Die Alchemist*in: Ursula im Museum Ludwig
Lange hat uns keine Ausstellung mehr so in Erstaunen veretzt wie diese im Museum Ludwig! „Ursula – Das bin ich. Na und?“ ist als Wiederentdeckung in unseren Augen eine veritable Sensation. Das hat natürlich vor allem mit Ursulas umwerfender Kunst zu tun. Und mit artifizieller Alchemie.
Wenn wir unsere KunstArztPraxis nicht zum zweiten Corona-Lockdown 2021 eröffnet hätten, sondern im Mittelalter, dann hätten wir mit Sicherheit auch einen Alchemisten eingestellt. Die Alchemisten waren ja dem Universal-Allheilmittel („Panacea“) auf der Spur. Und danach suchen wir im Grunde auch.
Für letzte Evidenz müssen wir noch etwas herumexperimentieren, aber wir glauben: Dieses „Panacea“ ist die Kunst.
Drei unschlagbare Wege, um aus allem Möglichen Gold zu machen
In Vielem haben die Alchemisten im Nachhinein Recht behalten. Inzwischen ist bekanntlich sogar wissenschaftlich nachgewiesen, dass man Unedles prinzipiell in Gold verwandeln kann! Es kostet nur verdammt viel Geld. Und man braucht keinen Stein der Weisen, oder den feuchten Händedruck eines mythischen Phrygierkönigs, sondern einen Teilchenbeschleuniger. Oder einen Kernreaktor.
Oder, wie wir seit Kurzem wissen, einen sogenannten Pandora-Schrank.
Den Pandora-Schrank hat Ursula Schultze-Bluhm erfunden, kurz, der Signatur nach: Ursula. Es gibt ihn in diversen Varianten, aber alle haben dieselbe Funktion: Sie sind künstlerische Teilchenbeschleuniger, Kernreaktor-Tabernakel zur Transmutation realer Objekte in Magie.
Perlen finden sich darin, Puppenaugen, Federn und Vogelbalg, Spiegel, ein Maiskolben, Schnuller, eine präparierte Flugechse sogar. Und: Pelze, immer wieder Pelze. Jedes Element für sich genommen bleibt ein totes Ding. In den Schreinen aber wohnt den Elementen ein neuer Zauber inne, der ununterbrochen lebendige Energie ausstrahlt.
Die unermessliche Fülle der Allesgeberin
Einige von den Pandora-Schränken stehen jetzt im Museum Ludwig. Das Haus hat es gewagt, die Büchse der Allesgeberin erneut zu öffnen: eine Büchse, die, wie die Tonbandstimme Ursulas verkündet, „statt des Unglücks die Fülle des Lebendig-Blühenden ausstreut“. Jetzt ergießt sich diese sagen- und mythenumwobene Kunst in ihrem unermesslichen Reichtum über zwei Stockwerke in die Räume.
Es ist die erste umfassende Retrospektive der zu Lebzeiten weit über Köln hinaus bekannten Künstlerin seit über 30 Jahren: insgesamt 236 Arbeiten, von denen 44 aus Museumsbeständen stammen.
Für uns ist Ursula eine Alchemistin. Oder, besser: eine Alchemist*in. Das Wort mit dem – im Grunde seines Herzens selbst schon wieder alchemistischen – Gendersternchen ist moderner, passender, denn bei Ursula verschwimmen auch die Grenzen der Geschlechter. Hermaphroditisch, wie das auf Alchemistisch heißt. Androgyn, wie Ursula das nennt.
Hätte Ursula heutigen Diskursen beigewohnt, dann hätte sie sicher ein neues Wort für das erfunden, was man auf und in den Werken sieht. Sie war ja auch Poetin. Und ihre Werke kennen eindeutig mehr als zwei verwobene Geschlechter.
Wie in den Pandora-Schränken, so geht auch in den engmaschigen Wucherungen, in den textil anmutenden Geweben aus Öl, Wachs, Lack und Tinte, in den Gemälden und Skulpturen also, alles ineinander über: Menschen in Tiere in Pflanzen. Belebtes in Unbelebtes, Geist in Materie, Natur in Kultur in Natur in Kultur.
Da gibt es Gesichter mit Fischmündern, Häuserwangen oder Schmetterlingsstirnen. Schildkrötbakterien und Zitronenelefanten. Augenbäume und Mondbohnen. Flammenkatzen. Schneckentierstädte. Und geheimnisvolle Schöne, denen Einhörner oder Biester aus den Oberschenkeln wachsen. Oder verschmelzen? Arcimboldo, einer von Ursulas Hausgöttern, war nichts dagegen.
Wir jedenfalls fanden beim Betrachten des Überquellenden aus unserem eigenen Staunen kaum noch heraus.
„Legenden eigener Imagination“
Uns scheint es, als sei Ursula auf die ihr eigener alchemistische Art recht tief in die „prima materia“ der Wirklichkeit eingetaucht. Als habe sie alles erdenklich Konkrete, Alltägliche, Banale mit einem Universal-Lösungsmittel auf die Ursubstanzen heruntergebrochen und dann in den Windungen ihres Kopfes fein ziseliert – strichelnd, streichelnd, tupfend und punktierend – neu zusammengesetzt.
Zu Monstern, Feen, Vielfüßlern und Tentakelwesen, Nachtmahren, Idolen und Augenbohrern – oder zu fast lebensgroßen Tempelwächtern, die eigentlich ihre eigenen Tempel sind. Selbstbewusst und teils auch mit Humor.
Diesen Formexperimenten ist allerlei „Haariges, Pelziges, Befedertes, Augapfelbewimpertes, Perliges“ entsprungen, wie Ursula das selbst benannt hat: eine aus Metamorphosen gesponnene „eigene Gegenwelt zur Außenwelt“.
Etwas unglaublich Sinnliches, halluzinarorisch Betörendes – und zugleich auch Fremdes, Befremdliches, Bösartiges, Abstoßendes ist das, wie wir ergänzen möchten.
Ängste, Wünsche, Obsessionen
Natürlich ist es ihre eigene, innere wie äußere Wirklichkeit, die individuelle Tiefsee, in die Ursula da eingetaucht ist – wie könnte es auch anders sein. In ihren Bildern spiegeln sich ihre persönlichen Ängste, Obsessionen, Albträume, Wünsche und Phantasmen, ihre Klinikaufenthalte, Krisen, Flohmarktbesuche und Entfgiftungsphasen.
Aber es ist auch etwas Universelles daraus geworden. Große Kunst.
Hin und wieder kleben noch Objekte an Ursulas Bildern. Der Ohrring an jenem Selbstporträt zum Beispiel, das der Ausstellung „Ursula – Das bin ich. Na und?“ den Namen gab. Da scheint dann der alchemistische Übergang von realer Gegenwart in opulentes Werk nicht ganz geklappt zu haben. Oder umgekehrt besonders gut.
Was für eine Esoterik ist das letztlich?
Vielleicht hängt der Ohrring tatsächlich nur am Bild, weil sein Pendant im wirklichen Leben verloren ging und er außerhalb des Bildraums nutzlos wurde. Vielleicht soll er aber auch das Gemälde zum komplexen Fetisch machen, mit seiner Ornamentik aus der Fläche wuchernd. Oder ist der Schmuck der Leinwand vielleicht doch durch eine rätselhafte Form des Transmutierens entwachsen?
In diese letzte – okkulte? profane? – Esoterik von Ursulas teils eben auch recht hermetischem Kosmos dringen zumindest wir nicht ein.
Im Grunde hat Ursula Schultze-Bluhm sogar sich selbst verwandelt, zu Ursula: das eigentliche Opus Magnum ihrer künstlerischen Alchemie.
Rückzugsorte für Kettenreaktionen
Als Ursula Schultze-Bluhm hat sie sich mit ihrem immer noch viel berühmteren Mann, dem informellen Maler Bernard Schultze, das Atelier geteilt – oft bis Mitternacht, wie man so hört. Nach Mitternacht aber muss sie als Ursula in ihrem von Schilfbüscheln aus Pfauenfedern und Marksteinen aus Puppenköpfen umrahmten, auerhahngekrönten „URSULA-PELZ-HAUS“ (1970) gewohnt haben, das in der Kölner Schau ein Zentrum ist.
Oder eben in den Pandora-Schränken, ihren selbstgebauten Rückzugsorten für Kettenreaktionen. Anders ist für uns die Sache nicht vorstellbar.
Im tollen Katalog zur Schau steht geschrieben, dass Ursula ihre Gemälde teils auf Goldgrund gemalt und ihre Skulpturen teils vergoldet haben soll. Wie glauben, wie gesagt, eher, dass das Gold auf oder unter ihren Werken durch alchemistische Verwandlung entstanden ist.
Im Katalog findet sich zudem der Satz des Kunstkritikers Heinz Ohff, der konstatiert, dass Ursula im Mittelalter wohl nicht hätte malen dürfen: „Sie wäre verbrannt worden“. Und das, denken wir, ist, auch entgegen unserer Alchemist*innen-These, wahr.
Die Taschenspielertricks des Kunstbetriebs
Zur Jahrtausendwende hat sich Ursula plötzlich in Nichts verwandelt, einfach aufgelöst, und das war nun KEIN Alchemisten- oder Hexenwerk, sondern einer dieser billigen Taschenspielertricks des Kunstbetriebs, der vor allem weibliche Künstler nach ihrem Tod gern unsichtbar macht.
Es ist dem Museum Ludwig also hoch anzurechnen, dass es uns Ursula in dieser blendend kuratierten Schau, in diesem märchenhaften Labyrinth voller Betörungen und Verstörungen nach über 20 Jahren des Vergessens wieder zusammensetzt. Auch Kurator Stephan Diederich hat, finden wir, alles gegeben.
Das „Panacea“ ist die Kunst ?!?
Dass Kunst jenes Universal-Allheilmittel sein könnte, das die Alchemisten sich ersehnten, versuchen wir in der KunstArztPraxis seit über zwei Jahren mit der Alchemie der Worte experimentell nachzuweisen.
Auch wenn letzte Zweifel bleiben: Nach dem Besuch von Ursulas Ausstellung im Kölner Museum Ludwig sind wir uns jetzt schon wieder sehr viel sicherer. (10.04.2023)
„Ursula—Das bin ich. Na und?“ ist noch bis zum 23. Juli 2023 im Museum Ludwig in Köln zu sehen. Ach ja: Der Katalog ist toll! Aber das sagten wir ja schon.
Anmerkung 1: Bei unseren Operationen in den Museen suchen wir oft das Gespräch mit der Security, weil die Security am längsten mit der Kunst alleine ist, aber in „Ursula“ suchte die Security mehrfach das Gespräch mit uns. Noch nie, wirklich: noch nie haben wir so begeistertes und waches Wachpersonal angetroffen wie in dieser Schau. Da wurden uns in jedem Stockwerk Lieblingsbilder vorgestellt. Und manche visuelle Transformation, die sich allein aus einem veränderten Blickwinkel auf die Bilder und Skulpturen ergibt, wäre uns sicher entgangen. Dafür 1.000 Dank.
Anmerkung 2: Wir hätten an dieser Stelle gern auch unsere Fotos zu jenen großartigen Ausstellungen in Düsseldorf, Köln und Remage vorgestellt, die 2015 Bernard Schultzes 100. Geburtstag gefeiert haben – auch, um zu zeigen, wo die Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Werk seiner Frau Ursula liegen. Aber Schultzes Werk hängt in den Klauen der Unsichtbarkeits-Maschine. Und die ist leider kein Migof. Zumindest kein guter. Tut uns leid.
Das Museum Ludwig in der KunstArztPraxis
Gerhard Richter Retro: “Neue Bilder” in Köln (2017)
Sommerloch-Porträts (2): Pierre Huyghes Hund
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