Zum 100. Todestag: Kafka, der Zeichner
Kafkas Prosa verfolgt uns seit der Kindheit, aber einen Großteil seiner Zeichnungen duften wir erst vor drei Jahren entdecken. In unseren Augen sind diese Zeichnungen Weltliteratur. Und illustrieren sehr gut jenen Zustand, der Einen von uns beim Bund befiel. Eine Hommage zum 100. Todestag (03.06.2024).
Nach unserer Reise zu Caravaggio ging Einer von uns für 15 Monate zum Militär. Es gab ja Wehrpflicht damals, die Menschen dachten noch, der Russe stünde vor der Tür: und würde nicht zögern einzutreten, wenn man ihn nicht schreckte. Und: Für diesen Schrecken des Russen müsse man selbst das grotesk absurde Alberne des Wehrdiensts persönlich ertragen.
Man müsse für die Gemeinschaft Opfer bringen, frage nicht, was dein Staat für dich tun kann: So dachte man damals zum Teil tatsächlich. Es war halt eine andere Zeit.
Egal. Jedenfalls: Während wir beiden Anderen im Zivildienst sichtbar Sinnvolles vollbrachten, fuhr unser Einer als Flieger der Luftwaffe mit dem Fahrstuhl im Schichtdienst in die Erde. Genauer: in einen Bunker, dessen Eingang zur Verwirrung russischer Spionage-Satelliten als mysteriöses Einfamilienhaus getarnt worden war.
Mysteriös deshalb, weil besagtes Einfamilienhaus täglich hunderte, mit gut sichtbaren olivgrünen Bussen herangekarrte, gut sichtbare olivgrüne Männer verschluckte – eine Männermenge, deren Gesamt-Volumen das Gesamt-Volumen des Einfamilienhauses bei Weitem übertraf.
Der kafkaeske Bau im kafkaesken Bunker
Unter der Erde musste unser Einer mit Leuchtstiften in Spiegelschrift ihm unverständliche Kombinationen aus Buchstaben und Zahlen auf die Rückseite einer riesigen Plexiglas-Wand schreiben, die über Leitern auf drei Etagen zu hintergehen war.
Die babylonischen Kolonnen waren auf schmalen Papierstreifen ratternd von irgendwoher aus einer Art Fax-Gerät hervor gequollen: Geheimbotschaften, die die eingeweihten Zeitsoldaten an ihren Radar-Konsolen VOR der Plexiglas-Wand für irgend etwas Wichtiges zu entschlüsseln wussten.
Zwischen diesen Absurditäten herrschte unter der Erde für Flieger gähnende Leere, deshalb hatte unser Einer Franz Kafkas „Sämtliche Erzählungen“ in einer Ausgabe des Fischer-Taschenbuch-Verlags in der Beintasche seiner olivgrünen Soldatenhose. Dies schien ihm für die grotesk absurde Albernheit seiner Existenz unter Tage die passende Lektüre.
Jede freie Minute las er in Kafkas Erzählungen. Es war ein Akt der Selbsterhaltung: sein kafkaesker Bau im kafkaesken Bunker.
„Kameraden, Blauland hat uns den Krieg erklärt!„
Während der gähnenden Leere eines Nato-Manövers, in dem Russland „Blauland“ hieß, zog unser Einer seinen Kafka abermals aus der Hose und begann, nichts Böses ahnend, „Zum Nachdenken für Herrenreiter“ zu lesen, diese Parabel vom Unglück des Siegens im Kampf.
Weit kam er nicht, da ein angetrunkener Oberstleutnant wutentbrannt auf ihn zustürmte und ihm das Buch mit dem formschönen Satz: „Wir sind im Krieg, hier wird nicht gelesen!“, brutal entriss.
Ungehorsam und persönliche Beleidigung seiner selbst als Vorgesetztem schien dem Oberstleutnant unseres Einen Lektüre zu sein.
Die Wunde durch Kafkas Vornamen im Buchrücken, die aus dem Wort ein körperliches Bild macht, zeugt bis heute von der Bestrafung des Vergehens. Franz Kafka heißt für uns seit 1984 Fanz.
Das träumende Auge des möglichen Pferdes
Auf dem Cover der „Sämtlichen Erzählungen“ war, wie bei den Fischer-Taschenbuch-Ausgaben üblich, eine der Zeichnungen des Autors abgedruckt: die erste, die wir Alle von Kafka in unserer Jugend sahen.
Uns war sofort klar, dass sie von Kafka stammen musste: Sie war einfach zu dilettantisch, als dass ein professioneller Illustrator sie eigens fürs Buch hätte verfertigt haben können. Und einfach zu toll.
Allein das zauberhafte träumende Auge dessen, was wir als Pferd erkannt zu haben glauben, ist ein Hit.
Diese Zeichnung können & wollen wir nicht so recht beschreiben, deshalb drucken wir sie hier einfach ab, und zwar in ihrer – Kafkas von Max Brod gnadenlos zerschnittenem* Zeichenheft entnommenen – korrekten Ausrichtung, also in ihrer ganzen, fast schon kosmologischen, himmelstürzenden Schwerelosigkeit:
*Schäm dich, Max Brod!
Wie kann man diese Zeichnung mit dem verkrümmten Pferd (?) und seinem skelettartigen Reiter (?) samt seiner kalligraphischen Peitsche (?) lesen?
Wir haben unter uns Dreien einmal herumgefragt. Einer von uns meint, dass der Reiter sein Pferd mit der Peitsche über ein Hindernis manövriere, ein anderer, dass er es dazu animiere aufzustehen.
Derjenige von uns aber, der beim Bund gewesen ist, schwört Stein auf Bein, dass der Reiter sein Pferd in die Knie zwingen – oder gar von der Tischkante in den Abgrund stürzen? – wolle, damit es im Wettkampf nicht siege.
Wenn dem so wäre, dann hätte der Herrenreiter aus der fragmentarischen Lektüre des Nato-Manövers im Bau unter der Erde, anders als der wutentbrannte Oberstleutnant in seinem virtuellen Maulwurfskrieg, am Ende doch noch über sich nachgedacht.
Aber im Grunde haben wir natürlich alle recht. Bei Kafka muss man ja eh permanent in Gedanken die Laufrichtung ändern.
Eine Zeichnung könnte auch von Polke sein
Inzwischen haben wir alle Zeichnungen Kafkas gesehen, die zum Großteil zwischen 1901 und 1907 entstanden sind, es war ja erst seit kurzem möglich: Über 100 von ihnen wurden 2021 bei C.H. Beck zum ersten Male editiert. Zuvor waren sie im Bankschließfach einer Zürcher Bank verborgen gewesen als ein unbekannter Schatz.
Seitdem wissen wir, dass Kafkas Zeichnungen keine Illustrationen von Kafkas Geschichten sind, sondern in ihrem tollen – und garantiert gewollten! –Dilettantismus eigenständige, teilweise ganz großartige Werke, in denen Realismus ins teils unheimliche Phantastische kippt.
(Bild: Könnte auch von Polke sein: Franz Kafkas Trinker, von Max Brod als Cover-Girl missbraucht für seine Kafka-Biografie von 1937. Für uns besonders toll: der Schatten des Glases!)
Eine Zeichnung könnte auch von Polke sein. Und eine Schar wie an unsichtbaren Fäden hängender Fußsoldaten mit Bajonett-Gewehren ist auch darunter, die vor einem riesenhaften, anonym bleibenden Herrenreiter fast untergehen: mit wenigen Strichen auf den Punkt gebracht, wie Militär bis heute funktioniert.
Im Übrigen scheint Kafka seinen Zeichnungen mehr zugetraut zu haben als seinen Texten – vor allem beim Traum. Zumindest finden sich in seinen Briefen immer wieder Zeichnungen zwischen den Worten.
Worüber man nicht reden kann, das glaubte Kafka offensichtlich, darüber sollte man zeichnen. Text und Zeichnung, das waren für Kafka zwei paar Schuhe, nicht Teile eines Paars. Gegen seinen stürzenden Herrenreiter als Covergirl der „Sämtlichen Erzählungen“ hätte er sich auf jeden Fall verwahrt* – gegen ihre Veröffentlichung zum Teil natürlich auch.*
*Schäm dich, Max Brod!
Trotzdem können die Bilder ihre Nähe zur Geheimschrift, aus deren Ornamenten sie zum Teil gemacht sind, nicht leugnen, aber das ist bei Kafka ja kein Widerspruch.
Ein wenig ist es wie bei der Tötungsmaschine in der Erzählung „Die Strafkolonie“, die das vom Militärgericht der Insel festgestellte Verbrechen – „Ungehorsam und Beleidigung des Vorgesetzten“ – dem Opfer auf die Leinwand seines Rückens kritzelt, bis er im Sterben dann doch versteht.
Rätselhafter Text wird zur körperlichen Zeichnung, zur existentiellen Wunde. So irgendwie.
Taucht einmal sogar Charlie Chaplin auf?
Ach ja: Humor gibt es natürlich auch, den ganz eigenen, kafkaesken!
Es ist ein Slapstick-Humor, ein Lachen über existentielle Lächerlichkeiten, übers Straucheln, die plötzliche Ohnmacht des Schlafes beim Schreiben, das blinde Torkeln des Spaziergängers durchs existentielle Nichts.
Vieles ist eingeflossen, was der Kinogeher Kafka aus dem Kintopp der Zehnerjahre kannte, vom Stummfilm, der im Grunde ja noch reines, von Text zerschnittenes Bild war.
Irren wir uns, oder ist das auf der um 1905 entstandenen
Kafka-Zeichnung nicht Charlie Chaplin?
Und wenn wir uns nicht irren, taucht einmal sogar Charlie Chaplin auf.
In diesem Sinn sind Kafkas Zeichnungen für uns kinematographische Standbilder, die Figuren in der Bewegung eingefroren: im Sturz, im Schritt, im Lauf, in der Geste, im Denken, im Sprung. Beim Dienen, beim Kartenspielen, beim Sich-in-der-Finte-selbst-Erstechen.
Die erstarrten Figuren taumeln über die Blätter wie über eisige Flächen, der Spazierstock greift ins Leere. Aber vielleicht ist es auch ein Degen? Bei den Zeichnungen Kafkas ist es eben genauso wie bei seinen Texten: viele Deutungen sind möglich, viele sogar richtig.
Für uns zum Beispiel sind die Zeichnungen Bilder jenes grotesk absurden Albernen, das unser Einer in seiner Zeit als Flieger unter der Erde 15 Monate lang empfunden haben muss. Danke, Fanz Kafka. In seinem Namen. (02.06.2024)
Anmerkung: Beim Bund lebte unser Einer ohnehin wie in Kafkas Erzählungen. Gleich bei seiner Ankunft in der Kaserne unweit des Bunkers wäre er fast ins Gefängnis gekommen, sprich: genauso überraschend verhaftet worden wie Josef K. im „Prozess“: und zwar, weil er hinterm Kasernentor statt der gebogenen Straße mit seiner schweren Tasche, in der sich auch Kafkas „Erzählungen“ befanden, die Abkürzung zwischen den gehissten Fahnen hindurch hatte nehmen wollen (zum Glück wurde er rechtzeitig von einem brüllenden Wachmann vor der Freveltat bewahrt).
Danach lebte unser Einer, wie schon erwähnt, 15 Monate lang eine kafkaeske Existenz im Bau. Er erfuhr aus 40 Jahre alten Schulungsfilmen, in denen weiße Atompilze zu Barockmusik in den blauen Himmel wuchsen, dass er sich mit dem Klapp-Spaten ein Schutz-Loch zu graben habe, sobald er den Blitz der Detonation erblickt hätte. Und er lernte, den Menschen nicht in die Augen zu schauen, sondern auf die Schulterklappen, Ranghöhere nicht aus Sympathie zu grüßen, sondern aus Angst vor Bestrafung.
Im rechten Gebrauch der ABC-Schutzmaske wurde unser Einer von einem rothaarigen Hauptmann mit Kaiser-Wilhelm-Bart unterrichtet, der Gasmasken aus dem Ersten Weltkrieg sammelte – aber nur solche, die einen Durchschuss aufwiesen. Bei ihrer Präsentation steckte der Hauptmann seinen Zeigefinger wackelnd durch das Loch, um grinsend zu demonstrieren, dass Gasmasken nicht vor ALLEN Toden schützten.
Sein Lieblingswitz war kurzatmig: „In der Regel haben Männer rote Bärte.“ Das war so der in Worte gefasste Humor SEINER Bilder.
Appendix: Kafka, der Gezeichnete
Wie schon geschrieben sind für uns Kafkas Zeichnungen Standbilder aus Filmen. Das kommt dem Comic sehr nahe.
In unseren Augen gibt es zwei große Comic-Zeichner, die sich sehr erfolgreich an Franz Kafka abgearbeitet haben: Robert Crumb und Nicolas Mahler. Die Ergebnisse könnten unterschiedlicher nicht sein: auch ein Beleg dafür, wie fasziniert unterschiedlich man Kafka als Person & Autor deuten kann.
Robert Crumbs detailliert-nervöser, mit den eigenen Neurosen aufgeladener Strich skizziert in großer Ernsthaftigkeit eine ängstliche, vom Leben im Mütterchen Prag bedrückte Figur: die ganze alte, in der Forschung & im Feuilleton schon vielfach durchgekaute Geschichte vom übermächtigen Vater und den Frauen und den Gespenstern.
Zudem macht Crumb den unverzeihlichen Fehler, zur Illustration der „Verwandlung“ einen Käfer zu zeichnen – ein faux-pas, den zu unterstehen sich Kafka ausdrücklich verbeten hatte.* Und natürlich ist den Wünschen Franz Kafkas vollumfänglich nachzukommen! Nicht wahr, Max Brod?**
Nicolas Mahler hingegen reduziert Kafka auf dicke Striche, die die dicken Striche Kafkas im Sinne seiner Komik irgendwie weiterdenken. Das ist in Mahlers gewollten Dilettantismus fast so grandios wie Kafkas Kunst. Und kommt dem, was wir über Franz Kafka und seine Tusche-Werke denken, wesentlich näher.
Wir verehren Robert Crumb, wir haben das an anderer Stelle schon einmal ausgeführt: Er ist ein ganz, ganz Großer. Aber was Franz Kafka als Gezeichneten betrifft, so geben wir Nicolas Mahler ausnahmsweise mal (und zwar eindeutig) den Vortritt.
*Schäm dich, Robert Crumb!
**Schäm dich, Max Brodl!
KunstArztPraxis-Betriebsausflug: „Kafka 1924“, Villa Stuck, München 2024
Franz Kafka in der KunstArztPraxis:
Betriebsausflüge (4): “Kafka: 1924” in München
“Kippenbergers Kosmos steckt im ‘Kafka’”
In der Strafkolonie: Cardiff & Miller in Duisburg
Humor- braucht man immer im Leben und hauptsächlich in schweren Zeiten…also immer
Antwort KunstArztPraxis: Oh ja. Humor. Wobei: Humor & Humor sind ja zwei paar Schuhe. Auch das zu sagen war uns bei Kafka, dem Zeichner, wichtig.
Wie so oft so gern gelesen und geschaut. Danke!