Eine echte Schau: „Look!“ im Marta Herford
Röcke aus Fruchtsafttüten, Kleider aus Keramikkacheln und gemalte Versace-Hemden im XXXXXXL-Format: Im Marta Herford beleuchtet eine knallbunt reflektierende Ausstellung das wechselvolle Verhältnis der aktuellen Kunst zur Mode. Und mitschneidern (und mitfühlen) kann man auch.
Wir sagen hier bewusst nicht welcher, aber einer von uns aus der KunstArztPraxis hat einen Namensvetter, der ist Friseurmeister mit Calligraphy-Cut-Gold-Star-Zertifizierung in der Kölner Innenstadt. Und der bewarb sein Metier jahrelang mit einem bemerkenswerten Motto: „Wer mit der Mode geht, ist seiner Zeit immer eine Nasenlänge voraus.“
Ersetzt man die Nasenlänge durch die Speerspitze, dann ist man mitten in der Avantgarde: Der Fashion-Begriff des Friseurmeisters und die Kunstauffassung seit der Moderne zielen also in dieselbe Richtung.
Nach vorne. In die Zukunft. Mit dem weiten, unverstellten Blick der Pole-Position. Und im wohligen Bewusstsein, bei Bedarf vielleicht sogar etwas naserümpfend auf die da hinten zurückzublicken.
Tatsächlich sind Haute Couture und Contemporary Art auch über ihr Selbstverständnis als Trendsetter und Impulsgeber mit gesellschaftlicher – und gesellschaftskritischer – Stoßrichtung längst miteinander verschmolzen. Wo da die Mode aufhört und die Kunst anfängt (oder umgekehrt), ist oft nicht mehr trennscharf auszumachen.
Verhüllung und Enthüllung erweisen sich dabei ohnehin als zwei Seiten einer Medaille. Manche sagen auch: Untragbarkeit und Unerträglichkeit.
Falsche oder richtige Signale
Dass diese Form der Verschmelzung tatsächlich sehr wegweisend sein kann, zeigt gerade „Look!“ im Marta Herford. Ihre knapp 100 Fotografien, Malereien, Videos, Skulpturen und Installationen beleuchten die identitätsstiftende, kommunikative und stilbildende Rolle der Kleidung. Selbst die Materialforschung und das Virtuelle bekommen ihren Platz.
Oft stammen die Positionen von Künstler*innen, die auch in der Beauty- und Glamourwelt der Mode zuhause sind. Trotzdem geht es vor allem auch um einen kritischen Blick auf die sozialen und politischen Implikationen der Modeindustrie. Und um Fashion als ein Zeichensystem, das richtige ebenso wie falsche Signale senden kann.
So zeigt Pieter Hugo in unberührter Natur südafrikanische Kinder, die sich mit dem teils äußerst schlecht sitzenden Dresscode der ehemaligen Kolonisatoren – sprich: mit Kleiderspenden aus Europa – ummanteln (müssen?). Talia Chetrit hinterfragt mit Teenager-Bildern und ihren an Werbemustern orientierten Inszenierungen die prägenden, oft sexualisierten Verführungsstrategien der Reklame.
Und Christian Haake präsentiert als Raum im Raum die komplette – und komplett leere – Auslagenfront eines Ladenlokals, aus dem alle Stoffe des Wohlstands gewichen sind. So wird die Leere selbst zum Stoff für eine Erzählung über den gegenwärtigen Zustand des Kapitalismus. In Zeiten von Corona und Online-Handel besonders aktuell.
Kunst, die sich verkleidet hat
Auch dabei verwischen allenthalben die Genregrenzen. Andy Dixon etwa präsentiert ein übergroßes, mit Acryl und Ölkreide bemaltes Leinwand-Hemd im Versace-Style. Und bei Gili Avissar, dessen archaisch anmutenden Kostüm-Skulpturen bei der Ausstellungsvernissage, durch einen Tänzer animiert, in direkten Dialog zu anderen Exponaten traten, gehen Design, Mode, Installation und Performance komplett ineinander über.
Würde unserem calligraphy-cut-gold-star-zertifizierten Namensvetter aus Köln die Herforder Schau also gefallen? Wäre „Look!“ sein Look?
Wir glauben eigentlich schon. Immerhin würde er selbst dann, wenn er sich zwar viel um Mode, um Kunst aber nur ein wenig scherte (was wir nicht wissen), hier ebenso einleuchtend wie niederschwellig, ja: sogar standesgemäß abgeholt.
Im Extentions-Büschel-Himmel
Schließlich baumeln im Foyer die quietschbunt-rapunzelhaften Extentions-Büschel der haarvernarrten Hrafnhildur Arnardóttir aka Shoplifter von der Decke, durch deren synthetisch lockende Plüschigkeit man streichen kann wie durch Kundenhaar. Und am Ende kann man sich auf der Mitmach-Insel von Adrien Tirtiaux an eine der Nähmaschinen setzen oder auf dem dortigen Selbstbespiegelungs-Laufsteg Outfit-Inspirationen holen.
Das ganze Paket macht „Look!“ im Marta zu einer echten Schau. Da gibt es selbst für Avantgarde-Nasen in der Pole Position nichts zu rümpfen. (18.10.2021)
„Look! Enthüllungen zu Kunst und Fashion“ ist noch bis zum 6. März 2022 im Marta Herford zu sehen. Der Katalog in Form eines Modemagazins allein ist schon ein Knaller.
Anmerkung 1: Wir haben übrigens nicht nur Friseure als Namensvettern, sondern auch Vorstandsvorsitzende, Direktoren, Geschäftsführer und Dozenten. So kam es, dass wir völlig unschuldig für den „Wahnsinn des Leinenzwangs für Hunde im Englischen Garten“ postalisch Beschimpfungen erlitten. Einmal fragte ein landbekannter Hörfunksender auf den AB, ob wir „zur Misere des Handwerks in NRW“ befragbar seien. Andermals ging es um Polizeigewalt oder Studiengänge fürs Banksegment. Mit etwas mehr anarchischem Charme hätten wir durch klug gesetzte Statements neue Trends kreieren, künstlerisch intervenieren, die Welt verändern können. Aber uns fehlte leider jedes Mal die kriminelle Energie.
Anmerkung 2: Der Unsichtbarkeits-Maschine zum Opfer gefallen sind unsere Fotos der Werke von Monica Bonvicini, Chicks on Speed, Corina Gertz, Christiane Peschek, Yuka Oyama, Karin Sander, Pascale Marthine Tayou, Britta Thie und Erwin Wurm.
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