Nach der Einschulung haben einige Kinder größere Schwierigkeiten als andere, neue Freunde zu finden. Der Grund: Sie können die Gesichter ihrer Klassenkameraden nicht auseinanderhalten. An der Universität Münster wird das Phänomen erforscht.
Die sechsjährige Ann-Marie ist clever. Schon nach dem ersten Schultag weiß sie genau, woran sie ihre Klassenlehrerin morgen wiedererkennen kann. “Frau Krüger hat eine blaue Brosche”, verkündet Ann-Marie im Gespräch mit Martina Grüter vom Institut für Humangenetik der Uni Münster. “Sie hat ein grünes Kleid und lange Haare.”
Nach ein paar weiteren Fragen ist Grüter klar: Wenn Ann-Maries Lehrerin morgen mit anderem Schmuck zur Schule kommt, die Kleidung oder die Frisur gewechselt hat, dann ist sie in den Augen des kleinen Mädchens wieder eine fremde Frau.
Manche Kinder sehen Gesichter, ohne sie zu erkennen
Für Ann-Marie ist Frau Krüger ein Mensch ohne eigenes Gesicht. Die Erstklässlerin leidet unter einer angeborenen Wahrnehmungsstörung, die es ihr unmöglich macht, Gesichter im Gedächtnis abzuspeichern und Personen zuzuordnen. 1000 Schüler und Studenten aus Münster und Umgebung hat Grüter befragt, etwa zwei Prozent zeigten Symptome der “Gesichtsblindheit” (Prosopagnosie), Jungen wie Mädchen gleichermaßen.
Ein erschreckendes Ergebnis. Denn „Gesichtblinde“ haben es schwer, unter Klassenkameraden Freunde zu finden, weil sie sie auf dem Schulhof einfach nicht wiedererkennen. Im Unterricht gelten sie als arrogant und desinteressiert, da sie dem Lehrer nicht in die Augen blicken – eben, weil es dort für sie nichts Interessantes zu entdecken gibt.
Viele werden später im Beruf Probleme haben, weil ihnen nach der Kaffeepause im Konferenzraum einfach nicht mehr einfällt, wer der gleich aussehenden Anzugträger eigentlich ihr Vorgesetzter ist.
“Bist du wirklich mein Papa?“
“Eltern bemerken oftmals gar nicht, dass ihr Kind Gesichter nicht erkennen kann”, sagt Grüter, deren Mann ebenfalls unter der Wahrnehmungsstörung leidet und zahlreiche Artikel über das Phänomen veröffentlicht hat. “Die Kinder entwickeln eben andere Methoden, um Menschen auseinander zu halten.”
Kleidung, Frisur, Gang oder Mimik sind solche Erkennungsmerkmale. Wenn sich ein “gesichtsblindes” Kind auf einem Klassenfoto wiedererkennt, dann weiß es vielleicht, wo es bei der Aufnahme gestanden hat.
Aber es gibt Alarmsignale. Nicht alle sind so deutlich wie die Äußerung des Jungen, der seinen Vater im Schwimmbad nach einer Extra-Runde im Becken mit der Frage “Bist du wirklich mein Papa?” überraschte, weil dieser bis zum Hals im Wasser steckte.
“Manche Babys fangen an zu schreien, wenn ihre Mutter mit einem Handtuch um die nassen Haare aus der Dusche kommt”, sagt Grüter. “Andere klammern sich in Menschengruppen verzweifelt an die Bezugsperson, um sie im Gewimmel nicht zu verlieren.” Die Häufigkeit der Störung hat die Wissenschaftlerin, die im Internet ein Forum für Betroffene betreibt, selbst überrascht.
Und noch etwas hat sie herausgefunden: Prosopagnosie ist genetisch bedingt. Wenn ein Kind “gesichtsblind” ist, dann hat es dies mit Sicherheit von einem Elternteil geerbt. Nach dem verantwortlichen Gen wird nun in Münster per DNA-Analyse fieberhaft gesucht.
Lehrer können helfen
“Noch ist Prosopagnosie nicht heilbar”, sagt Grüter. “Aber wenn man sie erkannt hat, können Lehrer die Eingliederung der Betroffenen in die Klassengemeinschaft gezielt unterstützen.” Namensspiele sind eine solche Möglichkeit, oder Fotos der Mitschüler mit Tiersymbolen, die man sich einprägen und zuordnen kann. Eine Broschüre Grüters für Eltern und Pädagogen gibt da Rat.
“In der Regel brauchen betroffene Kinder trotzdem ein halbes Jahr, um alle Klassenkameraden auseinander zu halten”, gibt die Medizinerin zu bedenken: Das Lernen von Gesichtern ist die härteste Hausaufgabe der kleinen Schulanfänger.
Sechs Erstklässler und ihre Lehrer hat Grüter auf die Einschulung am Montag (15.09.03) vorbereitet, und schon jetzt zeigen sich erste Erfolge. “Eine Lehrerin rief bei mir an und sagte, das Kind sei im Merken der Namen schneller als sie selbst.”
Zuerst erschienen 2003 auf wdr.de