Überall „Dark Data“: Tobias Zielony im Marta Herford
Was bringen Fotos ans Licht von der Jugend, dem Krieg, dem Verbrechen – und was bleibt wie lang im Dunklen? Darum geht es bei Tobias Zielony in Herford. Wir illustrieren das an der Serie „Maskirovka“ (2017), die neue Aktualität gewonnen hat. Und an unserem ersten Zielony-Porträt.
Das erste Mal trafen wir Tobias Zielony 2016 in einem leerstehenden Ladenlokal an der Rheinischen Straße in Dortmund, im urbanen Herz der größten tamilischen Gemeinschaft Deutschlands. Für die „Emscherkunst“ hatte er einen Film über den dortigen Fußballclub „Tamilstars“ gedreht, damals (wie heute) Kreisliga B.
Es ging um Migration und Anpassung, Jugend, Alter und Identität – aber auch darum, was passiert, wenn das Flutlicht auf dem Fußballplatz erlischt: um böse Geister und mythische Geschichten, um Tanz und Verkleidung. Also um den Wettstreit von Realität vs. Imagination, von Licht vs. Dunkelheit. Zielonys große Themen. Die großen Themen der Fotografie.
Beim Auftritt eines Spielers mit Tigermaske machten wir ein Porträt Zielonys, aber der Kontrast von grellem Film und abgedunkeltem Ladenlokal war vernichtend: Zuhause war vom Künstler auf unserem Foto nichts zu sehen.
Aber wir wussten ja, dass Zielony da gewesen war, als wir ihn fotografierten! Er musste also im Bündel der von der Kamera festgehaltenen Rohdaten verborgen sein. Und so befreiten wir das Abbild des Künstlers, buchstäblich blind im Nichts stochernd, in der digitalen Dunkelkammer aus dem alles verschlingenden Schwarz.
Wie Bilder sich entwickeln
Es ist einer dieser von uns geliebten objektiven Zufälle, der unser Erlebnis vom verschluckten und wieder ans Licht gezauberten Künstler mit dem Thema jener Zielony-Schau verknüpft hat, die wir Ende 2022, also sechs Jahre später, im Marta Herford fotografieren durften. „Dark Data“ nämlich zielt auf Informationen, die in Bildern verborgen sind – vielleicht auch lange oder ewig verborgen bleiben.
Weil wir nicht in der Lage sind, sie auszulesen, auszudeuten. Weil wir Zusatzinformationen brauchen, um bestimmte Dinge wahrzunehmen. Oder weil wir sie erst zu lesen verstehen, wenn die Geschichte sich um sie herum weiterentwickelt hat. Beim zweiten, dritten, vierten Blick.
Am deutlichsten wird dies vielleicht in den 24 in Herford gezeigten Fotos aus Zielonys einfühlsamer Serie „Maskirovka“ (2017) über die Kiewer Queer- und Techno-Szene, deren Mitglieder sich aus verschiedensten Gründen – zur Selbstdarstellung, als Teil des sexuellen Spiels, zum Schutz vor Tränengas und Intoleranz oder zur Vermummung bei Protesten – gern maskieren.
Auch hier: Jugend und Identität, böse Geister, Tanz und Verkleidung. Aber auch, zum ersten Mal bei Zielony derart konkret: das Politische der Gegenwart, Wahrheit und Propaganda, der damals noch nicht erklärte, aber de facto schon 2014 begonnene Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.
Teils unsichtbar im Bild verborgen, aber im Titel der Serie klar zum Ausdruck gebracht.
Die bösen Seiten der Maskierung
Denn „Maskirovka“ bezeichnet als Begriff die traditionelle russische Kriegstaktik der Verschleierung und Verdunkelung wahrer Absichten, die auch bei der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim zum Einsatz kam:
Nach den Protesten Hunderttausender Ukrainer beim „Euromaidan“ 2013/2014 und der Absetzung des korrupten pro-russischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch fielen Truppen ohne Hoheitszeichen auf der ukrainischen Halbinsel ein. Putin heuchelte, damit nichts zu tun zu haben. Aber die sogenannten „grünen Männchen“, die bösen verschleierten Geister des Krieges, waren offensichtlich russische Soldaten.
Vielleicht sollte man das nochmal all jenen ins Gedächtnis rufen, die so schnell vergessen.
2017 haben wir Zielonys „Maskirovka“ beim Aufbau seiner Ausstellung „Haus der Jugend“ im Von der Heydt-Museum Wuppertal zum ersten Mal gesehen. Entstanden sei die Serie aus einer Zufallsbegegnung, sagte uns Zielony damals: „Ich hatte eine Frau kennengelernt, die Teil der schwul-lesbischen und Transgender-Community, aber auch der Techno-Community in Kiew ist. Die habe ich dann besucht.“ Vier „ziemlich intensive Wochen“ seien das gewesen, bis die Fotos komplett im Kasten waren.
Wie Grenzen verschoben werden
„Meine Bilder wirken auch für sich“, sagte uns Zielony noch. „Ich vertraue meinen Bildern. Dass sie in sich eine Form von Erzählung erschaffen. Aber es gibt auch Grenzen des Bildes. Man versteht etwas anderes, wenn man die Texte liest.“
„Die Texte“, das waren die parallel vom Künstler in Kiew geführten Interviews mit der Techno-Tänzerin Tasia, der Trauma-Psychologin Vicky, der Journalistin Natasha oder der Spezialistin für Aufklärungs-Drohnen Maria. Sie finden sich im Wuppertaler Katalog. Text und Bild gehören für Zielony eigentlich zusammen.
Beim ersten Sehen 2017 schwebte der noch „hybride“ Krieg also als Dark Data schon über den Porträts der Jugendlichen, die zum Teil vor den Invasoren aus der Ostukraine nach Kiew geflohen waren. Damals fiel es uns trotzdem nicht schwer, diese Ebene der Bilder im Dunkeln zu belassen. Die Grenzen des Bildes verliefen selbst nach der Lektüre der Texte noch anders als heute. Verdrängen war leichter.
Inzwischen sind viele von Zielonys Techno-Tänzer*innen Soldaten im Krieg, und wir – zumindest zum Großteil – im Hinblick auf Putins verbrecherische und wohl über Jahrzehnte verschleierte Pläne schlauer.
Die melancholische Zerrissenheit
Für uns jedenfalls war es in Herford Ende 2022 unmöglich, diese durch den Verlauf der Geschichte deutlicher ans Licht gebrachte Ebene der Fotos noch auszublenden. Warum zum Beispiel ist uns damals so gar nicht aufgefallen, dass die große Melancholie dieser sehr persönlich und intim wirkenden Bilder, diese demaskierte Zerrissenheit, dieses haltlose Schweben auch mit dem Zukunft und Hoffnung zerstörenden russischen Angriffskrieg zusammenhängen MUSS?
Eine „verzögerte Pubertät in einem anarchistischen Land“ hatte Tasia diesen Schwebezustand im Interview genannt. Und Vicky schon 2016 von der Gefühllosigkeit in einer emotionalen Hölle gesprochen: „Du sitzt zuhause, kriegst den Weltuntergang mit, fühlst aber nicht viel.“ Wir begreifen erst jetzt, im Ansatz, was das schon vor sechs Jahren bedeutet haben muss: der Weltuntergang.
Damals, 2016, nach unserem Porträt im Ladenlokal auf der Rheinischen Straße in Dortmund, stellte uns Zielony mit einem Blick auf unseren Fotoapparat lachend eine Frage: „Warum haben eigentlich immer alle bessere Kameras als ich?“ Das hat sich uns eingebrannt, weil uns der Satz im Blick auf Zielonys Schaffen schon damals so absurd vorkam – und jetzt, beim zweiten Blick auf die „Maskirovka“-Serie in anderer Umgebung, zu anderen Zeiten, umso mehr.
Der Apparat ist Nebensache
Denn Zielony braucht ja gar keine „bessere“ Kamera, um das zu zeigen, was er will. Er hat den skeptischen, kritisch-hinterfragenden, aber auch empathischen Blick auf die Wirklichkeit und das in ihr Verborgene. Auch (und vielleicht gerade) mit „schlechterer“ Optik macht er grandiose subjektive Fotos, die in ihrer speziellen Farbigkeit viel preisgeben von der Jugend, dem Krieg, der Freude und auch dem dunklen Verbrechen.
Und die im Zweifelsfall noch reifer und entlarvender werden, wenn Zeit ins Land gegangen ist. Ohne dass, wie bei aller guten Kunst üblich, das letzte Geheimnis beim zweiten, dritten, vierten Blick entweicht. (16.01.2023)
Anmerkung: „Maskirovka“ ist nur eine von vier in „Dark Data“ gezeigten Werkgruppen Zielonys: Das zum Großteil durch ein Fernrohr aufgenommene Video „Hurd‘s Bank“ (2020) spürt dem Zusammenhang zwischen der Öl-Mafia und der Ermordung der investigativen Journalistin Daphne Caruana Galizia auf Malta nach. Die Multimedia-Installation „Wolfen“ (2022) thematisiert das fotografische Wechselspiel von Licht und Dunkelheit am Beispiel der DDR-Filmfabrik ORWO. Und „Watching TV in Narva“ (2022) befasst sich mit den medialen & propagandistischen Auswirkungen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine an der estnisch-russischen Grenze. Sie ist in Herford erstmals zu sehen.
Jede dieser Arbeiten hätte einen eigenen KunstArztPraxis-Beitrag verdient.
„Tobias Zielony. Dark Data“ ist noch bis zum 16. April 2023 im Museum Marta in Herford zu sehen.
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