“Menschheitsdämmerung” in Bonn: Der Sturm ist da
Kriege, Klima und KI: Wir Menschen stecken mächtig in der Klemme. Eine Ausstellung im Kunstmuseum Bonn zeigt nun, wie Künstler*innen der Gegenwart auf die aktuellen Krisen-Situationen reagieren – und setzt ihr Werk mit Gemälden und Skulpturen der Moderne in einen klugen Dialog.
Neulich müssen wir Drei in der KunstArztPraxis so gegen fünf vor Zwölf nur mal kurz weggenickt sein, denn plötzlich wurden wir in einem völlig fremden Deutschland wach.
Es war ein Deutschland, in dem junge Erwachsene wieder Nazis wählten, weil deren Lügen hipp auf TikTok standen. Ein Deutschland, in dem Frauen Vergewaltigern und Babyschlächtern zujubelten, weil deren Opfer für sie keine Menschen, sondern eben Juden waren.
Und ein Deutschland, in dem Männer Demonstrant*innen überfuhren, weil sie lieber später mit anderen Klimaflüchtlingen auf überfluteten Autobahnen im Stau stehen wollten, als in diesem Augenblick, im geschenkten Stillstand, einfach einmal nachzudenken.
Gefühlt brauchte es kaum zwei Minuten, um unsere Jahrzehnte alte heile Welt aus demokratischen und menschlichen Werten in einen Alptraum aus Dummheit, Hass und Empathielosigkeit zu verwandeln.
Zum Glück hat uns das schallende Gelächter von Wladimir Putin und Donald Trump dann wieder aufgeweckt.
Künstler*innen und Dichter*innen allen voran!
Natürlich war das alles nur ein kurzer, viel zu intensiver Traum. Aber er gab uns ein gewisses Gespür dafür, wie sich der reflektiertere, sensiblere Teil der Menschheit in einer Zeit der großen Kriege, der dumpfen Ideologien, des menschenverachtenden Raubtier-Kapitalismus und der explodierenden Großstädte – also im frühen 20. Jahrhundert – so gefühlt haben muss.
Künstler*innen und Dichter*innen allen voran.
Die Erde als Verwandten denken
Wir hätten also gar nicht träumen müssen: Wir haben ja die Künste! Und die haben natürlich weniger plakative Bilder als die, die unser apokalyptischer Minutenschlaf in uns erzeugt hat.
Momentan zum Beispiel läuft in Bonn die Ausstellung “Menschheitsdämmerung”, die Werke der klassischen Moderne aus den eigenen Beständen zeitgenössischen Positionen gegenüberstellt.
Und da sieht man dann, dass sich die Gespüre der Künstler*innen für Krisenzeiten gar nicht so stark verändert haben. Da hat noch das vermeintlich Plakativste Hintersinn.
Bild: Andrea Bowers, “Think of the Earth as a Relative Not a Resource (Ecofeminist Oak Branch series” (2021), Kunstmuseum Bonn, 2023
Es geht um Natur und schwindende Ressourcen, Konflikt und Identität, um Machtstrukturen, widersprüchliche Ordnungen, imperiale Kriege und KI; oder um Gender-Diskurse vor (und nach) der aktuellen Gender-Diskussion.
Es geht aber auch um geraubtes Kulturgut und Restitution – und um die Überführung von innerer sozialer Spannung in die innere Spannung der architektonischen Form.
Sogar eine von Louisa Clements KI-Doppelgängerinnen, die wir bei “SHIFT” im Marta so schmerzlich vermisst hatten, sitzt im Kunstmuseum Bonn im eleganten Le-Corbusier-Stuhl. Wenn sie nicht gerade schmollt, kann man auf Englisch ganz gut mit ihr sprechen.
“Sturz und Schrei”, “Liebe den Menschen”, “Erweckung des Herzens” sowie “Aufruf und Empörung” heißen die vier Räume der Schau – und entsprechen so den Kapitelüberschriften der wegweisenden expressionistischen Lyrikanthologie “Menschheitsdämmerung” von 1919, die der Ausstellung im Kunstmuseum Bonn auch den Titel gab.
Diese Anthologie eröffnet mit einem acht Jahre zuvor in der Zeitschrift “Der Demokrat” erstpublizierten Gedicht, das wir als eines der wenigen auswendig können, weil wir es besonders schätzen: “Weltende” von Jakob van Hoddis.
Geschrieben wurde es 1911 im Bewusstsein der Krisenzeit vorm Ersten Weltkrieg, von einem hypersensiblen Autor, der an der Zeit und sich zerbrach. 1942 wurde er von den Nazis aus den “Israelitischen Heil- und Pflegeanstalten” von Berlin nach Polen deportiert und mit großer Wahrscheinlichkeit im Vernichtungslager Sobibor “vergast”.
Auch an dieses Schicksal sollte man die Nazis wählende Jugend vielleicht nochmal erinnern. Zumindest den Teil, dem die eigene Zukunft noch nicht völlig egal ist.
Mit seinem prophetischen Witz ist dieses Gedicht so eindrücklich & überhaupt so großartig gegenwärtig, dass wir es hier aus unseren (hoffentlich) noch runden Köpfen hoffentlich komplett zitieren wollen:
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut.
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da. Die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Würde man van Hoddis‘ Gedicht Ende 2023 unhistorisch kontextlos zum ersten Mal lesen, dann hörte man eventuell sogar etwas vom fanatischen Brüllen der Anti-Israel-Demonstrationen, von einem durch nazistische “Re-Migration” (AfD) vielleicht bald schon existenzbedrohenden Fachkräftemangel, von der politisch und sozial gerade weitgehend ignorierten Klimakatastrophe, der Corona-Verharmlosung durch Wissenschaftsleugner oder der turbokapitalistisch marode gesparten Deutschen Bundesbahn heraus.
Aber so weit muss man ja gar nicht gehen, um Ähnlichkeiten zum Umbruch der Jetztzeit zu erkennen.
“Menschheitsdämmerung” in Bonn jedenfalls arbeitet solche Ähnlichkeiten in den Krisen ebenfalls heraus – und zwar, ohne dieses Ähnliche unbedingt klar auszusprechen. Gute Kunst in gut kuratierten Ausstellungen hat ja den Vorteil, offen zu sein für die Deutung dessen, der sie dort sieht und hört.
Wo Kunst ist, wächst das Rettende auch
Und dann ist da ja immer noch die Hoffnung auf das Rettende, die dort, wo Gefahr ist, bekanntlich immer mitwächst: Diese Ambivalenz trägt auch die “Menschheitsdämmerung” – das Buch ebenso wie diese kluge Ausstellung – mit.
Für uns endet die Bonner Schau deshalb mit einem Kunstwerk des von uns SEHR verehrten Laurence Weiner, das in seiner deutschen Übersetzung ganze acht Wörter braucht, um den Funken Hoffnung zu beschwören – und sie zugleich mehrfach wieder ad absurdum zu führen:
“Ein Streben nach Glück so bald wie möglich”, lauten dieses acht Worte. Wobei vor allem das an Vorgesetzten-Mails us-amerikanisch inspirierter Unternehmen erinnernde Ende des englischen Originalsatzes – “ASAP” (“as soon as possible”) – wieder ironisierend ernüchtert.
Es ist ein bisschen schade, dass Nazis, Demokratiefeinde und Menschenhasser eher ungern ins Museum gehen. In “Menschheitsdämmerung” würden ihnen nämlich mit den Mitteln der Kunst all jene Abgründe vor Augen geführt, in die sie die Welt gerade stoßen.
Aber vermutlich wäre diese Ausstellung für diese Klientel ohnehin viel zu subtil & intelligent, um das eigentlich ja klar Sichtbare zu begreifen: Bei Hans Thuars Gemälde eines gefällten Baums von 1912 die Krise mitzusehen ist ja nicht ganz einfach.
Allen anderen aber sei “Menschendämmerung” hiermit sehr ans warme Herz gelegt. Denn: Aus jedem bösen Traum kann man ja noch erwachen. Und wir wissen ohnehin nicht, ob nach dem Abend (gefällter Baum) nicht doch ein neuer Morgen (Apfelbäumchen) dämmert. (05.11.2023)
“Menschheitsdämmerung. Kunst in Umbruchzeiten” ist noch bis zum 18. Februar 2024 im Kunstmuseum Bonn zu sehen. Der Ausstellungskatalog ist schon rein haptisch ein Vergnügen.
Anmerkung 1: “Menschheitsdämmerung” ist die vorerst letzte Ausstellung der großartigen Stefanie Kreuzer fürs Kunstmuseum Bonn. Zwei Jahre hat sie kuratorisch an ihr gefeilt, und das sieht man der Schau auch an. Seit einem guten Monat leitet Kreuzer nun das Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr, darüber freuen wir uns sehr. Herzlichen Glückwunsch, Stefanie Kreuzer! Wir wünschen alles nur erdenklich Gute.
Anmerkung 2: Erwähnen möchten wir auch kurz, dass Einer von uns von rund zwei Jahrzehnten seine Dissertation über die Großstadt-Darstellung im Expressionismus mit “Weltende” von Jakob van Hoddis eröffnet hat. Nur, weil wir doch objektive Zufälle so lieben.
Anmerkung 3: Nur für den Fall, das Fragen kommen: Wir haben vollstes Verständnis für jede Kritik an der Siedlungspolitik und am Umgang Israels mit Palästinensern. Wir haben palästinensische Freunde, die in Israel alles andere als nett behandelt worden sind. Wir mögen auch Netanjahu nicht so wirklich, er ist ein rechter Krimineller.
Aber: Wir halten es für komplett indiskutabel, angesichts der ungeheuerlichen Gräueltaten, die die Terror-Organisation Hamas gerade vor allem an der jungen, kulturell alternativen, wohl nicht zuletzt wegen ihrer westlichen Werte & ihrer Lebensbejahung zur Tötung freigegebenen israelischen Zivilbevölkerung begangen hat, jetzt hasserfüllt mit den Worten nachzutreten, die Juden seien ja wohl selber schuld – und ausgerechnet (!) nach den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 statt gegen den (die eigene Zivilbevölkerung als menschlichen Schutzschild missbrauchenden) Hamas-Terror gegen das immer noch massiv von Raketen beschossene Israel auf die Straße zu gehen. Beschossen mit Raketen übrigens, die auch von jenen westlichen Hilfsgeldern finanziert worden sind, mit denen eigentlich das Leid im Gaza-Streifen hätte gemildert werden sollen. Einen anderen Milliardenbatzen haben sich ja offenbar die in Saus & Braus lebenden Hamas-Führer in die eigenen Taschen gesteckt.
Dass sich die Hamas, die die Medien gerade von einer Terror-Organisation zu einer seriösen journalistischen Quelle für Opferzahlen machen, offen wünscht, dass jetzt möglichst viele palästinensische Frauen und Kinder durch Israelis sterben, damit der Hass auf die Juden noch größer werde, ist nichts weniger als ekelhaft. Die Bilder, die momentan vom – natürlich riesengroßen! – Leid in Gaza um die Welt gehen, die hat nicht Israel, die haben die Hamas mit ihren Verbündeten gewollt: aus brutalstem Kalkül, das jetzt leider aufzugehen scheint.
Und: Ja, das schallende Schweigen des Kulturbetriebs zum Hamas-Massaker in Israel am 7. Oktober 2023 ist ein mindestens ebenso entlarvenderer Skandal wie das Schweigen der meisten Muslimverbände. Das ist nämlich kein Schweigen, sondern ein Statement.
Unsere Meinung. Wir sind froh, dass wir sie noch sagen dürfen, ein Hoch auf die Demokratie. Punkt & Schluss.
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Danke für diese klaren Worte! Ich kann nicht verstehen, was gerade in der Welt abgeht. Der ganze Hass, wo kommt der her? Mir scheint diese Ausstellung mit Ihren Worten etwas sehr Reflektiertes, Kluges zu sein; etwas, dass der Wirklichkeit den Spiegel vorhält. Das werde ich mir mit Sicherheit ansehen!!!
Vielen Dank. Für die klaren Worte. Für die Haltung, ganz besonders hier, und die Sprache. Und für das Denken und Mitdenkenlassen, in jedem Text sowieso.
I will visit the exhibition asap.
Wow. Großartiger Beitrag das! Macht weiter so. Ihr hattet ja schon zur documenta gefordert, das anisemitsche Gemälde hängen zu lassen und vor ihm über den Antisemitismus im globalen Süden zu diskutieren. Hätte man besser mal gemacht.
Ach ja: Die Ausstellung in Bonn werde ich mir auf jeden Fall ansehen!!!
Euer Artikel zur Ausstellung ist so super, danke dafür!
Danke einmal wieder für den Ausstellungstipp in ausführlicher Besprechung – aber auch für die klaren Worte zur Lage. Ich teile jedes davon. Punkt & Schluss
!!!