilio glauben, so steht der Menschheit schon in Kürze eine Prothesen-Existenz bevor, bedingt durch die Errungenschaften der Transplantationsintrumentarien. Für Virilio ist in einer Epoche, in der der Hochleistungssport mit seinen Exzessen der Geschwindigkeit den Athleten zur präzise funktionierenden Maschine degradiert, einer Maschine, die ihre Leistung durch chemische Stimulanzien unaufhörlich zu steigern trachtet, das Zeitalter “technischer Aufputschmittel” bereits vorweggenommen. Der implantierte Herzschrittmacher, der das Leben nicht länger nur erhält, sondern ihm auch den Rhythmus der Mikromechanik aufzwingt, wird zum Symbol eines innerlich motorisierten Individuums.

Der Übermensch Marinettis ist zum “überreizten Menschen” der Postmoderne geworden – ein Mensch, der wegen der im industriellen Arbeitsprozeß verkürzten Arbeitszeit und der dadurch produzierten Langeweile immer neue Exzesse der Beschleunigung (und jetzt auch im eigenen Innern) aufzuspüren sucht. Im Wunsch nach einer synthetischen Vitalisierung mutiert das Ich des einzelnen Menschen zur bloßen “Struktur” für biotechnische und andere Experimente. Der Kybernetiker Marvin Minsky schreckte nicht vor der Idee zurück, dem Gehirn, um seine Speicherkapazität zu erhöhen, Schaltkreise nach Vorbild des Computers zu implantieren – das wäre dann so etwas wie das vollkommen ergonomische “menschliche Design”.

Stelarcs Robotermotorik, bei der sich der Künstler zunächst noch “im Innern des Androiden befindet” (Virilio), markiert vielleicht den Anfang einer umfassenden Instrumentalisierung nicht nur der Haut: einer nach innen gewandten Kolonisation, die dem geopolitischen und touristischen Imperialismus seit Beginn des 20. Jahrhunderts in nichts mehr nachsteht.

Virilio entwickelt die Geburt der hybriden Maschine eindrucksvoll aus dem Geist einer beschleunigten Fortschrittsideologie. Schon die Erfindung der automobilen Geschwindigkeit, welche die Entfernungen zwischen den Orten relativ bedeutungslos werden ließ, erweist sich so als ein erster Schritt dorthin. Der Verwandlung der natürlichen Umwelt (Biosphäre) in eine synthetische Technosphäre aber folgte die Verwandlung der Technosphäre in eine Telesphäre.

Die industrialisierte Nutzung des Fernsehens bringt es mit sich, daß die Übertragung in absoluter Lichtgeschwindigkeit ihrem Beherrscher uneingeschränkte Macht im Hüten – und Verschleiern – der Informationskomplexe verspricht. Der Weg zum “totalen Bild” ist beschritten, die Wirklichkeit ihrer Basis beraubt. Der “tatsächliche” Kosmos ist in der Hochauflösung elektromagnetischer Wellen nivelliert. Ursache und Wirkung verschieben sich: Die allgegenwärtige Live-Schaltung der tendenziös operierenden Massenmedien gestattet es, ein Ereignis, über das berichtet werden soll, erst zu erfinden. Die Mitteilung der Begebenheit eilt dieser voraus. Selbst das Reisen wird überflüssig: Heute liefert der repräsentative Schein des Bildschirms die substanzlose “Wirklichkeit” der Welt in einer unentwirrbaren Vermischung aus Nachricht und Werbung als Videoclip frei Haus.

Nach der kühnen Überschreitung der Schwellen von Raum und Zeit, folgert Virilio, existiert allein noch der Körper als exotischer Kontinent. Wo Glasfasertechnik und Satellitenübertragung, Radio, Telephon und Videoüberwachung eine Kommunikation in Echtzeit garantieren, ist auch die Unendlichkeit des Universums auf ein unendlich kleines Maß geschrumpft. Die universale “Mediatisierung” des Menschen hat auf neue, bisher unerforschte Bereiche auszuweichen. Das letzte Tabu der technischen Bemühung, der Leib, stellt nun das definitive Territorium inversiver Expansionen dar.

Die Implantation von “interaktiven und in Echtzeit arbeitenden Prothesen” scheint unausweichlich. Die Körperlichkeit, so glaubt der Kulturphilosoph, gerate zum “letzten Gradmesser für die Fortbewegung, eine Fortbewegung an Ort und Stelle allerdings”, im Inneren des Menschen, dessen physionomische Existenz “zum letzten Planeten geworden ist”. Die “Eroberung des Körpers” stellt den konsequentesten Ausdruck einer “dromokratischen” Gesellschaft dar.

Seit seinem dromologischen Manifest “Geschwindigkeit und Politk” (1977) hat Virilio die durch die diversen Revolutionen der Beschleunigung veränderte Welt- und Ich-Erfahrung des einzelnen auf vielfältige Weise aufgezeigt. Die neue Publikation setzt diese Tradition auf radikale Weise fort. Nach der Abschaffung des Raums (dem Hier und Dort) durch die distanzüberwindende Maschine, nach der Liquidierung der eingeübten Zeitkonstanten (dem Vorher und Nachher) durch die Lichtgeschwindigkeit der Bildschirmweit, nach der Annullierung der “objektiv” gegebenen Realität durch die künstlichen Paradiese einer virtuellen Wirklichkeit droht nun auch die letzte und wichtigste Bastion einer Situierung des Subjekts, die klassische Unterscheidung von Innen- und Außenwelt (von Intern und Extern) endgültig zu fallen.

Ein dergestalt desorientierter, verkabelter, vernetzter, denaturierter Mensch, so Virilio, “hat seinen Willen eingebüßt” und wird zuletzt ein bloßer Bestandteil des in kybernetischen Netzen und Informationsfeldern zerfallenen digitalisierten Universums sein.

Der Entäußerung des Menschen durch die Technik scheint jetzt die Periode einer Verinnerlichung der Technik in den Körper zu folgen. Der Weg von den Transportprothesen des 19. Jahrhunderts (Auto, Eisenbahn) zu den beschleunigten Lichtprothesen des 20. Jahrhunderts (den Produkten der Teletechnik) legt die Erschaffung des prothetischen Menschen des 21. Jahrhunderts – die Geburt der Maschine – zumindest nahe.

Angesichts des Ehrgeizes einer von den Gespenstern des Möglichen beseelten Wissenschaft kommt Virilios Buch gerade rechtzeitig, um auf die immer wahrscheinlicher werdende Despotie der Neurowissenschaften und Biotechnologien warnend hinzuweisen. Eine Despotie zumal, die in dem diffusen Verwischen der Bezugspunkte die demokratische Freiheit und die Individualität des einzelnen nachhaltig bedroht.

“Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten”, erträumten einst die optimistischen Futuristen. Demgegenüber hat Paul Virilio wieder einmal demonstriert, daß die Geschichte der Geschwindigkeit – mit ihrer Vernichtung von Zeit, Raum und Ich – vor allem eine Geschichte des Verschwindens ist.

Paul Virilio: Die Eroberung des Körpers Vom Übermenschen zum überreizten Menschen; Hanser Verlag, München 1994; 175 S., 38,– DM