An einem Dienstag Abend sah Anna zum ersten Mal einen Vampir. Sie wollte gerade ihre Lieblingskleider für den nächsten Schultag zusammensuchen, da entdeckte sie ihn. Er hing im Kleiderschrank und schlief. Die Füße hatte der Vampir über die Kleiderstange geschwungen und baumelte mit dem Kopf nach unten im Kleiderschrank. Aber das war natürlich nicht weiter verwunderlich. Schließlich weiß jedes Kind, das Vampire Verwandte der Fledermäuse sind, die ja ebenfalls mit dem Kopf nach unten schlafen. Und deshalb hing der Vampir kopfzuunterst an der Kleiderstange in Annas Schrank. Annas Kleider hatte er achtlos auf den Boden geworfen.
“Meine schönen Kleider!”, rief Anna böse, stemmte zornig ihre Hände in die Hüften und legte den Kopf schief. “Ganz zerknittert sind sie! Sehen Sie nur, was Sie da angerichtet haben!”
“Endschuldigen Sie vielmals, gnädiges Fräulein”, entgegnete der Vampir, indem er sich elegant von der Kleiderstange herunterhangelte. (Offenbar war es ein Vampir der alten Schule.) “Normalerweise läge mir nichts ferner, als in Ihrem Kleiderschrank Unordnung zu machen. Aber dies war ein absoluter Notfall. Eine Notlandung, sozusagen. Aber ich denke, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Wenn Sie meine Geschichte kennen, werden Sie verstehen. – Übrigens heiße ich Herr Müller!”.
Herr Müller erzählte nun, wie er in Annas Kleiderschrank gekommen war. Dabei musste er ganz weit ausholen, denn der Anfang der Geschichte lag über hundert Jahre zurück. Vor über hundert Jahren nämlich hatte Herr Müller eines Abends mit seinem Bruder beim Frühstück in Transsylvanien gesessen. Da kommen die Vampire nämlich her. Und abends frühstücken müssen sie, weil sie nichts so sehr fürchten wie das Sonnenlicht. Deshalb machen sie die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht. Und deshalb saß Herr Müller an diesem Abend vor über hundert Jahren mit seinem Bruder am Frühstückstisch. Der Bruder hatte sein Gesicht hinter der Transsylvanischen Abendzeitung verborgen und seine halbfette Blutsuppe getrunken, wie das bei Vampiren zu Hause so üblich ist. Beim Lesen war er dann auf einen Artikel gestoßen, der sein Leben verändern sollte.
“Heute Eröffung der neuen Staatsbibliothek”, stand da in großen roten Lettern. “Die Hälfte der Buchbestände unterirdisch! Modernste Glühlampenbeleuchtung!”. Da wurde der Bruder von Herrn Müller so aufgeregt, dass ihm die Hälfte seiner Blutsuppe wieder aus dem Mund hervorquoll. “Stell dir das vor, Herr Müller”, rief er begeistert: “Überall in den Kellergängen nur künstliches Licht! Da kann man auch tagsüber herumlaufen soviel man will. Ohne dass man Angst vor der Sonne haben muss!”. Denn wo auch tagsüber keine Sonne hinkommt, da (und das weiß jedes Kind) glauben Vampire, ist das Paradies.
Deshalb verwandelte sich der Bruder von Herrn Müller noch am selben Abend ganz schnell in eine Fledermaus und flog in Richtung Stadt davon. Und Herr Müller wünschte, der Bruder würde in den glühlampenbeleuchteten Gängen der Staatsbibliothek sein Vampirglück finden.
Nach über einhundert Jahren aber schrieb der Bruder Herrn Müller einen tränenbenetzten Brief, in dem er sich bitterlich über seine Situation beklagte. “Lieber Herr Müller”, stand da zu lesen, “ich bin’s, Dein Bruder. Mir geht es nämlich gar nicht gut. Hier in der Staatsbibliothek ist es derart staubig, dass man immer husten muss. Und die hiesigen Bibliothekare sind so blutleer. Ich fühle mich sehr einsam. Bitte komm doch her und besuch mich”. Flugs verwandelte sich der Vampir Herr Müller ebenfalls in eine Fledermaus und machte sich auf den Weg. Die ganze Nacht hindurch flog er die lange Strecke von Transsylvanien zur Stadt hinunter, in der die Staatsbibliothek erbaut worden war.
In der Stadt konnte er der Versuchung nicht widerstehen, eine Weile um die Straßenlaternen herumzuflattern und in ihrem künstlichen Lichtstrahl zu baden. Darüber hatte er dann wohl die Zeit vergessen, denn als Herr Müller zum Himmel blickte, sah er, wie langsam und bedrohlich die Helligkeit des Morgens hinter den Häuserwänden hervorkroch. Und da Vampire bekanntlich nichts so fürchten wie das Sonnenlicht, musste Herr Müller schnell irgendwo unterschlüpfen, wo es stockdunkel war. Und da lag nun einmal Annas Schrank am allernächsten. Also segelte Herr Müller durch Annas Fenster, warf schnell alle Kleider von der Stange, schwang sich darüber und wartete, mit dem Kopf zuunterst schlafend, auf die wohlige Nacht. – Und damit war seine Geschichte aus.
“Ich hoffe, Sie verstehen nun, warum ich in Ihrem Kleiderschrank notlanden musste, gnädiges Fräulein”, sagte Herr Müller, höflich wie immer. “Aber wenn man in Todespanik ist, kann man auf ein Paar Mädchenkleider einfach keine Rücksicht nehmen.”
Dass jemand seinen Bruder besuchen wollte, den er seit über hundert Jahren nicht gesehen hatte, und der noch dazu so furchtbar einsam war, das leuchtete Anna natürlich ein. Und dass einer, der Angst vor der Sonne hatte, Zuflucht im nächstbesten Kleiderschrank nehmen musste, war ebenfalls nicht weiter verwunderlich. Auch wenn sie immer noch ein bisschen böse wegen der zerknitterten Kleider war, beschloss Anna deshalb, Herrn Müller nochmal zu verzeihen. Dann brachte sie ihn zum Fenster, half ihm auf den Fenstersims, sah ihm beim Verwandeln zu und winkte ihm noch eine Weile nach, während der Vampir, langsam kleiner werdend, im fahlen Mondlicht fliegend, in der Dunkelheit verschwand.
Aber vorher, ja: vorher, da musste er noch Annas Kleider bügeln. Denn: Soviel Zeit muss sein. Auch nach über hundert Jahren.
(Erstsendung: Bayerischer Rundfunk, 31.10.1999)