Die Zerstörung van Goghs: „Stand up for Art“
Ende März feiern wir Vincent van Goghs 170. Geburtstag. Aber vorher muss sich der Maler leider nochmal im Grabe umdrehen. Zumindest dann, wenn er die Sendung „Stand up for Art“ im WDR gesehen hat. Wir jedenfalls haben uns sehr geärgert. Deshalb hier eine ungewohnt scharfe Replik.
Gestern haben wir geträumt, wir wären auf der Beerdigung von Vincent van Gogh. Aber irgendwie kamen wir zu spät, der Künstler war bereits begraben. Jetzt saßen nur noch vier gut gelaunte Menschen beim Leichenschmaus. Man sprach über appe Ohren, überall hingen Bilder, van Gogh war schon vergessen.
Es wurde viel gelacht, über den Toten natürlich, und über die eigenen Witze: Die Stimmung war superb. Wie gesagt: Es war ein Leichenschmaus.
Aber es war kein Traum. Es war die sechste Folge der „Comedy & Satire“-Sendung „Stand up for Art“ im WDR. Die will ein junges Publikum für Kunst begeistern, indem sie es mit seinen eigenen hippen Formaten abholt. Nur leider wurde van Gogh mit seiner Kunst dabei komplett im Regen stehen, also links liegen gelassen.
Das Hipe beginnt schon beim Vorspann. Hip ist zum Beispiel heutzutage zu betonen, dass man von dem, worüber man anschließend plaudern will, keinen blassen Schimmer hat – und darauf auch ein wenig stolz zu sein. So die Moderatorin schon im Vorspann: „Bei mir zuhause hängt ’ne Plastiktüte in ’nem Bilderrahmen an der Wand. Ob das Kunst ist, weiß ich jetzt nicht“.
Das Motiv der Ahnungslosigkeit zieht sich durch die ganze Sendung. Bald wird klar, dass sich auch die Gäste – eine Frau, zwei Comedians – gar nicht oder nur extrem oberflächlich mit van Gogh beschäftigt haben. Auch das ist hip. Die Botschaft lautet: Hey, wir sind Eine*r von Euch! Wir sind nicht hier, um Euch mit tiefen Gedanken Angst zu machen! Wir sind einfach cool und ohne Berührungsängste, wir reden, wie uns der Schnabel gewachsen ist. Wissen stört. Have fun.
„Stand up for Art“ ist so niederschwellig angelegt, dass niemand über irgendeine Schwelle treten muss. Weil alles komplett eingeebnet ist. Diese Strategie sieht man im Fernsehen immer öfter. Kultur-Programm für Flachbildschirme.
Es bleibt über die Dauer der gesamten Sendung flach. Niemand soll am Ende schlauer sein als wie zuvor. Versprochen! Vermittelt wird, was hoffentlich schon Jeder weiß über Vincent van Gogh. Also das:
Vincent van Gogh war der mit dem appen Ohr. Er hat aber auch gemalt. Er war sein Leben lang traurig und erfolglos. Sein Bruder Theo war sein best friend forever, es gibt da viele Briefe. Einmal war er sogar verliebt, er hat sich erschossen. Hätte er nur 200 Jahre länger gelebt, dann wäre er heute Multimillionär.
Van Goghs Gemälde? Sie können düster sein, aber auch farbenfroh. Es gibt mehr davon als Britney Spears Haare auf dem Kopf hat. Manchmal wirkt die Perspektive, als sei der Maler beim Malen bekifft gewesen. Die Porträts sind die Selfies von gestern, die „Sonnenblumen“ müffeln. Und das Bett auf van Goghs „Schlafzimmer in Arles“ ist hart und scheuert.
Halt, stop, die Sonnenblumen müffeln und das Bett ist hart und scheuert? Das sind ja tatsächlich neue Funfacts! Woher wissen die denn das?
In Bed with Madonna – äh: Godfather Vincent
Die wissen das, weil „Stand up vor Art“ nicht – sagen wir: im Van Gogh Museum in Amsterdam zu Besuch ist, sondern im Multimedia-Spektakel „Van Gogh Alive“ in Frankfurt. Und dort kann man, wie die Moderatorin sagt, in die Werke des Künstlers hineingehen, sie erfühlen und sogar erriechen!
Und tatsächlich beschleicht besagte Moderatorin in „Stand up for Art“ mehrmals das Gefühl, „richtig in van Goghs Kunstwerk drin“ zu sein.
(links: DIESE Sonnenblumen kann man sogar erschmecken! Einfach an der Rückseite lecken.)
Dass man in „Van Gogh Alive“ keineswegs „alle seine Werke“, sondern vor allem gewaltige Projektionen sehen kann, die van Goghs Gemälde zum Anlass für ein Spektakel nehmen, das ein eventorientiertes Publikum kommerziell abholen soll – eben auch mit einem Nachbau von van Goghs Schlafzimmer in Arles nach van Goghs „Schlafzimmer in Arles“ oder einem durch Spiegel vergrößerten Sonnenblumenfeld mit Plastiksonnenblumen – Petitessen.
Im Zweifelsfall hat die Projektion ja ohnehin mehr Aura als die Originale.
Zum Besuch in „Van Gogh Alive“ hat sich die Moderatorin eine „zauberhafte Gästin“ mitgebracht: Eva. Das ist eine wirklich sehr charmante Podcast-Journalistin. Mit ihr geht die Moderatorin in Berlin hin und wieder mal spazieren, lernen wir. Und: Die Gästin ist eine „superentspannte Museumsgängerin“!
Sprich: „Wenn Irgendjemand intellektuell und lustig genug ist, um mit mir das Leben eines alkoholkranken und depressiven Niederländers zu interpretieren, dann ist es“ – tatataaa: ja wohl sie.
Und womit kann man das Leben eines alkoholkranken, depressiven Niederländers am besten interpretieren, na? Natürlich mit Alkohol und guter Laune! Also setzen sich die Beiden erstmal in die Bar von „Van Gogh Alive“, um – nein, nicht Absinth, sondern – heute noch viel hipper! – Cocktails zu schlürfen.
Und nach dem ersten Schluck der erste witzige Test: Wird es der Gästin gelingen, van Goghs Namen richtig aussprechen? Wir sind ganz aufgeregt.
(links: Auch kein van Gogh, aber immerhin Absinth und Depression)
Natürlich gelingt es der Gästin! Schließlich ist Eva an der Grenze zu den Niederlanden aufgewachsen, wo es, wie wir lernen, viele Kreisverkehre gibt. Und Mitschülerinnen, die im Schlafzimmer deutsches und im Wohnzimmer holländisches Radio hatten. Krass. Die Gästin kann kein Niederländisch, aber ihre Aussprache von „van Gogh“ klingt in unseren Ohren, die auch kein niederländisch können, überzeugend.
Und was verbindet die Gästin am meisten mit van Gogh – jetzt, am Anfang, wo wir noch nicht viel mehr wissen über den Maler als die überzeugend klingende Aussprache seines Namens? „Dass er zu Lebzeiten noch gar nicht erfolgreich war!“
Stimmt zwar nicht ganz, kommt in der Folge als Running Gag aber immer wieder vor. Ist auch egal. Die Gästin ist sympathisch. Und: Endlich mal wieder ein Satz über van Gogh. Überhaupt: Nach dem Tod erfolgreich sein ist doch auch schon was! Also: „Dann Cheers, Eva!“
Nach fast fünf Minuten ist es in „Stand up for Art“ dann an der Zeit, sich „sofort das Leben von van Gogh ein wenig zusammenfassen“ zu lassen. Die Worte des kommenden Einspielers fassen auch. Die Bilder sprechen aber eine irritierend andere Sprache.
„Wir müssen über Ohren reden!„
Am Anfang sieht man zum Beispiel kein Bild von van Gogh, sondern eins vom „Mentalisten“ Vincent Raven – wegen des gleichen Vornamens! Verstehen Sie? Vincent – Vincent! Witzig, oder?
So geht es heiter weiter. Wenn es um van Goghs „Neurosen“ geht, sieht man Donald Trump (kicher), bei Depressionen den Influencer Fynn Kliemann mit – hoffentlich nicht belgischen! – Fritten in den Nasenlöchern. Als es um van Goghs Greatest „Hits“ aus seiner berühmten Irrenhausperiode geht, wird ein Auftritt der Kultband „Flippers“ eingespielt: „Wir sagen: Dankeschön, 40 Jahre die Flippers“. Man muss die Zeit ja irgendwie rumkriegen.
Und beim Satz „Paris ist teuer, dreckig und irgendwie nicht besonders sexy“ sieht man – Achtung, Schenkelklopfer! – Paris Hilton.
Als die Frage nach dem Zerwürfnis von van Gogh und Gaugin in ihrer „Männer-WG“ in Arles aufkommt, sieht man eine versiffte WG-Küche (Symbolbild für die Antwort: „wahrscheinlich die üblichen Gründe“). Und als behauptet wird, van Gogh habe sich „aus Trotz“ am Ohr „rumgeschnibbelt“, ruft eine erzürnte Lee bei der Trennung von Tic Tac Toe: „Wenn wir Freunde wären, dann würdest du so einen Scheiß überhaupt nicht machen!“
Andere Anbiederungen an die anvisierte Zielgruppe („Vincent van Gogh war ein echter Emo, Jahrzehnte [sic!] bevor süße Emo-Boys zahllose Herzen brachen“) lassen wir mal außen vor.
Eine stilechte Van-Gogh-Situation!
Danach sitzen die Moderatorin und ihre Gästin in irgendeinem Raum von „Van Gogh Alive“, der mit projizierten Porträts des Künstlers zugepflastert ist, am gedeckten Tisch. Warum? Na klar: „Van Gogh hat mal gesagt: Wer gut arbeitet, muss auch gut essen. Deshalb sind wir hier in einer stilechten Van-Gogh-Situation, in der wir uns befinden. Greif bitte zu. Ich werde das auch machen“.
Tatsächlich greifen beide zu. Wir können es beim Käse sehen.
Und, fragt die Moderatorin kauend, „kannst du schon einen ersten Eindruck teilen mit uns, Eva?“. Natürlich kann Eva teilen! In dem mit Projektionen von Porträts van Goghs zugepflasterten Raum wirke es so, als habe van Gogh „nur sich selbst gemalt“, ist Evas erster Eindruck.
Stimmt, so wirkt es hier im Raum, jetzt sehen wir es auch! Und was folgert Eva daraus? „Ich habe gerade als Allererstes daran gedacht, dass die Eltern-Generation sich immer drüber mokiert, dass wir ständig Selfies machen – aber was ist DAS bitte? Und das braucht ja auch noch viel länger! Das ist ein gutes Argument gegen diese ganze Selfie-Kritik.“ Und die Moderatorin so: „Absolut“.
Darum geht es ja: Immer sagen, was man als Allererstes denkt. Und bloß nicht nochmal drüber nachdenken.
„Hat das für dich was Narzisstisches?„
Dann kommt ein Hoffnung machender Satz. Die Moderatorin fragt mit unglaublich forschem, fast investigativem Blick: „Hat das für dich was Narzisstisches? Oder wie würdest du das einschätzen?“ Hier ist die Psychologin in uns allen gefragt! Die sympathische Gästin beweist, dass sie selbstständig denken kann. Die Porträts sähen für sie eher aus wie von „jemandem, der auf der Suche nach was ist.“
Es ist ein Moment, in dem die Sendung zu kippen, Substanz zu gewinnen droht. Wenn jetzt jemand den Fehler macht nachzuhaken, was da passieren kann! Zum Glück kommt dann aber der erste Comedian.
Ich hab‘ noch Peperoni in den Ohren – äh: in den Augen – aus Pizza Hawaii
Insgesamt sind es zwei Comedians, die kommen. Laut Vorspann von „Stand up for Art“ gehören sie zu den „lustigsten Comedy-Talents Deutschlands“. In der Sendung agieren sie stilecht vor Publikum. Die beiden Auftritte können wir getrost zusammenfassen, denn ihrem Wesen nach sind beide quasi identisch.
Wie viele anderen Comedians haben auch die Beiden die Angewohnheit, über ihre eigenen Witze zu lachen – was in unseren Augen per se ein schlechtes Zeichen ist. Und: Beide nutzen van Goghs Leben eher so als Anschubfinanzierung, um ihr Programm abzuspulen: „Bei den Gerichten meines Mannes ist es wie bei den Werken von van Gogh, als er noch gelebt hat: Die will keiner.“
Stimmt zwar wieder nicht (also im Fall von van Gogh!), ist aber immer einen Lacher wert! Van Gogh und mein Mann: zwei Looser unter sich. Danach geht es dann nur noch um die keiner haben wollenden Gerichte des Mannes, der noch lebt.
Vincent krieg kein‘ hoch wenn er ans Schreiben denkt (Symboltext)
So geht es heiter weiter. Wenn abgeschnittene Ohren ins Spiel kommen, sind abgeschnittene Finger und ein abgeschnittener „Pimmel“ nicht weit: laut Comedian Dinge, die der, der von van Gogh lernt, braucht, um als Mann garantiert Erfolg – in diesem Fall: mit einem Roman – zu haben. Und vielleicht sogar – als Mann – einen Lacher von den Radikalfeministinnen im Saal zu ergattern? Wer weiß.
Ansonsten geht es um die bekanntlich ach so böse Kirche, um den bekanntlich allgegenwärtigen Inzest auf dem Lande, um klassischen Beziehungsstress, um genussvolles vs. schlingendes Essen („ich brauch auch schon mal ’ne halbe Stunde für ’ne Olive – und mein Mann FRISST“), Peperonisaft im Auge und den allseits bekannten Dilettantismus von Till Schweiger. Das Übliche eben.
Es geht halt nur nicht um van Gogh.
Ach doch, es geht natürlich um van Gogh, wir hatten es nur vergessen! Zum Beispiel, als es um die allseits bekannte Sensationsheischerei der Presse bei der Bewerfung der „Sonnenblumen“ durch Klimaaktivist*innen mit Tomatensuppe geht: „Da waren die Medien – im Gegensatz zu van Gogh – ganz Ohr.“ Brüller.
O temopra, o Ohres!
Im weiteren Verlauf entspinnt sich aus der Biografie des Malers ein Binsenstrauß aus Lebensweisheit: „Es gibt Eltern, die sind bereit, alles für dich zu tun, außer dir zu erlauben, du selbst zu sein.“ Oder: „Kochen ist ja ein bisschen so wie malen.“ Oder „Ohne tiefen Schmerz keine gute Kunst“. Oder, als Anlagetipp für Philanthropen: „Kauft Kunst von den Lebenden. Die Toten können mit dem Geld nichts mehr anfangen.“
Und das auf dem Boden kauernde Publikum tut das, wozu es eingeladen wurde: Es liegt klatschend und lachend unter den nicht vorhandenen Stühlen. „Vielen Dank. Ihr wart phantastisch! DankeschÖÖÖÖn.“
Van Gogh hat ja mal gesagt: „Wer gut arbeitet, muss auch lekker spielen“. Also machen die Moderatorin und die Gästin in „Stand up for Art“ auch lustige Spielchen. In einem geht es darum zu erraten, welches von vier Bildern van Gogh in einem Brief an seinen Bruder Theo beschrieben hat. Hinweise sind „Nacht“ und „farbenprächtig“. Unter den vier vorgeschlagenen Gemälden ist nur ein Farbenprächtiges dabei. Man will niemanden blamieren.
Die Gästin liegt trotzdem daneben. Dummerweise ist sie zu klug für den eindeutigen Hinweis, weil sie um Ecken denken und sich wohl nicht vorstellen kann, dass es so banal ist, wie es ist: ein bekanntes Phänomen bei Quiz-Shows, wo man mit Unwissenheit eher als mit Intelligenz die 500.000-Euro-Frage knackt. Die Gästin entscheidet sich für die berühmten „Kartoffelesser“ (1885), die die Moderatorin vorher als düstre „Kneipen- oder Wohnzimmerszene“ identifiziert hat. Richtig wäre aber „Das Nachtcafé“ (1888) gewesen – für die Moderatorin auch eher so eine „Wohnzimmerszene“.
„Ich finde das Bild ehrlich gesagt überhaupt nicht soooo schlecht“, sagt die Moderatorin, um sich als wahre Könnerin des eleganten Übergangs zu entpuppen: „im Gegensatz leider zum restlichen Leben von van Gogh“. Chapeau. Und Danke für die Ehrlichkeit.
„Vom Ohr her – schick!„
Später spielt die Moderatorin in Frankfurt mit der sich auf van Goghs Bett in Arles flätzenden Gästin das Spiel „Ein Ding gehört nicht ins Schlafzimmer – findest du es?“. Erster Einfall der Gästin: der Cocktail der Moderatorin? Unser erster Einfall: die Moderatorin und die Gästin? Beides richtig, aber, leider, falsch.
Die Gästin findet das Ding schließlich doch: Es ist ein mannshohes (also tatsächlich unübersehbares) weißes Ohr, an dem viele bunte Fotos von anderen Ohren kleben. Die Moderatorin klärt auf, dass es sich bei den Ohren um „berühmte Ohren“ von Prominenten und Künstler*innen handle, die im Original aber immer noch an diesen Prominenten dranhängen müssen, denn sonst machte das nächste Spiel – „Errate den Prominenten, der am Ohr auf dem Foto dranhängt!“ – gar keinen Sinn.
„Friends, Romans, countrymen, lend me your ears!“
Gehört das fleischige Ohrläppchen auf diesem Foto nicht an Mark Zuckerberg? Oder vielleicht doch eher an Evas Nachbarn? Nein, leider beides falsch! Es ist Teils des Ohrs von CDU-Zerstörer Rezo, schade! War aber auch knifflig. Allerdings: Ja, das andere Ohr ist das von Angela Merkel, die für die Moderatorin „immer noch unsere Kanzlerin“ ist – oder, wie das seit dem Tod von Lady Dis Ohren heißt: „Kanzlerin der Herzen“. Herzlichen Glückwunsch.
Und nein, das ist jetzt nicht das Ohr von Hermine Granger aus „Harry Potter“, wie die Moderatorin zunächst vermutet – die HAT ja als Romanfigur auch gar nicht so wirklich fotografierbare Ohren –, sondern – tataaaa: das linke Ohr von „Deutschlands bester Journalistin und Moderatorin“, sagt die Moderatorin, also: das Ohr der Gästin selbst! Die hat‘s natürlich gleich erkannt, allerdings nicht am unwulstigen Läppchen, sondern an der Frisur!
Und die Moderatorin dann mit diesem Hinweis auch. Denn, merke: „Eher macht man die Leute an den Haaren fest als an den Ohren.“ Ein Satz für die Aphorismensammlung des Friseur*innen-Innung Oer-Erkenschwick.
Uuuuuund? Kann Eva denn schon ein Fazit ziehen, wie van Gogh so war, „als Mensch, als Künstler“, nach diesen unglaublich informativen 30 Minuten? Natürlich kann sie! Schließlich hat sie ja schon im kratzigen Bett van Goghs gelegen, das verbindet! Und jetzt steht sie auch noch mit der Moderatorin im seinem müffelnden Sonnenblumenfeld aus Plastiksonnenblumen – oder, wie es die Moderatorin sagen würde: „schon wieder richtig in van Goghs Kunstwerk drin“.
„Also, ich glaube, wir haben jemanden kennengelernt, der es sich selber nicht leicht gemacht hat im Leben“, sagt die sympathische und ja eben gar nicht dumme Gästin. „Der sehr getrieben, sehr umgetrieben von Selbstzweifeln und selbstzerstörerischen Gedanken war – bei gleichzeitig ja sehr viel Schönheit, die er produziert hat. Das finde ich so einen verrückten Widerspruch.“
Humor ist, wenn man anders lacht
Ja, so einen Menschen hätten wir auch gerne kennengelernt in „Stand up for Art“. Noch lieber hätten wir ein wenig erfahren über seine Kunst, die noch mehr als van Gogh nicht stattfand. Was sie ausmacht, warum sie berührt, vielleicht sogar wichtig ist, uns alle immer noch angeht. Gern auch über ihre Schönheit. Gern auch anders, frischer, jünger als in anderen Formaten. Und gern auch mit Humor.
Aber dann vielleicht doch mit einem Humor, der van Gogh und sein Werk nicht links liegen lässt, sondern tatsächlich abholt, ernst nimmt. Lebendig, nicht als alberner Leichenschmaus. Das ist nämlich kein verrückter Widerspruch. Das kann man machen! Das wäre, wie schon andernorts gesagt, unser persönlicher Lieblingstraum.
Stattdessen haben wir vier Menschen kennengelernt, die über weite Strecken lieber sich selbst betrachtet haben als van Gogh und seine grandiosen Bilder. Die zeigen wollten, wie lustig sie sind, ohne es (unsere Meinung!) auch nur im Ansatz zu sein. Und für die Kunst offenbar nicht mehr ist als eine Steilvorlage für flache Witze und alberne Spielchen.
Für uns war „Stand up for Art“ ein verstörender Selfie-Spuk. Unsere Einschätzung? DAS ist Narzissmus, medialer nämlich, wenn auch noch nicht im Endstadium. Und auf van Goghs Kosten. Wir finden, dass man so mit Kunst nicht umgehen kann. Außer natürlich, man meint, sie sei nicht mehr als eine gerahmte Plastiktüte an der Wand.
Wie die anderen Folgen „Stand up for Art“ so geraten sind, werden wir wohl nie erfahren. Diese eine hat uns gereicht. Wenn das die Zukunft von Kunstvermittlung im Fernsehen sein soll, und wenn man die Jugend für die Kunst nur ködern kann, indem man van Gogh ein Ohr abkaut – dann gute Nachtcafé Marie. (06.03.2023)
Na, Lust bekommen auf van Gogh? Hier gibt’s die ganze Sendung:
Website von „Stand up for Art“
Website von „Van Gogh Alive“
Anmerkung für alle, die diesen Beitrag für ihr populistisches Öffentlich-Rechtliche-Bashing nutzen wollen: Wir sind froh, dass es die Öffentlich-Rechtlichen gibt. Sehr viele Journalist*innen leisten hervorragende Arbeit. Wer die Öffentlich-Rechtlichen abschaffen will, will die Demokratie abschaffen. Wer Demokratie wichtig findet, muss dafür sorgen, dass die Öffentlich-Rechtlichen besser werden. Unsere Meinung.
Schöne Rezension, die zeigt, dass unterhaltsame Wissensvermittlung gelingen kann. Weiter so!
Toller Text, danke!
Uiuiui, da habt ihr euch aber geärgert. Und vielleicht zu viel Lebenszeit in die Rezension gesteckt? Aber vielleicht war das nötig um den Ärger abzuarbeiten. Ich habe auf jeden Fall keine Lust, mir die Sendung anzuschauen. 😉
Verordnet euch einen Absinth für die Nerven!
Antwort KunstArztPraxis: Eine unserer vielen Lebensaufgaben besteht ja in der Suche nach alternativen Formen der Kunstbetrachtung. Lob & Tadel gehen da Hand in Hand. Insofern ist diesbezüglich Lebenszeit nie verplempert. Zur Selbstmedikation schon on the way to the next absinth bar, Ihre KunstArztPraxis
großartig – dieser Text ist wahrscheinlich das beste, was die kommentierte Sendung hervorgebracht hat
Liebe Kunstärzte,
I feel you! Habe kurz reingezappt und verstehe genau, was ihr meint. Grundsätzlich muss ich sagen, dass ich die Idee gut finde, mal mit anderen Perspektiven auf die Kunst zu schauen. Und das darf auch gerne mal niederschwellig sein und mit Augenzwinkern und flapsig. Ich mag flapsig. Das Problem – und ich sehe das übrigens bei vielen Beispielen, wo man museumsseits mit Comedians kooperiert – es muss gut sein. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn ein Gag nicht sitzt, einfach platt daneben gehauen wird. Gag-Schreiber*innen werden das bestätigen: um gutes Timing und einen zündenden Witz zu platzieren, muss man präzise sein, die Essenz von dem, was man ausdrücken will, gut herausgearbeitet haben und dann: Bäm! Aber mal eben so mit halber Kraft bzw. eigentlich null Interesse – nee, das klappt nicht. Schwierig kann es auch werden, wenn man keine Ahnung hat, wo man steht zwischen Kunstvermittlung und Unterhaltung. Das stelle ich mir auch total schwierig vor. Gleichwohl begrüße ich jedes Experiment und es kann ruhig mehr davon geben. Noch habe ich aber nichts gefunden, was richtig gut ist! Aber wenn sich mehr trauen, da mal mit richtig viel Elan und Professionalität ranzugehen – vielleicht wird’s was. Danke auf jeden Fall für euren Beitrag, der den Finger in ein paar Wunden legt.