Roland Nachtigäller: „Hombroich ist ein Buffett“
Roland Nachtigäller kennen wir seit 15 Jahren, und als er 2021 aus dem Marta Herford verschwand, haben wir ihn als sein eigenes Museum porträtiert. Seit 2022 ist Nachtigäller in Hombroich Geschäftsführer. Grund genug für einen Hausbesuch. Verbunden mit der Frage: Was macht Hombroich so besonders?
KunstArztPraxis: Herr Nachtigäller, was macht das Museum Insel Hombroich zu einem so besonderen Ort?
Nachtigäller: Das Besondere ist sicher, dass sich hier Kunst und Landschaft auf einmalige Art verbinden – und dass Werk und Betrachter ungefiltert aufeinanderstoßen können. Wir haben kein Wachpersonal hier, nur dezent installierte Kameras. Und man kann, wenn man nicht zu den Wochenenden kommt, bisweilen vollkommen alleine sein mit Kunst und Natur.
Dieses kontemplative Zusammenspiel von einer sich permanent wandelnden Landschaft und einer Sammlung, deren besondere Hängung noch vom Maler Gotthard Graubner realisiert wurde: Das ist einzigartig.
Und dann ist noch besonders, dass hier die Gebäude selbst Skulpturen sind! Diese Idee der „begehbaren Skulptur“ hat der Bildhauer Erwin Heerich in den 1980er Jahren für Hombroich entwickelt. Bei uns geht es nicht nur um die Skulptur im Landschaftsraum: Es geht auch um ihr Inneres, um Raumerfahrungen, die weit über das hinaus gehen, was eine auf Funktionalität ausgerichtete Architektur leisten kann.
Bei uns gibt es leere begehbare Skulpturen und solche, die ihrerseits wieder Hülle sind für eine sehr bemerkenswerte und einzigartige Sammlung, zu der Werke von Yves Klein, Lovis Corinth, Jean Fautrier, Alexander Calder, Alberti Giacometti oder Norbert Tadeusz ebenso gehören wie Grafiken von Rembrandt oder Paul Cézanne, archäologische Stücke der ostasiatischen Kunst, aus Afrika, Ozeanien und Amerika.
KunstArztPraxis: Welche Philosophie steckt hinter der Insel Hombroich?
Nachtigäller: Der Begriff der „Gastlichkeit“ fasst die Leitideen eigentlich sehr gut zusammen. Damit meine ich nicht nur, dass es hier in der Cafeteria tatsächlich ein kostenloses Angebot an Getränken und einfachen Speisen gibt. Es geht vor allem auch um die gesamte Atmosphäre, die zum Verweilen und Betrachten einlädt. Jede*r ist willkommen, es bedarf nur etwas eigener Neugier, Offenheit und Respekt vor dem künstlerischen Schaffen und den Kräften von Kunst und Natur.
Alle sollen die Möglichkeit zur direkten Begegnung mit der Kunst haben, unvoreingenommen und auch ohne Voraussetzungen. Es geht in Hombroich nicht um das Wissen, sondern um Wahrnehmung und Sehen, Erleben und Fühlen. Deshalb haben wir auch keine Beschilderungen an den Werken. Das führt immer noch zu Irritationen, erzeugt im Idealfall aber die richtigen Fragen. Warum ist es so wichtig zu wissen, von welchen Künstler*innen bestimmte Werke stammen, aus welcher Zeit sie sind? Warum vertraut man im Kontakt mit dem Werk nicht viel stärker auf sich selbst, schaut, was sich beide Seiten zu geben haben? Was spricht zu mir – und was auch nicht?
Es ist wie bei einem großen Buffet, wo ich das auswähle, was das Richtige für mich ist. Neben der nachhaltigen Beständigkeit und der Entschleunigung, die auch eine Sehnsucht stillt, ist dieses Vertrauen auf die eigene Erfahrung etwas, was Hombroich ungemein zeitgemäß macht – sogar zeitgemäßer als vor, sagen wir: zehn Jahren.
KunstArztPraxis: Und welches Publikum kommt zum Kunst-und-Natur-Buffet?
Nachtigäller: Ein ganz unterschiedliches! Es gibt Menschen, die kommen nur wegen der Landschaft: Blüht schon dieser Busch? Ist jener Vogel schon wieder da? Dann gibt es welche, die kommen gezielt wegen der Architektur. Und natürlich jene, die vor allem die Kunst sehen wollen. Aber für die meisten ist es sicherlich das einmalige Gesamterlebnis aus allen diesen Aspekten.
KunstArztPraxis: Zum Kulturraum Hombroich gehört ja nicht nur das Museum, sondern seit 2003 auch das „Kirkeby-Feld“ mit begehbaren Architektur-Skulpturen des dänischen Bildhauers Per Kirkeby und seit 1996 die Raketenstation mit ihren Begegnungsstätten und Künstlerateliers. Wie fügt sich das zur Insel?
Nachtigäller: Für mich ist die Raketenstation eine absolut konsequente Fortsetzung der Hombroich-Idee: diesem musealen Bereich, der in Vielem unveränderlich ist, eine Art Laboratorium zu Seite zu stellen, das Menschen im Sinne der Kultur zusammenbringt. Es ist ein Experimentierfeld, auf dem die hier lebenden und arbeitenden Künstler*innen vieles mitgestalten: zum Teil auch die Ausstellungen mit Sammlungsbeständen, die wir immer wieder machen.
Das Kirkeby-Feld mit seinen fünf Bauten greift als eine Art Scharnier den Gedanken der „begehbaren Skulptur“ auf ganz eigene Weise wieder auf. Aber auch das „Haus für Musiker“ von Raimund Abraham auf der Raketenstation hat ja etwas ungemein Skulpturales. Und der elegante Pavillon von Alvaro Siza bietet ausreichend Raum für Wechselausstellungen.
KunstArztPraxis: Und dann gibt es ja auch noch die Langen Foundation und Thomas Schüttes Skulpturenhalle. Welche Bedeutung hat das für das Gesamtgefüge?
Nachtigäller: Das ist natürlich eine große Bereicherung. Im Grunde hat sich um die Raketenstation eine Art Grüner Hügel der Kunst entwickelt. Mit der Langen Foundation ist der klassische Museumsbetrieb mit oft großen Namen präsent. Und in der Skulpturenhalle gewährt Thomas Schütte im Wechsel mit Werkschauen von ihm geschätzter Künstler*innen teils unbekannte Einblicke in sein eigenes Schaffen. Dadurch entsteht eine attraktive Vielfalt, die in einem solchen Landschaftsraum völlig einzigartig ist.
Man kann hier wirklich den ganzen Tag verbringen, ohne das Gefühl zu haben, dass sich etwas wiederholt oder man ermüdet. Das ist das große Potenzial dieses Ortes.
(30.07.2024)
Anmerkung zu Roland Nachtigäller: Von Anfang an war die Karriere des Ausstellungsmachers Roland Nachtigäller (*1960) stark mit der Skulptur verknüpft. Nach seiner Zeit im Leitungsteam der documenta 9 (1991/1992) entwickelte er zwischen 1998 und 2000 gemeinsam mit Martin Köttering das Skulpturenprojekt „kunstwegen“ im deutsch-niederländischen Grenzraum, das 2008 unter dem Titel „raumsichten“ fortgesetzt wurde – und dessen Grundidee laut Nachtigäller war, „dass Skulptur im öffentlichen Raum immer in der Lage ist, einen Aufmerksamkeitspunkt zu setzen und zu einer Art Brennglas für das zu werden, was sie vor Ort vorfindet“.
Von 2003 bis 2008 war Nachtigäller Leiter der Städtischen Galerie Nordhorn, von 2008 bis 2021 Direktor des Kunstmuseums Marta Herford. Seit 2022 steht er der Stiftung Insel Hombroich als Geschäftsführer vor.
Anmerkung zum Interview: Das Interview entstand ursprünglich im Auftrag der Kunstzeitschrift ARTMAPP. Dort erschien es in leicht gewandelter Form im Juli 2023. Nicht nur Hombroich kann also Nachhaltigkeit. Wir auch!
Hombroich-Woche in der KunstArztPraxis:
Im Labyrinth: Hombroichs „begehbare Skulpturen“
Reine Bildgebung spezial: Graubner is Coming Home!
Für Nostalgiker: Roland Nachtigäller: Porträt des Direktors als Museum. Seufz.
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