Hausbesuch bei Jan Paul Evers: In Dunkelkammern
Heute wird es etwas theoretisch, denn wir waren bei Jan Paul Evers. Und der erdenkt sich seine Fotos irgendwie visuell. Das ist klug komponierte, abstrahierende Lichtbildnerei aus der analogen Dunkelkammer. Mit neuen Mitteln. Da kommt man leider mit Roland Barthes nicht weiter.
Dochdochdoch: Wir Drei sind große Freunde französischer Gehirne! Für uns gehören französische Gehirne sogar zu den luzidesten Dunkelkammern diskursifen Denkens überhaupt. Die Essayistik Montaignes ist uns meilenweit näher als die von Bacon! Nicht, dass wir uns missverstehen.
Nur gehörte Roland Barthes leider das letzte französische Gehirn, das wir irgendwie noch zu begreifen können glaubten.
Dann kamen die Poststrukturalisten, die dachten, man müsse die luzide Dunkelkammer vantablack auskleiden und das Rotlicht entfernen, sprich: sich schwarzmöglichst ausdrücken, um besonders helle zu wirken. Da sind wir dann irgendwann ausgestiegen.
Warum erzählen wir das eigentlich?
Wir erzählen das eigentlich nur, weil wir Jan Paul Evers bei unserem Besuch in seinem Kölner Atelier erzählten, dass wir wegen seiner Fotos auf unserer Fahrt zu Mischa Kubal Roland Barthes “Die helle Kammer” (1980) nochmal gelesen hätten.
Und Jan Paul Evers empfahl uns daraufhin, es mal mit François Laruelles “Non-Photografie / Photo-Fiktion” (2011/2012) zu versuchen. Haben wir gemacht. Nur Bahnhof verstanden. Irgendwann ausgestiegen.
Also haben wir bei Jan Paul Evers einfach mal nachgefragt: Warum um Himmels Willen die vantablacke Dunkelkammer des François Laruelle?
Eigentlich nur, weil François Laruelle in seinem Buch eine Neupositionierung der Fotografie postuliere, hat Jan Paul Evers gesagt. Und das versuche er ja mit seinen Fotos umzusetzten.
DAS hat uns dann unumwunden eingeleuchtet. Denn tatsächlich ist das, was Jan Paul Elvers im Hirn von François Laruelle fixiert hat, für seinen Fall viel treffender als die vom traditionellen Foto her kommende Essayistik eines Roland Barthes.
Das liegt aber nicht am Gehirn von Roland Barthes, sondern eher daran, dass Jan Paul Elvers‘ Fotografie etwas ganz Eigenes ist – und dies, obwohl er in einer traditionellen Dunkelkammer mit Rotlicht arbeitet, Entwickler, Stopp- und Fixierbad nutzt.
Wie können wir’s erklären? Vielleicht, indem wir Evers’ Position aus ihrem Negativ heraus entwickeln, also aus der hellen Kammer von Roland Barthes.
In Barthes’ heller Kammer
“Was die Photographie endlos reproduziert, hat nur einmal stattgefunden”, schreibt Barthes. Und: “Im Bild gibt sich der Gegenstand als ganzer zu erkennen, und sein Anblick ist gewiss.” Oder: “Was ich feststellen kann, ist, dass es so gewesen ist.”
Stimmte früher ja schon nur bedingt. In Bezug auf Jan Paul Evers ist es aber alles falsch. Wie bei Goethe und den Bienen.
Das, was Evers’ Fotos zeigen, gibt es nämlich eben nicht. Es hat auch nie – oder mehrfach, also ebenfalls niemals – stattgefunden. Und jedes Foto ist als Fata Morgana dessen, was Barthes “Referent” (meint: eine Pendant in der Wirklichkeit) nennt, ein Unikat.
Was unser Sehen geistig fordert
Evers’ Schiffe sind keine Schiffe, seine Palmen keine Palmen. Die Architekturen sind Schablone, die Sterne in positivem Sinne Blendwerk. Das ist das Schritt für Schritt – und im Wechsel zwischen digitalen und analogen Verfahren – entstandene Tolle, das rätselhaft Poetische.
Und damit eher Montaigne als Bacon.
Und wenn es eine digitale Vorlage (also ein schon mehrfach reproduziertes Foto) gegeben haben sollte, dann ist es auf den Baryt-Prints durch Abwedeln, Maskieren oder Nachbelichten in der echten Dunkelkammer bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert, zu einer neuen Wirklichkeit erwacht.
Und fordert unser Sehen geistig-visuell heraus.
So wie die angebliche Abbildung von Genom-Sequenzen, die wir im Atelier gesehen haben. Da können jetzt selbst die Wissenschaftler*innen nicht mehr sagen, von welchem Tier sie stammen, sagt Jan Paul Evers. Analytische Bedeutung ist zum puren Bild mutiert. Und wir Laien bemerken nicht einmal den Unterschied, es sieht SO echt aus.
Wir kennen ja nur die Bilder. Das sollte uns zu denken geben.
Malerei mit anderen Mitteln
Auch Barthes’ berühmtes “punctum”, also das den Betrachter begeisternde Detail, sucht man bei Evers vergeblich. Das ganze Foto, in seiner geometrischen, von diversen Grautönen getragenen, auch durch Belichtungs-Experimente gewonnenen Komposition, ist das, was uns ergreift.
Bei Barthes war die Fotografie die Anwesenheit von etwas Vergangenem, bei Evers ist sie die Präsenz von etwas nie Dagewesenem. Es sind autonome Bilderfindungen wie in der Malerei, nur mit anderen Mitteln.
Wie könnte man das nennen? Künstlerische Lichtphilosophien vielleicht. Luzides Bild gewordene Unschärfe-Relationen aus den Dunkelkammern diskursifen Denkens? Aber eben in sinnlich, in ersichtlich. DAS auf jeden Fall.
So irgendwie reimt sich das in unseren Augen & Hirnen zusammen
Wir wollen gar nicht sagen, dass das, was Evers macht, keine Vorbilder hat. Der Konstruktivist Lászlo Moholy-Nagy hat in seinen Überlegungen zur Fotografie schon zwischen “Reproduktion” und “Produktion” von Lichtbildern – auch ohne Kamera, nur mit Dunkelkammer – unterschieden.
Die Moderne kannte ja schon Solarisation und Fotogramm, die ideologische Propaganda die Retusche. Da war man schon weiter als Roland Barthes später.
Trotzdem entwickelt Jan Paul Evers in seiner Kölner Dunkelkammer das Ganze auf eine uns sehr faszinierende Weise weiter. Und: Wir mögen einfach auch das Visuelle dieser Bilder – nicht nur das, was an Hirn dahintersteht.
Und ein guter, kluger Gesprächspartner ist Jan Paul Evers auch.
(07.07.2024)
Appendix: Unsere poststrukturalistisch-feuilletonistische Vergangenheit
Das mit unserer Verachtung des Poststrukturalismus stimmt nicht so ganz: Gilles Deleuzes Essay über einen Satz aus unserer drittliebsten Erzählung, Herman Melvilles “Bartleby”, haben wir sogar zweimal gelesen, das mit dem Rhizom war klasse.
Und Paul Virilio, über den wir 2024 wiederum mit Mischa Kuball gesprochen haben, verdankt Einer von uns (KunstArzt2) eines seiner beglückendsten Zug-Erlebnisse. Und das kam so:
Es war der 18. November 1994: ein Donnerstag, natürlich. Unser Einer, noch Student, saß bei nie gekanntem Tempo im Großraumwagen eines drei Jahre zuvor bei der DB eingeführten, “ICE” genannten Hochgeschwindigkeitszuges aus München. Ziel: Münster.
Und ihm schräg gegenüber am Tisch saß eine Dame, die in der ZEIT SEINEN Beitrag “Wir werden Maschinen sein” über Paul Virilios Buch “Die Eroberung des Körpers” las. Rund 15 Minuten lang – also vermutlich alle 200 Zeilen zu 48 Anschlägen, die ganze halbe ZEIT-Seite von oben links bis unten rechts!
Hach, sagt unser Einer. DAS war schön.
Offenbar hat unser Einer in der “Süddeutschen Zeitung” 2002 auch mal etwas über Jean Baudrillard geschrieben, er erinnerte sich nur nicht mehr daran. Aber er hat beim Aufräumen vor Kurzem ein Päckchen des ihm komplett unbekannten Inventur Verlags gefunden, der an seine Münchner Anschrift, aber z. Hd. “Herrn Jean Baudrillard” adressiert war.
Darin fand sich das Buch “Sterbehilfe für Planeten” – und eine drollige, aus schlechtem Gewissen entstandene Notiz, für die wir dem Inventur Verlag auf ewig dankbar sind. Sie lautet:
“Sehr geehrter Herr Baudrillard, wir haben uns erlaubt, Sie auf Seite 517 kurz zu zitieren. Bitte entschuldigen Sie die falsche Schreibweise Ihres Namens. Freundliche Grüße Inventurverlag.”
Und als unser Einer auf Seite 517 im Buch nachsah, fand sich dort einen Satz, den er von Jean Baudrillard in der “Süddeutschen Zeitung” zitiert hatte. Da hat er sich wieder erinnert. Man wird ja geschrieben, man ist gar nicht Autor. Auch nicht Jean Baudrillard.
Drollig. Oder, um es mit den Strukturalisten UND den Poststrukturalisten zu sagen (zumindest mit jenen, die sich noch auf de Saussure berufen): Hier klafft Bezeichnendes (“Jean Baudriallard”, sic!) und Bezeichnetes (KunstArzt2) mindestens genauso signifikant – oder signifikat? – auseinander wie auf den Fotos von Jan Paul Evers Abbild und vermeintliche Wirklichkeit.
Da ist beim Inventurverlag das semiotische System auf eine Weise kollabiert, die fast schon an die Fehlinterpretation der Ontologie Martin Heideggers durch die französischen vantablacken Poststrukturalisten heranreicht.
Von daher passt ja alles wieder.
Bitteschön. Dankeschön. Ihre KunstArztPraxis.
Wir werden Maschinen sein (DIE ZEIT, 18.11.1994)
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