Genügendes Hiersein: Ort & Ich im Kölner Kolumba
Diesmal haben wir lange gezögert, ob wir die Jahresausstellung im Kolumba wirklich besuchen sollten. Zu viel Mittelalter und zu wenig Gegenwart schien uns am Start. Wir waren trotzdem da. Und haben nicht nur etwas über die Gegenwart des Mittelalters erfahren, sondern sogar über uns.
In gewisser Weise sind wir KunstArztPraxis-Ärzte ja Gespenster. Unsere Körper bestehen zu 70 Prozent aus Wasser und zu 30 Prozent aus Gedanken. Statt einer Wohnung haben wir ein Postfach. Und unsere KunstArztPraxis ist eine – wenn auch stilvoll durchdesignte! – URL.
In dieser URL irrlichtern wir rastlos durch die virtuellen Wartezimmer wie die verlorenen Seelen von Lothar Baumgarten durch die Wiedertäufer-Käfige an der Münsteraner Lambertikirche – nur eben ohne reale Irrlicht-WG als Zufluchtsort.
Aber hin und wieder finden wir in der analogen Wirklichkeit doch Regionen, die versprechen, uns für ein paar Stunden eine Art künstliche Heimat zu sein. Dann materialisieren sich unsere Bits & Bites zu konkreten Entitäten und strömen in echten Schuhen stante pede dorthin aus.
An manchen Orten fühlen wir uns wohl, an anderen gar nicht, an den wenigsten immer. Das sind die Orte, die uns glücklich machen! Unsere Seelen gesunden lassen! Uns mit der Welt da draußen versöhnen helfen.
Ein solcher Ort ist das Kolumba. Allein schon das Treppenhaus ist himmlisch.
Gerade ist im Kolumba eine Ausstellung zu sehen, die sich ausgerechnet mit selig machenden Orten und ihrem Verhältnis zum Ich – oder, in unserem Fall: zum Wir – befasst. „Making being here enough“ lautet ihr Titel, und diese von einem Bild Roni Horns stammende, in unseren Ohren irgendwie buddhistisch klingende Verheißung scheint uns auf die auratischen Leiber geschrieben: Genügendes Hiersein wäre auch unsere Lieblingsutopie.
Im Hier und Jetzt in Kunst versenken
„Wie nehmen wir uns – bewusst oder unbewusst – an Orten wahr und was machen Orte aus uns? Wie erinnern wir uns an Orte? Wie gehen wir mit Orten um, die wir nicht erreichen können? Spielen diese Orte für unsere Vorstellungskraft eine Rolle? Sind Orte, wenn wir sie verlassen, vergangen? Was geschieht mit ihnen, wenn sie nach ihrem Untergang von neuen Geschichten überschrieben werden?“ Das sind so Fragen, die sich die Ausstellung stellt.
Sie stehen im begleitenden „Kolumba-Taschenbuch“ zur Schau, in dem sich die Text-Werk-Zuordnungen wie immer über die Zahlen neben den Exponaten erschließen. Mehr gibt es an den Wänden nicht, aus gutem Grund: Man soll sich im Kolumba nämlich nicht im rückenschädigenden Lesen von Hinweistafeln verlieren, sondern zunächst im genügenden Hiersein der Kunst platzieren – um dann vielleicht später über die Lektüre, gern auch andernorts, tiefer einzutauchen.
Liebe Deine Stadt bitte bitte auf der Straße!
Das ist, wie immer, ziemlich schön. Und trotzdem: Uns gefällt längst nicht alles an & in dieser Jahresschau. Diese blinde Köln-Verliebtheit mit ihren Merchandising-Produkten zum Beispiel hätten wir weiterhin gern im regionalen Karneval verortet statt in Museum lokalisiert gesehen.
WIR müssen bei „Eine Stadt mit K“ aber sowieso immer an Karstadt denken. Deshalb sind wir da kein Maßstab.
Allerdings ist das Mittelalter unserer gespensterhaften Gegenwart über die Ausstellung wieder sehr viel näher gekommen. Auch bei uns geht es ja viel um die Materialisierung von Erinnerungen und Gefühlen und Subjekten an konkreten Orten. Und in diesem Punkt sind wir – Mittelalter, Gegenwart und KunstArztPraxis – schon zu Dritt.
Das ist uns im Kolumba plötzlich aufgegangen
Von dieser Warte aus betrachtet ist das Schweißtuch der Veronika nur eins Art Scanner-Fotografie des Christentums, die eine todgeweihte Person, mystisch fixiert, von einem Ort zum anderen transportierbar macht.
Andere der im Kolumba zu sehenden, Acheiropoieta genannten, also nicht von Menschenhand gemachten, sondern auf unnatürliche Weise entstandenen „Wahren Bilder“ sind so etwas wie göttliche KI-Kunst von früher. Und das in der Schau immer wieder aufploppende Phänomen der Translokation oder „Entrückung“ – also der wundersamen Ortsveränderung eines Menschen etwa bei der Himmelfahrt – ist ja wohl die Teleportation (vulgo: das Beamen) vor der Neuzeit, sprich: in heilig.
Dieser ganze, für uns ohnehin teils mysteriöse Technik-Kult unserer gottlosen Gegenwart hatte in den Religionen von damals noch einen realen Ort. Mystische Wurzeln. Die virtuellen Phantasien von heute finden in den spirituellen Phantastereien von ehedem ihre Vorläufer.
Das ist uns im Kolumba plötzlich aufgegangen.
Natürlich haben auch wir Irrlichter aus der KunstArztPraxis wieder ein Lieblingswerk in der Ausstellung. Eigentlich ist es ein Projekt, das wir schon seit Jahren verfolgen – und ausgerechnet das steht gar nicht vor Ort in Köln, sondern da, wo auch wir bisweilen im Postfach wohnen, nämlich am Südpol!
Um zumindest eines dieser beiden Geheimnisse zu lüften:
Beim Kunstwerk handelt es sich um eine mit rund 600 Büchern ausgestattete Bibliothek, die der Kölner Künstler Lutz Fritsch mit ihren Kirschholz-Regalen in einem grünen Container rund 100 Meter von der Neumayer-Station des Alfred-Wegener-Instituts entfernt für die dort überwinternden Wissenschaftler*innen und Techniker*innen ins Ewige Eis gestellt hat.
In Köln ist dieses fulminante Projekt mit Fotos, Videos und – ein kuratorisch besonders hübscher Einfall! – in Form der originalen Transportkiste für den Lesetisch der antarktischen Bibliothek präsent. In letzterer sind im Kolumba nun Kunstwerke verborgen, die während den beiden Expeditionen Lutz Fritschs zur Neumayer-Station 1994/95 und 2004/05 entstanden sind.
In Köln will die Stadtpolitik dem Künstler, namentlich seiner „Standortmitte“ und auch ein wenig seinem „Leuchtturm“, gerade zwei luftige Orte rauben: Bornierten Kleingeistern hat Verkehrsfluss halt immer Vorfahrt vor Kunst. Am Südpol behält Fritschs tolle Arbeit aber hoffentlich für immer ihren Platz.
Die „Bibliothek im Eis“ nämlich wäre auch so ein Ort, an dem wir drei Gespenster von der KunstArztPraxis uns gerne einmal materialisieren würden. Bis dahin reicht uns das versöhnende Hiersein im Kolumba als Sehnsuchtsort erstmal aus. (05.06.2023)
Anmerkung: Vor ein paar Tagen waren wir auf Hausbesuch in Münster. Wir werden sicher noch berichten warum. ????????????
Unser Weg führte uns auch vorbei an der Lambertikirche. Dort ist es den drei irrlichternden Wiedertäufern offenbar doch noch gelungen, mittels einer Himmelsleiter aus ihrer Käfig-WG auszubrechen: siehe hierzu unser frei nach John Baldessari mit drei Helium-Ballons nachgestelltes Symbolbild als Beweisfoto rechts (die Himmelsleiter ist komplett unsymbolisch, vulgo: echt!).
Mögen die Gespenster der Wiedertäufer Frieden finden an einem selig machenden Ort in den Lüften.
In diesem Sinne: Genügendes Hiersein allerseits.
Ihre KunstArztPraxis
Die Ausstellung „Making being here enough. Ort & Subjekt“ ist noch bis zum 14. August 2023 im Kolumba Köln zu sehen. Das begleitende „Kolumba-Taschenbuch“ gibt es wie immer kostenfrei dazu.
Das Kölner Kolumba in der KunstArztPraxis:
Wegen Putin: Kolumba statt Kippenberger (2021/22)
Schönheits-OPs (2): Das Kölner Kolumba (2020/21)
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