Betriebsausflüge 5: Nick Cave in Wassenaar
Als florierende KunstArztPraxis haben wir natürlich Geld wie Heu. Und deshalb schließen wir hin und wieder die Patientenpforte und reisen mit Mann & Maus ins befreundete Ausland. Diesmal ging’s vor die Tore von Den Haag. Zu Nick Cave. Und zum Teufel. Ein Ausflugsprotokoll unserer Schülerpraktikantin Anne.
Die KunstÄrzte sind riesige Fanboys von Nick Cave, er ist ihr Priester, wie sie sagen. Hier in der Praxis laufen seine Alben rauf und runter. Ich bin erst drei Wochen hier, aber eigentlich kann ich Nick Cave schon fast nicht mehr hören. Die KunstÄrzte hören nämlich nicht die Songs, die so ein bisschen gothic sind und Post Punk, sondern eher so das kitschige Zeug mit der Liebe und den Mermaids.
Noch schlimmer finde ich, dass bei „Jubilee Street“ immer Einer mit hochgereckten Händen durch die Praxis-Zimmer hüpft, und wenn Nick Cave bei „No More Shall We Part“ „My beautiful heart“ singt, liegen sich die Drei garantiert heulend in den Armen. Bei „Love Letter“ übrigens auch.
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Das ist alles ziemlich cringe. Da bin ich froh, dass im dritten Stock niemand durchs Fenster spinksen kann. Aber auf die Reise nach Den Haag habe ich mich trotzdem gefreut.
Da sind gerade Figuren von Nick Cave ausgestellt. Und da geht’s auch mal nicht um Gott und den Glauben an die Mermaids, sondern um den Teufel und den Tod. Und das interessiert mich als Gothic Girl dann schon.
Nick Cave ist nämlich eigentlich Künstler, die Musik ist ihm nur immer „dazwischengekommen“. Ausgerechnet die KunstÄrzte behaupten das!
Und dann bei „Love Letter“ heulen.
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„Als mein Manager mir sagte, dass wir nicht auf Tournee gehen würden, da war das für mich, als würde ich mit einem Schlag leer werden, als wäre die ganze Welt unter mir weggerutscht.“
Nick Cave
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Ach, eins habe ich noch vergessen zu erwähnen, das könnte wichtig sein. Vielleicht wären wir nämlich sonst gar nicht so weit gefahren! 2020 hatten die KunstÄrzte nämlich Karten für Nick Cave & The Bad Seeds in München und hatten sich wohl auch schon unbändig gefreut darauf.
Aber dann kam Corona und das Konzert wurde abgesagt.
Und jetzt kommt’s: Zur SELBEN Zeit, als die KunstÄrzte im Lockdown in der Praxis bei den „Murder Ballads“ Trübsal bliesen, saß Nick Cave irgendwo in Australien in seinem Haus fest und hat statt der Tournee diese Teufels-Figuren aus Ton gemacht!
Die KunstÄrzte würden sagen: Weil ihm die Musik endlich einmal nicht dazwischengekommen ist.
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Ein objektiver Zufall, wie wir ihn lieben: Eigentlich wollte Nick Cave uns mit den Bad Seeds & zehn Gospelsängern am 06.06.2020 „Ghosteen“ präsentieren. Stattdessen modellierte er im Atelier seiner Frau Susie Bick einen Teil jener Teufels-Figuren, die wir nun gesehen haben! Vielleicht exakt zur selben Stunde. © für alle Atelier-Fotos: Sian Davey
„Ehrlich gesagt dauerte dieses Gefühl eines existentiellen Zusammenbruchs nur etwa eine halbe Stunde. Danach habe ich die seltsame Freiheit, die mir das verliehen hat, wirklich genossen.“
Nick Cave
Vermutlich lag es an „Higgs Boson Blues“, denn fast wären die KunstÄrzte bei unserem Betriebsausflug bei einer Ausfahrt aus Versehen nach Genf abgebogen, aber dann sind wir doch noch mit „Abattoir Blues“ im Jaguar Richtung Niederlande. Und da gab es dann erstmal zwei Enttäuschungen.
Denn das Museum ist gar nicht in Den Haag, sondern in einem Kaff namens Wassenaar ein paar Kilometer weiter am Meer. Und die Teufel von Nick Cave hätte ich mir viel größer vorgestellt! Aber das Museum ist echt eine Wucht. Im Garten steht eine riesige Spinne, von der das Spinnenkind in „Needle Boy“ stammen könnte. Und in einem Kunstwerk kann man sich sogar ein wenig wie eine Mermaid unter Wasser fühlen.*
Man kommt aus dem Stauen nicht heraus.
*Die Spinne ist von der unvergleichlichen Louise Bourgeois,
der optisch täuschende Swimming Pool von Leandro Erlich.
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In einem Raum stehen dann Nick Caves Teufel auf einem langen Sockel wie auf dem schneeweißen Altar einer schwarzen Messe. 17 sind es, ich habe nachgezählt. Unsere Führerin hat gesagt, dass sie von ziemlich kitschigen Keramikfiguren inspiriert sind, die Nick Cave selber sammelt.
Den Namen habe ich leider vergessen.*
*Ach Anne! Es handelt sich um die in England populären
Staffordshire-Keramiken aus dem 18. und 19. Jahrhundert.
Das sollte man als angehende Kunststudentin wissen.
„Was als Wunsch begann, eine einzelne kleine Teufelsfigur als Vehikel für eine intensive rote Glasur zu schaffen, wurde zu einer Reise hin zu einer Art Absolution von einer Reihe erschütternder Ereignisse.“
Nick Cave
Unsere Führerin hat dann erklärt, dass die Figuren gar nicht viele Teufel sind, sondern vom Leben eines Teufels erzählen, der wie Nick Cave seinen Sohn verloren hat*, und zwar von seiner Kindheit bis zum ziemlich blutigen Tod.
Den Teufel hatte ich mir trotz der Hörner auf jeden Fall ganz anders vorgestellt. Weniger elegant, oder: weniger menschlich vielleicht?
Für mich kann der Teufel nämlich nicht älter werden, oder sich verlieben, oder Gewissensbisse haben, oder traurig sein. Aber bei Nick Cave ist das nun mal so. Und einmal verbirgt er sein Gesicht mit den Händen wie auf einem Gemälde von Edvard Munch.
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*Nick Cave hat 2016 bzw. 2022 zwei seiner vier Söhne verloren,
der Tod von Ex-Bad-Seeds-Mitglied und Freundin Anita Lane 2021war ein weiterer Schicksalsschlag.
Und noch etwas kann ich sagen: Je länger man die Figuren betrachtet, umso mehr Mitleid bekommt man mit dem Teufel. Und dann verwandelt sich wieder der ganze biedere Kitsch wie bei einem Kipp-Bild in Anarchie & Punk. Ein bisschen so, als würde The Birthday Party „Wild Roses“ spielen. Ja, vielleicht so in der Art.
„In der letzten Skulptur ist der Teufel gestorben, und das Kind kniet vor ihm und berührt mit seiner Hand den Körper in einer Geste der Vergebung. Es heißt: ‚Dem Teufel vergeben'“.
Nick Cave
Und dann hat die Führerin noch etwas gesagt, das mir, glaube ich, auch die KunstÄrzte irgendwie haben sagen wollen: Dass nämlich auch Nick Caves Musik eigentlich Kunst ist.
Weil Nick Cave mit seinen Songs Bilder und Gefühle macht im Kopf wie ein Maler mit Farbe, und weil seine Konzerte eigentlich Performances sind, bei denen es um Leid und Verlust und Erlösung und Vergebung geht wie bei seinem armen Teufel auch. Oder um Überwinden wie bei Marina Abramović und Hermann Nitsch. Nur eben nicht mit Stillsitzen oder Körperflüssigkeit, sondern mit Text und Musik. Und beim Teufel eben mit Glasur.
Tut mir leid, Jungs, aber: Wenn man das SO erklärt, dann kann man das wenigstens verstehen. (23.02.2025)
Anmerkung 1: Nein nein, liebe Anne, das mit Nick Cave , der Kunst & der Musik haben wir schon anders gemeint! Cave hat es im Museum Voorlinden im Gespräch übrigens nochmal gesagt: „Als Musiker habe ich mich immer als Hochstapler gefühlt. Meine eigentliche Bestimmung ist immer die eines Künstlers gewesen.“ Aber was Lieke uns da so unbekümmert in der Ausstellung erzählt hat, stimmt natürlich trotzdem, siehe Appendix unten. Danke, liebe Lieke!
Anmerkung2: Ach ja: Vor lauter Aufregung hatte KunstArzt1 beim Betriebsausflug leider ZUM ERSTEN MAL seine Kamera zuhause liegengelassen. Wir mussten deshalb ausnahmsweise mal auf Fremdfotos zur Ausstellung zurückgreifen, die Thomas Merle gemacht hat. Danke, Thomas Merle! Und: Danke, Sian Davey, für die Fotos aus dem Atelier. Und nur noch kurz, zwecks Transparenz: Über den Text von Anne sind wir auch noch einmal stark redigierend drübergegangen. Der war uns viel zu gothic,
Appendix: Nick Cave performt „Jubilee Street“, Hamburg, 8. Oktober 2024
„Jubilee Street“ ist der vierte Track auf „Push the Sky Away“ von Nick Cave und den Bad Seeds aus dem Jahr 2013. Jeder von uns Dreien weiß noch, wo er dieses Album zum ersten Mal gehört hat, und für Einen von uns war es das erste Nick-Cave-Album überhaupt. Dieser Eine ist beim Hören kurz vor Mitternacht bei Eiseskälte durch einen schneehellen Park gegangen, auf den das Licht der Kreißsäle eines großen Krankenhauses lange Baumschatten warf, und dabei dank „Jubilee Street“ erkannt, dass er die Frau liebt, die ihm das Album schenkte. Wenn also jemals ein musikalischer Liebestrank gelang, dann ist es dieses über acht Minuten lange Stück.
Dabei ist „Jubilee Street“ vermutlich kein Liebeslied. Es handelt von einem feigen Freier, der einem leichten Mädchen namens Bee – oder B.? – eventuell ein Kind gemacht hat. Vielleicht ist Cave – wie er so oft behauptet – wie alle seine Helden, dieser Freier selbst? Egal. Bee jedenfalls ist schon nach zwei Zeilen erschossen, die Russen fallen in den Laden ein, Caves Name steht in einem schwarzen Buch auf jeder Seite.
Irgendwann wird er mit seinem Liebesbauch und Liebesrad – äh, also doch ein Liebeslied? – wohl auch Bees vermutlich abgetriebenen Fötus durch die Straße an der Leine Gassi führen. Aber das alles ist nicht sicher: Cave singt ja in Bildern. Fest steht nur: Liebe und Verlust, Sehnsucht und Trauer, Sünde und Erlösung, Gott und Teufel. Das alte Spiel.
Das Heilige der Live-Musik
Der Held von „Jubilee Street“ könnte aber auch ein falscher Priester sein, der mit Jesus gleichzieht, indem er am Ende in mystischem Leuchten verglüht und in Verzückung gen Himmel fährt. Das ist das Ende vom Lied, das wie Bee eine Geschichte hat, aber keine Vergangenheit: auch in Hamburg nicht. Am Ende geht alles in einem Rausch aus Klängen tranceartig in dem auf, was Cage in seinem Buch „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“ (2022) mehrfach heilig nennt, spirituell: in der Musik. Genauer: in der Live-Musik vor Menschen.
Gen Himmel fahren, erlöst werden von Zehn-Tonnen-Katastrophen, transformieren wie im Ritual der Messe: Das ist das, was Nick Cave während des ganzen Konzerts in Hamburg will. In „Jubilee Street“ ist es nur besonders offensichtlich. Neben den Bad Seeds sitzt noch eine weitere Pianistin da oben, auch die Percussions sind inklusive Marimbaphon satt bestückt. Im musikalischen Zentrum, an der rechten Bühnenseite, natürlich: der Freund und Teufelsgeiger Warren Ellis, mit dem gemeinsam Cave „Jubilee Street“ geschrieben hat.
Zudem stehen drei Gospel-Sängerinnen in liturgisch glitzernden Gewändern auf der Bühne, und ein Gospel-Sänger in Priesterschwarz. Das sind sechs Gospel-Sänger*innen weniger als bei der abgesagten „Ghosteen“-Tour, zu der wir Karten hatten, 2020 geplant war – aber es zeigt, wohin die Reise auch in Hamburg gehen soll: Nach oben, wo die seidenen Lichtkegel der Bühnenbeleuchtung hervorbrechen wie die göttlichen Sonnenstrahlen auf einem romantischen Gemälde aus einer Wolkendecke.
Hand- und Bauchauflegen
Caves Musik steckt voller Beschwörungsformeln. Bei „Jubilee Street“ ist das weniger offensichtlich als bei „Sweetheart Come“, aber es gibt sie doch, auf andere Weise: „I’m transforming, I’m vibrating, I’m glowing, I’m flying, look at me now!“ lautet diese Beschwörungsformel, das Mantra.
Und Jede*r , der hinschaut, kann es in Hamburg sehen, nachdem Cave mit einer Art Veitstanz auch das Tempo der Bad Seeds ebenso plötzlich wie radikal gesteigert hat: Cave vibriert, er glüht, die Welle der Klänge von Warren Ellis‘ E-Gitarre (dieses Mal: nicht die Geige), vom Schlagwerk Martin Caseys und vom Drumpad, auf das Jim Sclavunos mit dem Tamburin lässig eindrischt – peitscht ihn, unterstützt vom Gospelchor, nach oben.
Hier gilt die Beschwörungsformel keiner Liebe, mit der Nick Cave unter den Sternen wandern will: In Hamburg zielt sie eindeutig aufs Publikum. Nachdem Bee erschossen worden ist, rollt sein „wheel of love“ vor allem für die armereckenden Fans in den ersten Reihen. Cave wandert zwischen Klavier und seiner Gemeinde hin und her, schreitet die Bühne ab wie ein Tier im Käfig. Aber er greift zwischen den Stäben durch ins Meer der Hände, taucht beizeiten hinein. Wilde Energie aus dieser Masse, übertragen durch Hand- und Liebesbauchauflegen.
Bei einem der letzten Mantra-Flügen wirft sich Cave auf die hochgestreckten Arme seiner Fans und breitet die eigenen Arme aus zu Flügeln: Die Himmelfahrt gelingt bei „Jubilee Street“ in Hamburg nur, weil die Gemeinde ihren Priester stützt. Das ist das Bild, das uns auf ewig im Gedächtnis bleiben wird, der für uns seelenbewegende, Cave würde sagen: „heilige“ Augenblick. Oder, mit den Worten von „Song of the Lake“, der in Hamburg ebenfalls gespielt wird: „The Moment was worth saving.“
Was verstörend wirkte
Manches wirkt verstörend bei der Performance von „Jubilee Street“ an diesem Abend: eigentlich Vieles für die achteinhalb Minuten.
Gerade erst hat Cave beim Geständnis, nach dem Mord an Bee zu viel Angst gehabt zu haben zum Weitergehen, besonders lang die hochgereckte Hand eines Fans gedrückt, da bricht er plötzlich ab, weil er sich – wohl wegen eines Zurufs – dem Anschein nach im Text vertan hat (er wird nach dem Lied zum Rufer zurückkehren und sich beschweren). Dann wandert er von links nach rechts, um einem anderen Fan etwas zu sagen. Oder ist dies der Rufer gewesen?
Cave spuckt in Anzug und Krawatte auf die Bühne, als wäre er noch bei „The Birthday Party“. Einmal findet er sein achtlos auf den Boden geworfenes Mikrophon erst im letzten Moment wieder, weil ein aufmerksamer Roadie es inzwischen aufs Klavier gelegt hat – offenbar war er selbst zu sehr ins Spiel versunken, um es zu bemerken. Aber all dies tut diesem Zauber von „Jubilee Street“ in Hamburg keinen Abbruch. Im Gegenteil. Verstörung gehört ja dazu.
Nein: „Jubilee Street“ in Hamburg, das war keine musikalische Unterhaltung, keine modische Deko-Protzigkeit wie bei manchem dieser anderen Konzerte anderer Stars: „Jubilee Street“ in Hamburg, das war Performance-Kunst, die wir immer noch im Herzen tragen, jetzt, da vier Monate vergangen sind. Die unsere Seele gesund gemacht hat.
„Jubilee Street“ in Hamburg war zum Niederknien, mehr noch als „Jubilee Street“ 2017 in der Frankfurter Jahrhunderthalle. Im Ansatz spürt man das sogar noch auf jenen verwackelten, unscharfen, akustisch verzerrenden Videos, die im Netz kursieren. Zumindest ein bisschen.
Ach ja, eines sollen wir der großen Liebe von Einem von uns noch ausrichten: Er hat deine Karte nicht verkauft. Der Platz neben ihm blieb für dich frei.
„Von allen Dingen kann uns Musik am ehesten in die Nähe des Heiligen führen. Etwas verbindet uns und hebt unsere kollektive Seele. Wo kann man dieses Gefühl heutzutage sonst bekommen außerhalb der Kirche?“
Nick Cave
„Nick Cave. The Devil: A Life“ ist noch bis zum 16. März 2025 im Museum Voorlinden in in Wassenaar bei Den Haag zu sehen. Neben einem Skyspace von James Turrell besitzt das Haus Werke von Ai Weiwei, Marcel Broodthaers, Tracey Emin, Damien Hirst, Roni Horn, Anselm Kiefer, Bridget Riley und Cindy Sherman. Auch Nick Caves Serie hat es inzwischen angekauft.
Und bis zum 23. März 2025 läuft auch noch die tolle Schau von Michaël Borremans! Also nichts wie hin.
Die legendären Betriebsausflüge der KunstArztPraxis:
Betriebsausflüge 1: „Kunst für Tiere“ in Rüsselsheim
Betriebsausflüge 2: „Geordnete Verhältnisse“
Betriebsausflüge 3: Nicole Eisenman in München
Betriebsausflüge 4: „Kafka: 1924“ in München
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