Wir und Ich: “Sweet Lies” im Ludwig Forum Aachen
Um mehr über sich selbst zu erfahren, muss man manchmal ins Museum gehen. Ins Ludwig Forum nach Aachen zum Beispiel. Denn da beleuchtet “Sweet Lies” das komplexe Konstrukt unserer Identitäten. Unsere diversen Ichs waren drin. Eine sehr persönliche Ausstellungs-Introspektion.
Neulich haben wir uns in der KunstArztPraxis endlich einmal selbst auf unsere Couch gelegt. Im Frühherbst des Lebens war es wohl endlich an der Zeit, unsere verschiedenen Ichs vor unseren geistigen Augen Revue passieren zu lassen.
Wenn wir unseren jüngeren Ichs morgen zufällig auf der Straße begegnen würden, lautete eine Frage: Würden wir sie überhaupt noch grüßen? Oder würden vielleicht unsere jüngeren Ichs sogar ihrerseits mit hoch erhobenem Haupt naserümpfend an uns vorüberziehen?
Vor allem letztere Vorstellung hat uns dann doch ein wenig weh getan.
Um mehr über unsere Selbsts zu erfahren, sind wir gemeinsam ins Ludwig Forum nach Aachen gefahren. Da läuft momentan die Ausstellung “Sweet Lies”, in der es um die polyphonen Fiktionen und komplexen Konstruktionen von “Ich” und “Wir” in Kultur und Gesellschaft geht. Sowie um Herkunft, Gender und Identität.
Was sind wir heute? Und wie konnte das passieren?
Dabei ist uns vor allem aufgefallen, was uns fehlt. So hatte zum Beispiel niemand von uns jemals eine Schamanin zur Großmutter. Unser appropriatives Kontingent an Nasenringen und Tautierungen tendiert gegen Null. Keiner von uns verfügt über psychedelische Erinnerungen. Auch sind wir als Sauerländer nicht besonders tief verwurzelt. Uns fehlt eine Grabstelle auf dem Zentralfriedhof. Und unsere Vaterkehlen beherrschen tatsächlich richtig nur die Muttersprache.
Überhaupt sind wir Zeit unseres Lebens (dummerweise) immer auf dem Teppich geblieben. Aber wir hatten (zum Glück!) auch noch kein traumatisches Erlebnis mit einem Schwan.
Das sanfte Lächeln der Privilegierten
Über die Erkenntnis unseres Mangels an Exotik haben wir dann zu unserem Entsetzen festgestellt, das wir schon bald (fast) komplett jener homogenen Hetero-Gruppe angehören, die der momentane, in anderen Fragen dafür umso sensiblere Diskurs etwas schamlos “alte weiße Männer” nennt.
Das ist natürlich rassistisch, misandrisch und gerontophob. Aber bevor der Diskurs lautstark moppert, sehen wir lieber nonchalant lächelnd darüber hinweg. Schließlich hat das historische Schicksal den alten weißen Männern das Privileg in den Schoß gelegt, privilegiert zu sein. Und wir haben ja ohnehin noch etwas Zeit.
Trotzdem: Unsere pubertierenden Kinder, die sich bei Facebook unter 60 verschiedenen Geschlechtern entscheiden müssen, nennen derart langweilige Homogenität schlicht hobbylos.
Wieso eigentlich hobbylos?
Ja, genau: Wieso eigentlich hobbylos? Wir haben doch die Kunst als bewusstseinserweiternde Droge! Und die Museen als künstliche Paradiese. Und die führen uns immer wieder aufs Neue die ganze Artenvielfalt des Menschseins vor Augen. Wie “Sweet Lies” im Ludwig Forum.
Da gehen unsere vielen Ichs sicher nochmal hin. Entweder getrennt – oder als Wir. (28.06.2021)
P.S.: Wir können uns noch immer keinen Basquiat fürs Wartezimmer leisten. Haben wir es nicht geschafft?
Die Ausstellung “Sweet Lies. Fiktionen der Zugehörigkeit”, bei der Gastkünstler*innen in Dialog zu Highlights der Sammlung treten, ist noch bis zum 20. September 2021 im Ludwig Forum in Aachen zu sehen.
Themen: Herkunft (Jean-Michel Basquiat, Theresa Weber), Gender (Joe Baer, Thomas Lanigan-Schmidt, Markues), Sprache (Kinke Kooi, Roy Lichtenstein, Sergej E. Volkov, Slaves and Tartars), Kultur (Maria Magdalena Campos-Pons, Erró, Vivian Greven, Malike Kara, Liang Dong, Jannis Marwitz, Twins Seven Seven), Identität (Chuck Close, Johannes Grützke, Renato Guttuso, Fang Lijun, Robert Morris, Megan Rooney, Raphael Weilguni, Viola Relle) und Tod (Jean-Olivier Hucleux, Phung-Tien Phan).
Zur Ausstellung gibt es einen schönen Blog.
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