„Surreale Tierwesen“ in Brühl: Zoo mit Zerberbus
Lechzende Hundeschnauzenhüte, traumverlorene Einhörner und Frauen mit Federarmen: Im Max Ernst Museum in Brühl wohnt gerade ein wahres Bestiarium aus Minotauren, Chimären und anderen hybriden Wesen. Das grausamste aller Geschöpfe hat es uns dabei besonders angetan.
Heute besuchen wir in Brühl den Zoo. Und staunen: In einem Glaskäfig hat das niedliche Bierhumpenhörchen von Meret Oppenheim sein Habitat errichtet, im Chambre séparée gleich vis-à-vis sonnen sich die Hühner einer rekonstruierten Installation von Marcel Duchamp im grünen Neonlicht. Und an der Wand mimt das eklig nackte Fötenfoto eines Gürteltiers von Dora Maar den King Ubu.
Letzteres sieht ziemlich merdre aus, passt in die Artenvielfalt dieser Menagerie mit ihrem Spektrum von Niedlichkeit bis Ekel aber gut hinein.
Abstoßend und anziehend zugleich
Über all dem wacht ein Geschöpf, gegen dessen animalische Präsenz selbst Tim Burtons einst an gleicher Stelle hausende Horrorfiguren echte Waisenknaben sind: „Le bouledogue de Maldoror“ (1965) des Kanadiers Jean Benoit. Dieses Geschöpf ist vielleicht das Schrecklichste, Brutalste und Faszinierendste, sprich: Provokanteste, dessen wir Tierärzte von der KunstArztPraxis bisher im Museum ansichtig geworden sind.
Es ist ein animalischer Automat zum Erzeugen extremer Emotionen, die uns urplötzlich aus der Fauna unseres Unbewussten anfallen. Abstoßend und anziehend zugleich. Oder, mit anderen Worten: die fast schon Fleisch gewordene Inkarnation der surrealistischen Idee.
Nach einem ersten verstörenden Auftritt bei der 11. Gruppenausstellung der Surrealisten 1965 versteckte sich die Kreatur mit ihrem rasierklingengrünen Glasscherbenrücken lange im Depot der berühmten Pinault Collection, und es ist dem allseits geschätzten detektivischen Spürsinn des Kurators Jürgen Pech zu verdanken, dass sie, aus dem Dunkel des Pariser Zwingers befreit, nun auf die Besucher der Brühler Schau losgelassen werden kann.
Warnung vor dem Hunde!
Dort verbreitet der gedrungene Höllenhund jetzt im grellen Scheinwerferlicht auf subtile Weise einen derart düstren Schrecken, dass wir ihm vor allem auch als Vertreter eines eher literarischen Kunstzugangs hier ein paar bewundernde Sätze widmen wollen (Entschuldigung!). Schließlich ist die Bestie nicht nur die Verkörperung surrealistischer Phantasien, sondern auch einer ebenso poetischen wie entsetzlichen Imagination.
Entsprungen ist der bullige Molosser nämlich Lautréamonts Prosagedicht „Die Gesänge des Maldoror“, das für Breton & Co eine Art apokalyptisch-satanische Bibel gewesen ist. Im dritten Gesang ist der Kampfhund Begleiter des teuflischen Titelhelden („mal d’oror“ = Vergolder des Bösen), mit dem zusammen er auf brutalste Weise ein junges Mädchen vergewaltigt. Und die blumige Sprache vergewaltigt in gewisser Weise mit.
Nach dem „Sittlichkeitsverbrechen“ wird das „delikate Kind“ von Maldoror als „Opferpriester“ mit einem „amerikanischen Taschenmesser“ zerstückelt. Danach bleibt das Mädchen als „ausgenommenes Huhn“ zurück.
Wir haben die „Gesänge“ aus Anlass der Ausstellung nach 20 Jahren wieder aus dem Giftschrank gezogen und die Passage nochmal angeschaut. Uns allen wurde beim Lesen echt anders.
Der Wunsch, Verbotenes zu tun
Gefertigt ist die Haut von Benoits einköpfigem Zerberus, der aufgrund seines Gewichts vermutlich hölzerne Eingeweide hat, übrigens aus dem Leder von Frauen- und Kinderhandschuhen, die der Künstler nach eigener Aussage auf Flohmärkten erstanden hat.
Aber sie könnte der Anmutung nach auch aus Bronze sein. Diese merkwürdige Ungewissheit zwingt dem Betrachter irgendwie den Wunsch auf, die Bestie aller Bedenken zum Trotz einmal anzufassen. Und das sorgt für den auch moralischen Schauer, im Museum etwas Verbotenes zu wollen.
Und dann ist da noch der riesige – und angeblich nach der Vorlage des Künstlerglieds modellierte – Phallus, dessen Double sich in der Bodenplatte spiegelt und dessen Hoden aus dem einzigen Herrenhandschuhpaar der Haut gefertigt sind. Dort sind neben dem Foltermesser und den welligen Haaren des Mädchens auch Ritzereien angebracht, die als weibliche Vagina ebenso gelesen werden könnten wie als Tätersamen oder Opferblut.
Und während wir dies niedertippen, wird uns schon wieder blümerant.
Brrrrrrrr!!!
Am Furchtbarste aber ist vielleicht, dass wir uns bei näherer Betrachtung im Spiegel des flachen Sockels irgendwie selbst reflektieren können – ob als unschuldiges Folterkind oder als hilfloser Zeuge oder als tierischer Täter, bleibt unklar.
Es kommt halt immer darauf an, wie wir uns selbst im Spiegel sehen – während uns die selbstbewusst-unterwürfige Kreatur mit ihrem wissend-stumpfen Blick aus leuchtend dunkelbraunen, André Bretons Augen nachempfundenen Sinnesorganen fixiert. Brrrrrrrr!!!
Allein schon die „Bouledogue de Maldoror“, die man mit dem Buch im Rücken durchaus auch moralisch lesen kann, lohnt also den Besuch des Brühler Zoos. Aber es gibt auch sonst noch viel zu sehen in „Surrealistische Tierwesen“: mit 140 Exponaten von 74 internationalen Künstler*innen ist die Schau gattungstechnisch dicht besiedelt. Und da ist, wie weiter oben ja schon angedeutet, längst nicht alles düster, schrecklich, höllengleich.
Es gibt zum Beispiel auch einen handzahm hechelnden Hundeschnauzenhut nebst niedlich weißem Hasenmützengegenüber. Es gibt eine paradiesische Picknickszene. Einen güldenen Vogelkrallentisch. Eine vielleicht ur-, vielleicht ungemütliche Pferdeliege. Und einen umarmungswerten Elefanten.
Es gibt einen Zauberfrosch, der keinen Schluckauf, sondern Lichtblick hat. Eine „moderne Eva“, die altersschwache It-Girls der Marke Kim Kardashian vorwegnimmt. Die berühmte Katze Giacomettis, deren Spindeldürre ganz wesenhaft nur katzenartiges Schleichen ist. Und natürlich – schließlich sind wir im Max Ernst Museum – Vögel, Vögel, Vögel.
Und dann leben in Brühl momentan auch noch zahllose zauberhafte Wesen, die der zufällig arrangierten Schwarmintelligenz verschiedener Surrealistenköpfe entwachsen sind. Auch darüber wacht die Bulldogge Maldorors. Und bisher hat sie unseres Wissens im Museum noch niemanden angefallen.
Das wollten wir zur Beruhigung zumindest nochmal kurz erwähnen. (01.11.2021)
„Surreale Tierwesen“ läuft noch bis zum 6. Februar 2022 im Max Brühl Museum in Brühl. Zur Ausstellung ist ein Augenschmauskatalog erschienen, der surrealistische Bilder und surrealistische Texte kombiniert. Also auch ein Mischwesen ist, das den Surrealisten sicher gefallen hätte. Uns mit unserem literarischen Kunstzugang gefällt’s.
Anmerkung: „Surreale Tierwesen“ ist die letzte Ausstellung des verdienstvollen und 2019 gemeinsam mit Friederike Vosskamp für die Ausstellung „Ruth Marten. Dream Lover“ samt Katalog mit dem Justus Bier Preis ausgezeichneten Kurators Jürgen Pech in Brühl. Er geht in Rente. Seinem allseits geschätzten detektivischen Gespür (und seiner Großzügigkeit) verdanken die Ruth-Marten-Sammler von der KunstArztPraxis den Besitz von Martens eigentlich verschollen geglaubter „Histoire Un-Naturelle“. Dafür werden wir Herrn Pech auf ewig dankbar sein.
Viel Glück, Herr Pech! Und hoffentlich auf bald.
Der Kunstarzt hat die beste Medizin gegen das kulturelle Einerlei. Hintersinnige Texte und herrliche Photographien. Jeder Montag steht ein Pflichtbesuch in seiner Praxis an.
Antwort KunstArtztPraxis: Hach, wundervoll! Ein Hoch auf treue Leser (und Leserinnen!). Die ganze KunstArztPraxis bedankt sich herzlich.