Zukunft mit Einhorn: “spielzeit #1” in Leverkusen
Wir sagten es an anderer Stelle ja schon einmal: Morsbroich erfindet sich dank städtischer und künstlerischer Unterstützung gerade neu. Dabei aktiviert die “spielzeit #1” des neuen Direktors Potenziale, die lange ungenutzt schlummerten, ohne alte Schloss-Werte über Bord zu werfen.
Es ist wie verhext, aber wenn wir an die Zukunft des Museums, des Sammelns und des Präsentierens denken, fällt uns seit unserem Besuch im Museum Morsbroich immer wieder irgendwann das Einhorn ein.
Bekanntlich gehörte ein Exemplar vor Urzeiten in jede gut sortierte Wunderkammer, und zwar fürstaufwärts. Gerne präsentierte man staunenden Gästen das Horn noch am Schädel. Dass da eigentlich der Stoßzahn eines Narwals mit gut sichtbaren Scharnieren auf einem Ziegenkopf thronte, störte damals keinen großen Geist.
Der Finger in der musealen Wunde
Für uns funktioniert das Einhorn ein bisschen wie das Kunstwerk: Obwohl ausgedacht, stößt es im Idealfall doch voran in etwas sehr Reales, das vielleicht erst später sichtbar wird. Die Einbildungskraft einer Gemeinschaft hat es mit Sinn gefüllt, ja: zum Fetisch gemacht. Selbst wenn die Gemeinschaft vergeht, ist es noch da. Der Grad zum Kitsch ist bisweilen schmal. Aber wenn alles gut geht, ist es ewig und unbezwingbar. Die zähmenden Fräuleins sind ja ausgestorben.
Für uns bohrt das Einhorn aber auch den Finger in die museale Wunde. Er zeigt, dass sich der Kanon dessen, was als sammlungswürdig gilt, beständig wandelt, ebenso wie seine Präsentation. Meint, dass man eigentlich jeden Augenblick überlegen muss, wie das Museum der Zukunft zu gestalten ist.
So wie das Museum Morsbroich. Da hat der nächste Zukunftsaugenblick mit “spielzeit #1” gerade begonnen. Schließlich ist endlich Geld da, um den inneren und äußeren Park sowie den Weg zum Obstgut hin neu zu erschließen. Verschiedene Künstler sind eingeladen, am Projekt in einer “Werkstatt Morsbroich 2022-26” mitzuwirken. Andere, um Skulpturales beizusteuern.
Von diesen Einladungen sind auch Vor- und Begleitarbeiten in “spielzeit #1” mit dabei.
Zurück in die Zukunft
So kann man alle Ritt schon ein wenig sehen, wohin die Reise geht. Gereist wird nicht nur künstlerisch durchdacht, sondern vor allem zeitgemäß, also auch ökologisch, nachhaltig, möglichst niederschwellig, transparent und “partizipativ”.
Zukunft heißt ja heute immer auch zurück: Zurück zur Natur. Zurück zu altem Obst und jenen guten Werten, die die böse Seite des Globalen verschüttet hat. Zurück zum Rokoko, zum Spiel, zur Phantasie – wobei es davon im Hause zugegebenermaßen immer schon viel gegeben hat.
Zurück also auch zur eigenen Geschichte und Tradition. Und, im Fall von “spielzeit #1”, eben auch: zurück zum Einhorn.
Davon liegt in der Ausstellung nämlich ein Exemplar. Es gehört zu einer ganzen Serie, denn es handelt es sich um den Teil einer Kunst-Edition, die auf verblasste Gemeinschaftsbedeutungen verweist und gleichzeitig eine aktuelle Deutung verlangt.
Geschaffen hat sie der großartige – und zudem noch hochsympathische! – US-Künstler Mark Dion, der sich viel mit dem Musealen, dem Sammeln und dem Repräsentieren, vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich, befasst.
Laut eines handschriftlichen Etiketts ist es die Replik jenes Narwalzahns, den ein Kaufmann namens Niccolò Niccoli da Uzzano 1461 als seinen “unbezahlbarsten Schatz” bezeichnete: “Es schwitzt in Gegenwart von Giften und vermag jeden todbringenden Stoff durch Berührung zu entkräften.”
Bei Dion liegt die Kopie des kostbarsten Schatzes, dem der Zahn des ursprünglichen Zaubers durch die rationalisierenden Zeitläufte gezogen worden ist, ganz profan in seiner – natürlich ebenfalls zum Kunstwerk gehörenden – Transportkiste.
Und vis-à-vis gibt es doch tatsächlich auch noch eine veritable “Wunderkammer”, die aber nichts mehr präsentiert, sondern sich selbst als vermeidlich magisch aufgeladenes Kunstwerk offenbart.
So spielt in “spielzeit #1” sehr viel ineinander. Und das ist kuratorisch derart schön gelöst, dass wir darauf später mit Pauken und Trompeten unbedingt nochmal zurückzukommen müssen.
Vorher wollen wir aber auf jeden Fall noch sagen, dass es auch einfach nur viel Schönes und deshalb Gutes in der “spielzeit #1” zu sehen gibt, dem man sich mit interesselosem Wohlgefallen hingeben kann – oder das das eigene Hirn sanft unterm Kinn krault. Kunst kann ja auch anders als mit dem Horn durch die Wand.
Dazu gehört Ortsspezifisches wie ein von Franz Erhard Walther eingerichteter Raum oder ein Ja-Tisch für den als Trau-Raum genutzten Spiegelsaal von Andrea Wolfensberger (ein gegenläufiger Nein-Tisch dient als Diskussionsgrundlage). Ein Saal bezieht mit Werken ukrainischer Künstler Stellung zum Angriffskrieg von Putins Armee. Und im grafischen Kabinett gibt es neben frühen Editionen von Gerhard Richter auch spannende Einblicke in deren Herstellungsprozess.
Der Schwarm der Gäste
Während der “spielzeit #1” führt Direktor Jörg van den Berg bzw. sein Kuratorenteam im Jagdzimmer so oft wie möglich ein “open office für ein gegnwärtiges [sic!] museum”. Im eigens eingerichteten Schauraum kann man sich zu einem bestimmten Datum für eine bestimmte Zeit ein Werk seiner Wahl aus den Beständen zur Ansicht an die Wand hängen lassen.
Und dank dem auf die “Imaginationskraft der Vielen” ausgerichteten “Parklabyr” von Margit Czenki und Christoph Schäfer darf der Besuchende die Zukunft des Museums Morsbroich sogar mitgestalten. Schwarmintelligenz können schließlich auch Museumsgäste. Und je größer der Schwarm, hofft man ja immer, desto mehr Intelligenz ist am Start.
Apropos “Intelligenz” und “Schwarm”: Heute träumt das gemeine Schlafschaf im Mainstream ja nicht mehr vom Einhorn. Dabei gab es einmal inquisitorische Zeiten, da konnte, wer dessen Wunderkraft in Zweifel zog, glatt auf dem Scheiterhaufen enden. Mark Dion spielt auch darauf an. Und zieht in “spielzeit #1” die Verbindung gleich noch mit.
In Sichtweite seines Einhorn-Horns nämlich soll im inneren Garten von Schloss Morsbroich in den nächsten Monaten ein “Witches‘ Cottage” des Künstlers entstehen – zur Erinnerung an eine imaginäre Hexe aus dem Rheinland. Entsprechenden Buntstift-Zeichnungen Dions hängen bereits an der Wand.
Dions Ausstellungs-Wunderkammer vis-à-vis präsentiert schon einmal Gegenstände, die laut den Freund*innen des Museums in einem solchen Hexenhaus versammelt sein könnten. Und auf den Bauplatz draußen zeigt, wenn wir uns recht entsinnen, drinnen die vergoldete Einhorn-Spitze. Tataa, mit Pauken und Trompeten: Künstlerisch und kuratorisch einfach zauberhaft.
Aber nicht nur durch den Bau von Dions Hexenhäuschen verändert sich “spielzeit #1” kontinuierlich. Wer regelmäßig zu Besuch kommt, kann der Zukunft des Museums deshalb quasi beim Denken zusehen. Am besten nutzt er dafür die preiswerte 365-Tage-Karte (Erwachsene 25 Euro, Schüler 12 Euro). Mit der kann er dann sogar noch in die “spielzeit #2” gehen, die im Herbst eröffnet. Doppelter Schnäppchen-Alarm.
Dann ist Dions kostbares Editions-Einhorn in seiner Transportbox vielleicht schon auf dem Weg in die moderne Wunderkammer eines zeitgenössischen Sammlerfürsten. Stattdessen steht dann das Hexenhäuschen Dions als Skulptur im Park. (Nochmal Tataa.)
Und dahin, nach draußen, ins Freie, strebt momentan im Schloss Morsbroich ja viel. (13.06.2022)
“spielzeit #1” ist noch bis zum 16. September 2022 im Museum Morsbroich in Leverkusen zu sehen.
Mooo-ment! Wie waren denn nun die “Morsbroicher Kunsttage 02”?
Stimmt! Wir hatten ja an anderer Stelle versprochen, dazu noch ein bisschen was zu zeigen. Vorab das Fazit: Schön war’s! Die “Morsbroicher Kunsttage 02” (13.5.-15.5.2022) waren eine wundervolle Neuauflage der erst- und letztmalig vor rund 60 Jahren stattgefunden habenden gleichnamigen Veranstaltung. Kreativ, inspirierend, lecker. Und den Außenraum schon einbeziehend. Wir freuen uns auf die Fortsetzung im September.
Und hier noch ein paar Bilder.
Museum Morsbroich in der KunstArztPraxis:
„spielzeit #1“ mit eröffnen: Die „Morsbroicher Kunsttage“
Mehr Licht (3): Mischa Kuball in Leverkusen (leider geschluckt von der Unsichtbarkeits-Maschine)
Jetzt spricht das Ensemble! (leider geschluckt von der Unsichtbarkeits-Maschine)
Reine Bildgebung (5): „Das Ensemble“ in Leverkusen (immerhin noch da. Ätsch, Unsichtbarkeits-Maschine!)
Homepage des Museums Morsbroich
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