“Ich bin die Landschaft.” B. Hepworth in Duisburg
Das Erstaunlichste an den Skulpturen von Barbara Hepworth sind (für uns) die Löcher. Und das ist 0 despektierlich gemeint! Das Lembruck Museum präsentiert Hepworth nun im Kontext ihrer Kolleg*innen. Und zeigt: Landschaft und Abstraktion müssen keine Gegensätze sein.
Kürzlich haben wir erfahren, dass der Vater von Barbara Hepworth (1903-1975) Landvermesser war. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat er seine Tochter auf seinen Reisen durch die hügelige Kalkstein-Landschaft Yorkshires immer wieder mitgenommen.
Wir sind ja sonst nicht so fürs Biografische, aber dieses Detail erscheint uns wichtig. Weil: Nach dem Besuch von “Die Befreiung der Form” im Lehmbruck Museum in Duisburg sind wir ziemlich sicher, dass Hepworth mit dem in ihrer Kindheit entwickelten Blick einer Landvermesserin ihre Skulpturen schuf.
In unserer romantischen Vorstellung ist der Landvermesser nämlich jemand, der Natur in Formen, Gestalten, Texturen – und sogar die Oberfläche der Welt als Gefüge aus Skulpturen – denkt. Er setzt Markierungen, Grenzen und Bezüge, die die Landschaft auf das für ihn Wesentliche reduzieren.
Indem der Landvermesser durch die Landschaft wandert, durchwirkt er sie auch geistig – immer im Bezug auf sich als Menschen! Und das hat Barbara Hepworth, wie wir finden, auch getan.
Direkt geschnitzt, direkt gehauen
Um es zu präzisieren: Wir glauben, dass Hepworth das Wesen der Landschaft aus diesem geodätischen Geist heraus direkt aus dem Holz geschnitzt und aus dem Stein gehauen hat: als neuerliche Vermessung des spannungsreichen Verhältnisses des Einzelnen zu den Urformen der Natur und ihrer unbändigen Kräfte.
Natürlich sind Hepworths Werke höchst originelle Kartografien: Schließlich reden wir von einer der bedeutendsten Bildhauerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihr ging es nicht darum, die Natur wissenschaftlich exakt in abstrahierende Atlanten zu betten, sondern künstlerisch präzise in ihren eleganten, organisch-harmonischen, reduzierenden Stil.
Und natürlich waren ihre Instrumente vollkommen andere als die der klassischen Landvermesserei: nicht Fluchtstab, Nivellierfernrohr oder Tachymeter, sondern die Schnur und – ja, richtig gelesen: das Loch.
Ein Stück weit zur Unendlichkeit des Alls
Inzwischen gilt Hepworth als Erfinderin des sogenannten Piercing, also der Durchlöcherung des Materials, für das ihr Kommilitone und Freund Henry Moore – wie wir jetzt wissen: zu Unrecht – über Jahrzehnte den ganzen Ruhm einstrich. Das mit den Piercing klingt banal, eröffnet der Bildhauerei aber tatsächlich vollkommen neue Horizonte.
Die – sicher von den ausgewaschenen Felsformationen und den hag stones (vulgo: Hühnergöttern) ihrer Heimat inspirierten – Perforationen Hepworths öffnen die Skulptur nämlich sowohl nach innen als nach außen, in Raum und Zeit, zum Material und zur Umgebung: das Volumen zur Leere, das Positiv zum Negativ, ja: die materielle Enge ein Stück weit zur Unendlichkeit des Alls.
Konstruktiver Kontrapunkt zu Holz und Stein
Das Loch befreit die Skulptur von ihrer Erdenschwere, Leere und Materie gehen dynamisch ineinander über, Masse und Volumen verschmelzen mit dem Umraum. Kurzum: Das Loch ist eine Art konstruktiver Kontrapunkt zu den wesenhaften Eigenschaften von Holz und Stein.
Dieses fundamentale Neue haben wir, trotz Hans Arp und Henry Moore im Rücken, erst bei Hepworth in Duisburg so richtig begriffen.
Und dann ist da noch dieses faszinierende Gespinst von Schnüren, das (von der Künstlerin offenbar intendiert) an die Saiten von Musikinstrumenten erinnert, aber auch (zumindest bei uns) an die tragenden Hängekonstruktionen moderner Brücken.
Die Stützwerke dieser “String Pieces” ziehen die Kraft und Energie nach innen, sodass das Werk sich gleichsam selber trägt, strahlen aber mit ihrer Spannung auch nach außen ab. Und das kann man wirklich spüren, im Gehirn! Auch das hat uns in Duisburg stark beeindruckt.
(links: Hepworths “Caryatid” von 1961)
Über 20 der zum Teil gepiercten und beschnürten Skulpturen von Barbara Hepworth hat Kuratorin Jessica Keilholz-Busch in Beziehung zu rund 30 Werken von Hans Arp, Constantin Brâncuși, Naum Gabo, Alberto Giacometti, Henry Moore oder Lynn Chatwick gesetzt: zum Gutteil Zeugnisse für die formal befreite, geistig befreiende – und selbst in ihren Abstraktionen auch auf gesellschaftliche Wirkung zielende! – Aufbruchstimmung der Bildhauerei nach dem Zweiten Weltkrieg.
Diese Beziehung ist ihr, wie wir finden, überzeugend gelungen.
Die Vermessung der Museumsarchitektur
Das liegt nicht zuletzt auch an einer hervorragenden Ausstellungsarchitektur, die die oftmals verwirrenden Blickachsen des Erweiterungsbaus von Manfred Lehmbruck aus den Achtzigerjahren mit Stellwänden und halbdurchsichtigen Vorhangstoffen neu ausrichtet.
Und so zwischen den Exponaten neue, teils stofflich halb verdeckte Bezüge schafft, die man als Besucher in der Bewegung wie auf Entdeckungsreisen selbst erschließen muss.
Das verschafft in den an sich ja riesigen weißen Kuben eine architektonische Balance und Ruhe, die den gezeigten Werken würdig ist. Und es setzt Raum und Betrachter in ein geodätisches Spannungsverhältnis, das Barbara Hepworth sicher gefallen hätte.
Denn wenn “eine Skulptur nicht ohne Einbeziehung des eigenen Körpers geschaffen werden” kann, wie Hepworth einmal sagte, dann gilt das nicht minder für den umrundenden Betrachter.
Wie fand Hepworth zu ihrer Formensprache?
In Duisburg wird die Modernität Hepworths aber nicht nur durch die Zeitgenossen der eigenen Sammlung unterstrichen: “Die Befreiung der Form” setzt ihr famoses Werk auch zu den Arbeiten von Gegenwartskünstler*innen in Dialog, die klar von ihr beeinflusst wurden.
So vermisst die Britin Tacita Dean einen riesigen Raum mit 130 Vergrößerungen von Motiven aus ihrer Postkartensammlung, deren aus Natur und Kultur entstammende Geometrien, Geografien und Formationen Hepworhs Formensprache in assoziativen, teils humorvollen Bezügen aufgreifen oder nachzubilden suchen.
Kakteen, Blätter und Korallen
Und ihre Schweizer Kollegin Claudia Comte hat aus einem einzigen Mammutbaumstamm – wie für sie typisch mit der Kettensäge – jeweils zwei biomorph-abstrakte, überdimensionierte Kakteen, Blätter und Korallen herausgeschält, geglättet und anschließend vor einem Buchstabenhimmel aus Schlagzeilen zur Klimakatastrophe auf einen betörend duftenden Mulchboden drapiert.
Da wird das Museum dann selbst zu einer von den Maserungen des Holzes und der Sprache dominierten Landschaft, durch die der Besucher wie ein Geodät der Kunst hindurchnavigieren kann: immer im auch schon von Hepworth kultivierten Bewusstsein, dass die skulpturale Schönheit der Natur weltweit von Menschenhand bedroht ist: inzwischen wohl bedrohter als jemals zuvor.
Quod erat demonstrandum!
Ach ja: Wir haben nochmal genauer im Ausstellungskatalog nachgelesen. Und festgestellt, dass Hepworth das, was wir aufgrund eigener Anschauung vermutet haben, mit Worten bestätigt hat. Wir sind ja sonst nicht so fürs Biografische, aber dieses Statement zum Kindheitsblick der Landvermesserin geben wir aus gegebenem Anlass & mit einer gewissen Genugtuung hier trotzdem in ungewohnter Länge wieder:
“Alle meine früheren Erinnerungen handeln von Formen, Gestalten, Texturen. Ich erinnere mich, wie ich zusammen mit meinem Vater in seinem Auto durch die Landschaft fuhr, und die Hügel waren Skulpturen, die Straßen grenzten Formen ab.
Da war dieser Eindruck von physischer Bewegung über die Fülle von Hochmooren, durch die Senken von Gipfeln und Tälern, sie mit Geist, Auge und Hand zu fühlen, zu sehen, zu erfassen. Die Struktur der Dinge zu begreifen. Skulptur, Fels, ich und die Landschaft. Das Gefühl hat mich nie verlassen. Ich, die Bildhauerin, bin die Landschaft.”
Quod erat demonstrandum. (24.04.2023)
“Die Befreiung der Form. Barbara Hepworth – Meisterin der Abstraktion im Spiegel der Moderne” ist noch bis zum 20. August 2023 im Lehmbruck Museum in Duisburg zu sehen.
Das Lehmbruck Museum in der KunstArztPraxis:
Traum nach innen: Antony Gormley in Duisburg
In der Strafkolonie: Cardiff & Miller in Duisburg
Beuys, der Schüler: “Alles ist Skulptur” in Duisburg (teils Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Stephan Balkenhol: Hüllen für Geschichten (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Kommentare
“Ich bin die Landschaft.” B. Hepworth in Duisburg — Keine Kommentare
HTML tags allowed in your comment: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>