Die schwarze Sonne. Besuch bei Mischa Kuball
Seit rund drei Jahrzehnten nutzt Mischa Kuball Licht als Medium zur Erhellung historischer, gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge: ein konzeptionelles Enlightenment, das uns sehr gefällt. Deshalb waren wir in seinem beeindruckenden Düsseldorfer Hinterhof-Atelier. Mit Roland Barthes.
Im April 2024 reisten wir zu Mischa Kuball nach Düsseldorf. Für einen (leider noch immer nicht geschriebenen) Beitrag über Jan Paul Evers (tut uns leid, Jan Paul Evers!) hatten wir Roland Barthes‘ Fotografie-Betrachtung „Die helle Kammer“ im Gepäck.
Vor allem lasen wir die Kapitel über den Begriff des „punctums“, den Barthes bemüht, um das Zufällige, Überraschende eines Details an einem Foto zu bezeichnen, das den Betrachter, positiv oder negativ, emotional besticht.
Wir erwähnen das nur deshalb, weil unsere Lektüre im Atelier von Mischa Kuball zu einem jener bestechend schönen objektiven Zufälle führte, die wir so lieben.
Der Empfang war herzlich, obwohl die Arbeit drückte, wir kannten uns ja schon seit langem: Sofort war wieder sportlich-intellektuelle Schwingung da. In der imposanten Bibliothek brachten wir das Gespräch auf Thomas Schütte, in dessen nahem Atelier wir vor sechs Jahren ebenfalls fotografierten; Mischa Kuball kam auf Andreas Gursky, mit dem er Tennis spielt. Wir danach auf Jean-Luc Godard.
Und dann brachte Kuball plötzlich das „punctum“ in Barthes‘ „heller Kammer“ ins Spiel, auf die er 2022 unter anderem mit einer Edition reagiert habe: „dark chamber inverted (after Roland Barthes)“. Ein Digitaldruck auf Dibond-Spiegelglas sei das, Auflage: 30. Ein Exemplar hinge nebenan im Büro.
Und derweil ruhte Barthes‘ Buch in der Dunkelkammer unseres Foto-Rucksacks auf einem Stuhl gegenüber. Das war das „punctum“ des Gesprächs.
Je heller das Objekt, desto größer die Finsternis
Natürlich haben wir uns Kuballs „dark chamber inverted“ (Bild) im Büro stante pede angesehen. Sie zeigt das Abbild einer Lichtquelle (eine vergitterte Baustellen-Lampe), die mit ihrem Schein etwas unter ihr Befindliches (vermutlich Fotopapier) unterschiedlich intensiv belichtet hat.
Die am stärksten belichteten Stellen sind schwarz. Wie auf dem Rollfilm analoger Foto-Apparate. Oder auf schwarz-weißen Polaroids von früher: Am dunkelsten ist darauf immer die Sonne.
Denn merke: Je heller das Objekt, desto größer die Finsternis.
Wir haben extra nicht nachgefragt, weil wir ja mit Barthes denkend schauen wollten, aber für uns spiegelt Kuballs invertierte dunkle Kammer den Prozess einer fotografischen Entwicklung, indem sie ihn im raum-zeitlichen Paradox während und nach seiner Entstehung fixiert.
In der Evidenz des Augenblicks erschien uns das Werk als Bild gewordenes Negativ von Barthes‘ theoretischen Überlegungen zur Ambivalenz der Lichtbildnerei.
Wir finden es zudem lustig & listig, dass Kuball „dark chamber inverted“ im Büro ausgerechnet über den Foto-Kopierer gehängt hat: Das hat etwas sehr Konzeptionelles im Arbeitsprozess des Alltäglichen, wie wir finden.
Es sagt viel aus über Kuball, der ja stark in Konzepten und Prozessen denkt – und bei der „dunklen Kammer“ auch im Seriellen dachte. Denn beim Exemplar überm Kopierer handelt es sich um eine Art inverser Kopie eines Unikats von 2014. Lustig & listig eben.
Und die „dark chamber“ sagt, gerade in Wechselspiel mit Barthes „heller Kammer“, viel aus über das Licht, dem sich die Fotografie verdankt. Denn in der Brust des Lichts wohnen ja AUCH zwei Seelen! Diese poetische Wahrheit hat uns ausgerechnet die Quantenphysik in voller Tragweite erst enthüllt.
Seitdem ist Licht primär binär: Es ist Körper UND Welle, Teilchenschwarm UND Schwingungskurve, die eigentliche Information UND ihr Träger – real wie metaphorisch. Im Grunde ist dem Licht jener untrennbare Dualismus eigen, den Roland Barthes für die in diesem Sinne IMMER schwarz-weiße Fotografie festmacht: „die Fensterscheibe und die Landschaft, das GUTE und das BÖSE, der Wunsch und sein Objekt.“
Licht ist Geist UND Materie, Erkenntnis UND Rauschen, Aufklärung UND Blendung, Freiheit UND Folter, Krieg UND Frieden, Demokratie UND Faschismus. Oder, in Mischa Kuballs Worten: “Licht ist Soziologie. Licht ist Politik.”
Unter dieser Maxime macht Kuball seit rund 35 Jahren mittels verschiedenster Wellenbereiche sichtbar, was Licht in seiner Ambivalenz transportieren kann. Mit Installationen, Performances, Projektionen und Fotografien verweist er auf Architekturen und gesellschaftliche Strukturen, die als Eingriffe in den öffentlichen, privaten und musealen Raum irritieren.
Nicht als Selbstzweck, sondern im Sinn von erhellender Durchdringung. Verrätselnde Kunst und erhellende Wissenschaft sind bei Kuball zwei Seiten einer Sache. Auch diese Ambivalenz ist im Atelier überall zu spüren, wo im Keller gut verpackt all jene Arbeiten stehen, die nicht fest installiert oder verkauft oder auf Reisen sind.
Das öffnet Augen. Und schließt sie wieder. Gleichzeitig hell und dunkel. Jedes Werk in diesem Sinn ein Wimpernschlag.
Fünf Sonnen im Keller
Selbst die echte Sonne hat ja dunkle Stellen, die politisch aufgeladen sind. Galileo Galilei hat diese sich permanent bewegenden & verändernden Sonnenflecken schon im 17. Jahrhundert entdeckt und damit den Zorn des Klerus auf sich gezogen: An Gottes perfekt geschöpftem – und von Anfang an auf der strikten Trennung von Licht und Dunkelheit basierendem! – Firmament musste alles Helle strahlend sein. Die Wahrheit ging im Dogma unter.
Das Dunkle war die Hölle, damals noch irgendwo unter einer flachen Erde. Und die twilight zone war, seit ihrer Erfindung im 13. Jahrhundert, das Fegefeuer.
Galileis Zeichnungen von Sonnenflecken sind nicht nur wissenschaftlich wichtig, sondern auch künstlerisch bemerkenswert. Auch daran erinnert Kuballs Installation „five suns (after Galileo)“ von 2018, die bei unserem Hausbesuch im Showroom des fenster- und landschaftslosen Kellers aufgebaut war: ohne künstliches Licht schwarz wie das All.
Galileos Sonnenflecken bestätigte die kopernikanische Idee von der runden Erde, die sich mit anderen runden Planeten um die runde Sonne dreht.
Kuballs Sonnen lassen die hellen Schatten ihrer dunklen, Galileo nachgezeichneten Flecken wie bei einem invertierten Höhlengleichnis bewegend & verändernd im Fackelschein des LED-Lichts tanzen.
Dass sie solipsistisch um sich selber kreisen und überdies flache Scheiben sind, ist in unseren Augen wieder besonders listig.
aus: Galileo Galilei, „Istoria e Dimostrazioni Intorno Alle Macchie Solari e Loro Accidenti“, 1613
Es ist halt wie im echten Leben: Das Licht der Erkenntnis prallt immer wieder gegen die tiefschwarzbraunen Balken vor den Köpfen. Noch so eine Ambivalenz – in Galileos klerikalen, aber gerade auch in unseren teils gottlosen, teils fundamentalistischen Zeiten.
In Mischa Kuballs Weltall-Keller kam es uns auch wieder ins Gedächtnis: Als wir seine „five suns“ zum ersten Mal entdeckten, tanzten ihre damals noch bunteren Schatten samt Sonnenflecken an den Wänden des Museums Morsbroich in Leverkusen. 2021 ist das gewesen.
Die Schau war ein beeindruckender Querschnitt durch Kuballs Schaffen: drei Jahrzehnte künstlerischer, von Forschung und Philosophie gleichermaßen durchdrungener künstlerischer Bildgebung, die Unsichtbares in den Diskursen sichtbar macht.
“ReferenzRäume” war sie benannt. Denn sie inszenierte die zumeist ortsspezifischen Werke im Kontext des Museums neu.
Urknall und Apokalypse
Hier war auch unsere Lieblingsarbeit von Mischa Kuball aufgebaut: “five planets” von 2015. Sie macht, wie wir finden, besonders sinnfällig, wie Kuball mit Licht operiert. In der Installation werden die Namen von Jupiter, Mars, Merkur, Saturn und Venus über Lichtschablonen auf Spiegelkugeln geworfen, die sich wie in der Disco – allerdings musiklos – drehen.
Die Buchstabenfetzen sausten in Leverkusen mit Lichtgeschwindigkeit über Wände, Parkett und Deckenstuck: ein babylonisches Tohuwabohu wie am ersten Tag der Schöpfung. Oder am letzten.
“Five planets” ist ein eigener Kosmos, der dem Betrachter in Morsbroich buchstäblich den Boden unter den Füßen wegriss. In seiner lichtdurchfluteten Konfusion war das Werk für den desorientierten Betrachter unbegreiflich wie der gestirnte Himmel über ihm.
Kant traf Plato in der helldunklen Kammer auf dem Dancefloor. Erkenntnis in Trance, Klarheit im Schwindel.
In Morsbroich bespiegelte das Wirrwarr der Reflexionen das auch wissenschaftlich & intellektuell unfassbar Große einer wie auch immer gearteten Unendlichkeit. Wobei das Technische des Aufbaus verfremdend den bloßen Effekt wieder unterwanderte.
Dass wir in Kuballs Keller einige jener Kästen entdeckten, in denen seine verspiegelten Disco-Planeten vielleicht angeliefert worden sind, hat uns ebenfalls sehr gefallen.
Bei Licht betrachtet ist halt auch die Kunst eine Riesen-Illusion, die auf Verpackungen basiert. Aber auch das denkt Mischa Kuball in der dunklen Kammer seiner Arbeit, die für uns im oben dargestellten Sinne eher helldunkel wie die schwarze Sonne ist, ja immer mit.
Und damit Punktum. (05.05.2024)
Anmerkung: Noch VIEL mehr Fotos aus dem Atelier (und einen Vergleich Kuball vs. Turell!) gibt es weiter unten. Aber jetzt erstmal, exklusiv aus der Kunst-Sammlung der KunstArztPraxis: Die schwarze Polaroid-Sonne von Ricardo Reuss, der so viel mehr war als der Fotograf der Gurke:
Und hier noch 104 weitere Impressionen von Mischa Kuballs beeindruckendem Hinterhof-Atelier in Düsseldorf:
Appendix: Eine Frage der Optik: Kuball vs. Turrell
Für uns ist “five planets” die kleine, portable Schwester der festen Rauminstallation „Space-Speech-Speed“ (2001) im Internationalen Zentrum für Lichtkunst (IZFL) in Unna – die erste Arbeit von Mischa Kuball, die wir betreten haben.
Im IZFL steht auch der „Floater 99“ von James Turell: Hier ist also der richtige Ort, um das, was Kuball vom reinen Lichtkünstler unterscheidet, im Vergleich mit Turrell zu erklären.
Turrell entgrenzt den vorhandenen Raum mit Licht, bis Welt verschwindet; Kuball setzt dem Raum mit Licht auf eine Weise neue Grenzen, die Welt transparenter macht.
Bei Turrell ist Licht metaphorisch Körper, Teilchen, Information seiner selbst; bei Kuball ist es Welle, Schwingung, Träger von Informationen.
Turrell bringt dem Licht blindes Vertrauen entgegen; Kuball hält über Reflexion in Schrift und Sprache kritisch Distanz.
Turrells Optik ist illusionistisch, Kuballs desillusionierend. Turell ist lichteuphorisch, Kuball lichtskeptisch.
Turrell ist diffuse Emotion. Kuball setzt selbst da noch auf Vernunft, wo der Betrachter den Verstand verliert.
Im Grunde ist es der gesellschaftspolitische, erkenntnisgeleitete Bezugspunkt, der Kuball als Konzeptkünstler vom reinen Lichtkünstler à la James Turrell unterscheidet.
Nochmal Punktum. Ihre KunstArztPraxis
Mehr Licht (1): 20 Jahre James Turrell in Unna
Mehr Licht (2): 450 Jahre Caravaggio (*1571)
The comparison of Turrell’s and Kuball’s conceptual use of light (shapes) is to the point. Both artists had their works on display at JMB Jewish Museum Berlin in 2019.
Answer KunstArztPraxis: Many thanks! And stay tuned. Yours sincerely KunstArztPraxis
Wunderbar