Sei Werkzeug Deiner selbst! Cinthia Marcelle im Marta
Wie ist soziale Aktion jenseits eingefahrener Ordnungen möglich? Um zu Lösungen anzuregen, setzt Cinthia Marcelle den Besuchern im Marta Herford Grenzen – um sie gleichzeitig zu überwinden. Es ist Marcelles erste Überblicksschau in Deutschland. Und ein Raumerlebnis.
Die so genannten Klimakleber haben es uns auf der Straße in den letzten Monaten deutlich vor Augen geführt: Um Menschen so richtig auf die Barrikaden zu treiben, muss man ihrem alltäglichen Handeln Grenzen setzen – zum Beispiel mit einer Barrikade.
Da wurden die festgeklebten Hände der meist jungen Menschen von vor Wut rasenden, da zum Stillstand gebrachten Autofahrern vom Asphalt gerissen, einem Aktivisten sogar über den Fuß gebrettert. Es war Einigen halt wichtiger, möglichst schnell ans Ziel zu kommen, sprich: ein Stück näher an den Weltuntergang, als über eingefahrene Gewohnheiten nachzudenken.
Bei Grün rot sehen
Ein ähnliches, wenn auch weniger brutales Spiel aus Aktion und Reaktion kann man momentan im Marta Herford verfolgen. Wenn man Cinthia Marcelles Videoarbeit “Confronto” (2005) betrachtet, könnte man fast meinen, die “Letzte Generation” hätte sich ihre Störungstaten bei der brasilianischen Künstlerin abgeschaut. Und das Ganze in Aufwand und Botschaft dabei natürlich deutlich reduziert.
Bei “Confronto” sind es Jongleur*innen mit Feuerfackeln, die sich zu den Rotphasen einer Ampel jeweils in Zweier-, Vierer-, Sechser- und Achtergruppen auf einer Kreuzung positionieren. Wenn alle acht Artist*innen auf der Kreuzung stehen, jonglieren sie auch während der Grünphase weiter. Der Zorn der blockierten Autofahrer entlädt sich hier in einem Hubkonzert.
Dort blanke Verzweiflung, hier reflexive Kunst
Den Aktionen der Aktivist*innen und der Artist*innen ist gemeinsam, dass bei den Ausgebremsten vor Ort der Verstand eher aussetzte: Denken entsteht, im Idealfall, eben oft erst in der Nachbetrachtung der Bilder von eher Unbeteiligten in einem meinungsneutralen Reflexionsraum – in der “Tagesschau”, oder eben, noch viel besser, im Museum.
Wobei die “Botschaft” von Cinthia Marcelle natürlich eine viel abstraktere ist. Schließlich handelt es sich bei “Confronto” nicht um blanke Verzweiflung angesichts der Klimakatastrophe, sondern um doppelbödige Kunst.
Es geht viel um Be- und Entgrenzungen bei Cinthia Marcelle, um das Hinterfragen sozialer Gewohnheiten, hierarchischer Strukturen, von Normen, etablierten Mustern und erstarrten Ordnungen. Und es geht darum, wie sich all dies mit den Mitteln der Kunst – durchaus auch als Modell für kollektives, aber auch für individuelles Handeln – hinterfragen lässt.
So wie in der Videoarbeit “Nau/Now” (2017) zum Beispiel: eine Gemeinschaftsproduktion mit dem Künstler Tiago Mata Machado für den brasilianischen Pavillon der 57. Biennale von Venedig, in der Bauarbeiter*innen ein Dach gemeinsam abdecken – und damit nicht nur unsere Sehgewohnheiten irritieren, sondern auch ihr eigentliches Tun durch “sinnfreie” Taten ad absurdum führen.
Zumindest für uns auch ein subtiler Hinweis darauf, dass das Haus unserer Demokratie vom Keller bis zum Dach nur durch die kluge (und möglichst gleichberechtigte) Arbeit Aller funktionieren kann.
Am Eindringlichsten und Gewaltigsten gelingt Marcelles Plan mit der Installation “A família em desordem” (2023), die aus zwei Teilen besteht. Im ersten Teil versperrt eine akkurat gestapelte Barrikade aus Ziegeln, mit Erde gefüllten Fässern, Tafelkreide, Steinen, Kreppband, Baumwollstoff, Schnürsenkeln und Streichholzschachteln den Besucher*innen den Durchgang durch einen Raum.
Im zweiten Teil, im hohen Dom des Marta, hat sich die Ordnung in vermeintliches Chaos aufgelöst.
Ein bisschen sind wir neidisch
Es ist das Ergebnis eines Experiments, bei dem Kunstvermittler*innen und Mitarbeiter*innen des Museums aufgefordert waren, die exakt gleich aufgebaute (und auf einem Teppich mit den Maßen des anderen Raums drapierte) Barrikade über die Dauer von sechs Tagen aufzulösen und den Dom mit besagten Materialien – ohne Einflussnahme der Künstlerin und ohne Werkzeuge – in Besitz zu nehmen.
Wobei Mancher der Beteiligten offenbar ungeahnte Fähigkeiten – zum Beispiel als Lassowerfer – entwickelt haben muss: Das Werk wächst nämlich meterhoch in die Lüfte, und Leitern oder Hebebühnen waren ja niemandem erlaubt.
Es muss eine grandiose, teils kollektive, teils auch einsame Erfahrung gewesen sein. Ein bisschen sind wir Drei von der KunstArztPraxis darauf neidisch.
Nirgends ist alles im Lot
Für uns ergab sich beim Durchschreiten dieses Raumerlebnisses immerhin ein bemerkenswerter Effekt: Überall stießen wir auf kleine, neue Ordnungen, ja: Wir suchten schließlich intensiv danach. Und wir waren überrascht, wie viel Unordentliches unsere sensibilisierten Augen schließlich selbst in der intakten Barrikade entdeckten.
Es ist halt auch in einer scheinbar perfekten Stapelung oder Faltung wie der von “A família em desordem” nicht immer alles im Lot. Das gilt sogar für soziale Gefüge wie Demokratien. Oder eben für Familien.
Für all diese in “Ungehorsame Werkzeuge” transportierten Ideen finden sich in der Schau im Marta zwei zauberhafte, da in ihrer Poesie sofort einleuchtende, Skulptur gewordene Bilder:
“Zaun Trugbild (300 Pfähle)” (2005/2023) besteht aus umgedrehten und an ihrer Spitze mit Erde versehenen Palisaden, die vielleicht einmal einen – jetzt befreiten – Raum umgrenzt haben könnten. Aber wie war der wohl beschaffen? Bei uns jedenfalls lief die Denkmaschine beim Anblick auf Hochtouren.
Wozu Schraubenzieher, Hämmer, Hacken?
Und für “in-zwischen-für-uns” (2015/2023) hat Marcelle Werkzeuge mit Bandagen aus Schnürsenkeln gerastert in den neuen Rahmen ihrer Kunst überführt. Bei dem, worum es ihr geht, sind halt die Menschen nicht zuletzt die Werkzeuge, die Materialien ihrer selbst. Wozu da noch Schraubenzieher, Hämmer oder Hacken?
So jedenfalls haben wir uns das gedacht. Aber man kann es natürlich auch ganz anders sehen. Wie? Bitte finden Sie es selbst heraus.
Es ist ein hübscher kuratorischer Einfall, Marcelles trügerisches Zaunbild justament an jener Stelle an die von Frank Gehry gebogene Wand zu lehnen, an der Pedro Reyes im letzten Jahr seine “Palas por Pistolas” (2008ff.) platziert hatte: Um dieses Werk zu vollenden, hatte der Mexikaner Landsleute zum Tausch ihrer Waffen gegen Haushaltsgeräte aufgerufen – und aus jeder der 1.527 dergestalt zusammengesammelten Waffen das Metallblatt einer Schaufel gießen lassen, mit denen dann vor Schulen und Museen 1.527 Bäume gepflanzt worden sind.
Im Grunde geht es nämlich sowohl Marcelle als auch Reyes darum, dem Kunstwerk als Soziale Plastik™ wieder Bedeutung für ein neues Miteinander zu verleihen. Reyes wie Marcelle haben hierfür auf ihre ganz eigene Weise wundervolle Bilder gefunden. Joseph Beuys hätte das sicher gelikt.
Poesie des Perspektivenwechsels
Wir können “Ungehorsame Werkzeuge” also rundherum empfehlen. Unserer Meinung nach sollte Jedermann die Ausstellung zudem als Denksportaufgabe begreifen, um eigene eingefahrene Handlungsmuster zu hinterfragen und einfach mal die Perspektive zu wechseln.
So wie bei den Aktionen der so genannten Klimakleber im Grunde auch. (13.03.2023)
“Cinthia Marcelle. Ungehorsame Werkzeuge” ist noch bis zum 29. Mai 2023 im Marta Herford zu sehen.
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