Ricardo Reuss: Der Fotograf der Gurke
Joseph Beuys wollte ihn nicht als Schüler, Erwin Wurm verdankt ihm seinen besten Einfall. Heute ist der Monokünstler Ricardo Reuss vergessen. Zum 70. Geburtstag des „Gurken-Fotografen“ wird sein Werk nun endlich entdeckt. Völlig zu Recht, finden wir! Eine Würdigung.
Vielleicht ist die Gurke das missachtetste Gemüse der Kunstgeschichte. Carlo Crivellis Versuch, sie im 15. Jahrhundert auf Madonnenbildern zu etablieren, muss als gescheitert betrachtet werden. Im Stilleben des 17. Jahrhunderts taucht sie bei Giovanna Garzoni oder Juan Sánchez Cotán höchstens am Rande auf. Nur bei Giuseppe Arcimboldo darf sie im Sommer immerhin die Nase spielen.
Laut Grimmschem Wörterbuch war „Gurkenmaler“ schon im 18. Jahrhundert ein Schimpfwort für einen „Maler kleinlicher Gegenstände“. Und in der Gegenwart kommt das Gemüse scheibchenweise höchstens einmal bei den Installationen von Anna Oppermann vor.
Und in der Fotografie? Bei Edward Weston, Imogen Cunningham, Robert Mapplethorpe, Wolfgang Tillmans, Andreas Gursky? Nein. Keine Gurke. Nirgends.
Mit dem Blick des Bildhauers
Tatsächlich scheint Erwin Wurm der erste Gegenwartskünstler, der die Gurke zum Gegenstand von Skulpturen gemacht hat. Natürlich als Witzfigur. Dabei verdankt der österreichische Bildhauer den Einfall einem Fotografen, der sich Zeit seines Lebens sehr ernsthaft mit nichts anderem als der Gurke beschäftigt hat: Ricardo Reuss.
Was Wurm an Reuss beeindruckt hat, ist klar. Denn der Fotograf denkt die Gurke vom Skulpturalen her. Nicht zuletzt der für Wurm wichtige Aspekt einer „Zunahme und Abnahme von Volumen“ im bildhauerischen Prozess ist bei Reuss fotografisch durchdekliniert.
Das illustriert vor allem die zentrale Serie „The Cucumber Diaries“ (1977-1989), die anhand von tausenden, teils surreal verfremdeten Fotos den „biografischen Zerfall“ einer Gurke zeigt.
Es ist ein Lebenslauf, den Reuss über einen Zeitraum von zwölf Jahren mit verschiedenen, nach Aspekten der Ähnlichkeit in den Supermärkten der Insel sorgsam zusammengesuchten Gurken inszeniert hat. Getreu dem Motto des Monokünstlers, das sich im Vergehen der im Lauf der Zeit zerstörten Gurke das Schicksal des Menschen widerspiegle.
Und tatsächlich ist auch die von herben Rückschlägen geprägte Biografie des Fotografen von Anfang an eng mit der Gurke verknüpft.
„Störrische Monothematik“?
Geboren wird Reuss 1951 als Sohn eines Metzgermeisters und einer kubanischen Guiro-Spielerin im brandenburgischen Lübbenau. Schon als Kind muss er zuhause Gurken für den Fleischsalat des VEB Niederlausitz zerkleinern, in dem sein Vater arbeitet – eine Tätigkeit, die er in seiner unveröffentlichten Autobiografie „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“ als traumatisch beschreibt.
1971 flieht Reuss aus der DDR in den Westen. Ein Jahr später ist er der einzige Schüler, den Joseph Beuys aus seiner Klasse an der Düsseldorfer Kunstakademie wirft – wegen „störrischer Monothematik“, wie Beuys im Begründungsschreiben an den damaligen NRW-Wissenschaftsminster Johannes Rau erklärt.
Später kann Reuss, der der Gurke zunächst in Öl und mit Ton Herr zu werden sucht, keine Galerie in NRW für sich gewinnen. 1977 wandert er frustriert nach Mallorca aus, wo er auf die Fotografie überschwenkt: „The Cucumber Diaries“ entstehen.
Die 1989 in Kraft getretene EU-Verordnung Nr. 1677/88 über Mindestgewicht, Färbung und Krümmungsgrad von Gurken stürzt Reuss in eine schwere Sinn- und Schaffenskrise:
Plötzlich ist jene spezielle Anatomie, auf die er sein ganzes serielles Werk seit 1977 begründet hat, in den Supermärkten nicht mehr auffindbar. Auf die Bauernmärkte will er nicht ausweichen: Ihm geht es ja um die entfremdete Existenz.
Erst kurz vor seinem Tod erfindet sich Reuss, natürlich wieder mit Gurkenbildern, gänzlich neu. Er stirbt 1993 völlig verarmt in Port de Pollença. In seinem Nachlass finden sich rund 20.000 Gurken-Fotos, die inzwischen im Archivo de las artes in Palma lagern.
Stationendrama eines Gurkenlebens
Bis heute ist Reuss, wenn überhaupt, dann eher ein „artist’s artist“ geblieben. Das könnte sich zu seinem 70. Geburtstag endlich ändern: Momentan jedenfalls sind 24 teils großformatige Abzüge der „Cucumber Diaries“ in der städtischen Galería 15 de octubre in Manacor auf Mallorca zu sehen.
Die Kuratoren haben sie gut ausgewählt – zeigen sie doch auch in dieser Reduktion auf wenige Exponate anschaulich den konzeptionellen Ansatz eines teils als Passionsgeschichte über verschiedene „Stationen“ erzählten menschlichen Lebenslaufs anhand der Gurke als Stellvertreter.
Dabei spannt sich der Bogen von der „Geburt“ der ja eigentlich aus dem Supermarkt stammenden Gurke in einem anonymen Gemüsegarten bis hin zur kerzenbeschienenen „Totenmesse“ in der Pfarrkirche „Transfiguració del Senyor“ in Artà mit anschließender „Luftbestattung“ auf den Stangen wieder eines Gemüsegartens: Der Kreis schließt sich, neues Leben kann aus den Resten des alten entstehen.
Dazwischen liegen Stationen, die die Gurke an für Menschen normale, für Gemüse aber eher ungewöhnliche Orte bringt: An den Strand und auf Stadtmauern, in der Fußgängerzone, auf eine stilisierte Nachtbühne oder – in einem perspektivischen Wechsel von Natur auf Kultur – in die Plastikschalen eines Markts für Kunsthandwerk.
Bewusst wird dabei auch eine erotische Ikonographie bemüht, die bestimmte durch die Kunstgeschichte geprägte Assoziationen (Katze, Phallussymbolik usw.) frei zitiert. Aber es geht auch um Fremdheit und Einsamkeit. Und um verzweifelte Selbstinszenierung, also den Wunsch nach künstlerischer Anerkennung.
Bemerkenswert ist einmal mehr, dass Reuss auf den Fotos formale Aspekte der Komposition thematisiert, die eigentlich dem bildhauerischen Bereich entstammen. Im Zentrum steht dabei eindeutig das Problem des Sockels, der mal von einer Paprika vertreten wird, mal von einem Baustellenkegel in der Innenstadt und mal von einer den ganzen Bildraum überwuchernden Kaktee.
Auf einem Bild ist der „Sockel“ durch einen Schraubstock ersetzt, der die Gurke von „Kopf“ bis „Fuß“ erdrückend umrahmt. Und so abermals das Bild menschlichen Leidens evoziert: Form und Inhalt bedingen sich wechselseitig wie bei Walter Benjamins Socke.
Neuverortung in der Kunstgeschichte
Etwas ganz Besonderes haben die Kuratoren bei den Vorbereitungen zur Ausstellung eher zufällig im Depot des Archivo de las artes in Palma entdeckt. Sie stießen auf eine Serie, in der Reuss in ganz eigener – und für die damaligen Verhältnisse sicher auch ganz provokanter – Manier auf die Madonnenbilder des Gurkenmalers Carlo Crivelli anspielt. Auf Wunsch holen die Museumswärter die Fotos für Besucher aus den Grafikschränken.
Es handelt sich um 85 Aufnahmen des „Gurkenchristkinds“, die der Monokünstler offenbar kurz vor seinem Tod geschaffen hat. Sie belegen, wie stark Reuss selbst nach seinem psychischen Zusammenbruch noch darauf bedacht war, das vielleicht missachtetste Gemüse der Kunstgeschichte auch mit historischen Bezügen in der Gegenwartskunst neu zu verorten. (01.04.2021)
„Ricardo Reuss. The Cucumber Diaries“ ist noch bis zum 25. Mai 2021 in der Galería 15 de octubre in Manacor zu sehen. Leider gibt es keinen Katalog.
Warum wollte Beuys den eigenwilligen Rico Reuss nicht als Schüler, wenn Jupp doch jedem eine Chance geben wollte, sein Potenzial zu entfalten? Lag es am Beginn des ebenso eigenwilligen Frühlingsmonats, als die meisten von Reuss Werken entstanden? Beuys hätte sicher auch seinen Spaß an den Gurkenbildern gehabt. Danke – Lachen ist gute Medizin.