Mary Bauermeister: Begräbnis mit Feldsalat
Im April haben wir etwas zu Grabe getragen, das Mary Bauermeister gewesen sein soll. Aber kann man Jemand beerdigen, der nur die Ebenen gewechselt hat? Und wie ging das vonstatten? Hier unsere Erinnerung an eine Grablegung, die irgendwie desillusionierend und ein Traum war – an einem zauberhaft unwirklichen Ort.
Plötzlich ist da ein Wald, fast wie im Traum. Wir sind von einer hässlichen Straße gekommen, daran erinnern wir uns noch. War da ein Tor? Jetzt sind da nur noch Bäume. Zwischen ihren Stämmen vibriert ein herzzerreißend schmerzerfülltes Sopransaxophon.
Durch das Rauschen der Musik und der Äste fließt ein Bach, zwei Windhunde lagern stolz an einem kleinen Teich. Warum dürfen hier Hunde sein?, denken wir noch. Da, wo wir herkommen, dürften hier eigentlich gar keine Hunde sein! Wir können das alles schon jetzt nicht mehr fassen.
Wir gehen Richtung Himmel. Es ist ein sanfter Anstieg, wir schwitzen trotzdem: Wir tragen ja viel zu warme schwarze Mäntel! Der Weg führt über Holz, über Moos, über Schotter, über Namen. Sie sind in Pflastersteine eingeritzt. Was liegt darunter?
Wir überschreiten einen Glassarg wie von Schneewittchen, wir schauen aber nicht hinein wie die Zwerge. Stattdessen blicken wir auf einen Riesen, der einen Drachen reitet. Und auf eine Gottheit, die eine Handvoll Menschen frisst.
Oder umarmt, empfängt, willkommen heißt?
Von oben herab baumeln drei Bienenstöcke, in denen etwas Totes wohnen könnte. Ein Mensch? Zwei Hunde? Drei Bienen? An diesem unmöglichen Ort könnte alles möglich zu sein.
Der unmögliche Ort heißt „Gärten der Bestattung“. Er liegt in Bergisch Gladbach. Wir haben schon viel gehört von ihm, deshalb sind wir früher gekommen. Die Beerdigung Mary Bauermeisters findet erst in einer Stunde statt.
Wir setzen uns auf eine Steinbank, die auch ein Grab sein könnte. Zu unseren Füßen steht ein Gong. So einen hatte Mary Bauermeister in ihrem alten Garten, nur größer. Und ohne Namen! Auf diesem hier steht „Gabi“.
Irgendwann kommt eine Katze und legt sich grußlos schnurrend zu uns auf den warmen Sitz. Als wir sie streicheln wollen, zieht sie mit versinkenden Augensternen weiter.
Der falsche Wald im echten
Ganz oben, über uns – uns scheint: über allem – thront Mary Bauermeisters Grab. Vor knapp einem Jahr hat sie es eigenhändig eingeweiht. Es dauert etwas, bis wir die Stelen mit ihren Spiegelschriften und den Kristallköpfen, diesen künstlichen Wald im echten, vor lauter Bäumen sehen.
Als wir uns nähern, reißen die Wolken auf, die Sonne besprenkelt drei Schalen mit Erde, Steinen und Feldsalat. Auf einem Baumstumpfbett hängt ein weißer Engel. Er ist im Stürzen eingefroren. Oder bei der Auferstehung? Vielleicht haben ihn aber auch nur die Schatten der Bäume niedergedrückt.
Neben dem Feldsalat ist ein tiefes Loch. Dahinter liegen die Stümpfe zweier entwurzelter Bäume. Anders als die umgekippte Birke in Mary Bauermeisters altem Garten sind diese hier nicht mehr zu retten. Niemand hat sich die Mühe gemacht, ihre entwurzelten Wurzeln mit Erde zu umhüllen, sie bis zur Heilung über Monate stündlich zu gießen. So Jemanden gibt es jetzt nicht mehr.
Die Asche von so Jemandem füllt rund zehn Höhenmeter tiefer den Resonanzraum einer fellbespannten Trommel. Sie könnte aus Horn sein. Aber was in dieser Welt hat so große Hörner?
Die Trommel steht auf einer Bühne. Sie gehört zu einer geschmackvollen Installation mit Moos und Farnen und Fackelflammen, mit Prismen- und Linsenskulpturen auf Sockeln aus Holz. Schon wieder Stümpfe.
Vor der Bühne warten rund 140 Stühle im Halbkreis auf die geladenen Gäste: Bevor Mary Bauermeisters Asche Teil ihres eigenen Kunstwerks wird, muss sie noch Teil der Performance ihrer Bestattung sein.
Wie aus dem Nichts erscheint plötzlich eine sphärisch überdehnte Dame: Wir sind ja noch im Himmel! Wir sehen sie zunächst als Reflexion – in einem unwirklich wirkenden, komplett verspiegelten Kolumbarium, das Mary Bauermeisters geheime Stelenschrift erst lesbar macht.
„Das ist kein gefallener Engel!„
Die Dame ist älter als wir, aber unbestimmten Alters. Die Augen hinter ihren Brillengläsern sind riesig, die dürren Glieder übersinnlich lang. Ihr Kopf ist durch einen gewaltigen Stehkragen, der wie das weiße Schnittblatt einer Guillotine aussieht, vom Körper abgetrennt. Der Körper steckt in einem bodentiefen schwarzen Mantel: Wir wissen nicht, ob sie schreitet oder schwebt.
Die sphärische Dame ermuntert uns, die Figur auf ihrem Baumstumpfbett mit ihr gemeinsam wieder aufzurichten: „Das ist kein gefallener Engel!“. Wir glauben ihr und stellen den Ungefallenen zusammen gerade. Verwundern kann uns an diesem staunenswerten Ort inzwischen gar nichts mehr.
Das Spiegelbild der Frau schwebt wieder zur Erde. Wir folgen ihm nach. Inzwischen muss Zeit vergangen sein: Die Stühle haben sich mit Gästen aufgefüllt. Wir kennen viele hier persönlich, teils näher. Die Literatin und die Feministin kennen wir aber nur aus dem Fernsehen, die amerikanischen Galeristen und die Sammlerin aus New York nur vom Film. Und die beiden stolzen Windhunde kennen wir vom Teich.
„Sie war so glücklich da!“
Die Stimmung ist fröhlich, ausgelassen. Es ist viel positive Energie im Wald. Sie strömt aus einem Kreis, in dem Mary Bauermeister keinen Nachnamen trägt. Und alle wollen über Mary reden. Nein: über sich und Mary. Wir tun das auch.
Eine Journalistin eilt auf uns zu, wir kennen sie aus Mary Bauermeisters Küche. Anders als bei der sphärisch überdehnten Dame machen ihre Brillengläser ein freundlich pulsierendes Zwinkern winzig klein. Die Journalistin zeigt uns ihre „super Fotos von Mary“ auf dem Smartphone, lächelnd im Sterbebett, auf der Palliativstation: „Sie war so glücklich da!“.
Irgendwann wird die Journalistin ersetzt durch eine nicht minder impulsive Bratschistin. Sie berichtet, dass Mary vor einer halben Stunde irgendwo in den Gärten mit ihr Kontakt aufgenommen habe – „hier!“, während sie sich kräftig mit der Faust auf den Bauch klopft. „Genau wie Udo, kurz vorher! Dabei habe ich schon seit Jahren nicht mehr an Udo gedacht!“
Wir kennen Udo nicht. Auch nicht die Dame, die uns verwechselt haben muss. Wir nicken trotzdem. Dies ist ja auch der Kreis der Geister.
Die Tasche meiner Mutter
Der Bestatter betritt die Bühne, die Performance beginnt. Sein Eröffnungswitz, der auf die Überlebensenergie der Verstorbenen in ihrem Kampf gegen den Krebs anspielt: „Irgendwann habe ich wirklich geglaubt, Mary sei unsterblich“, trifft den Nerv der Trauergäste. Auch den von uns: Wir lachen mit.
Danach erzählt der Bestatter vor allem von seinem unglaublichen Friedhof. Davon, dass hier sogar ein Waldkindergarten angeschlossen, dass bis auf gänzlich anonyme Bestattung – Gaby genügt! – fast alles möglich sei. Ein Sohn habe die Asche seiner Mutter in ihrer Lieblingshandtasche begraben. Marys Trommel ist also nicht die originellste Idee.
Nach dem Bestatter kommt ein Mann mit einem Sopransaxophon. Neben einer Klangschale und einem Laptop erwarten ihn zwei Glöckchen, die er später wie bei der Bescherung klingelt. Wir kennen sie (und ihn) von Mary Bauermeisters weißem Klavier.
Der Musiker ist der Sohn von Mary Bauermeister und Karlheinz Stockhausen. Zu Lebzeiten hat die Mutter ein Requiem bei ihm bestellt. Die waldluftfüllenden Vibrationen bei unserer Ankunft waren seine Probe.
„Ihr alle wisst, wie Mary gelebt hat“, sagt der Sohn. „Jetzt erzähle ich euch, wie sie gestorben ist.“
Wie Mary Bauermeister gestorben ist
In unserem Nachruf haben wir Mary Bauermeister jenen schnellen, sanften, selbstbestimmten Tod daheim gewünscht, den sie sich selbst erhofft hat. Nun erfahren wir, dass der Tod auch ihr keine drei Wünsche hat erfüllen wollen, ihr in den qualvollen Monaten des Sterbens keine Wahl ließ. Nicht einmal ihr.
Wir erfahren, dass Mary Bauermeister schließlich um das lang verschmähte Morphium bittet. Dass sie irgendwann auf die Palliativstation ins Krankenhaus will – auch, um das vorher ersehnte Wechseln der Ebenen (bitte bitte!) noch etwas hinauszuzögern.
Wir hören von Halluzinationen: ein verzweifeltes Aufbäumen der einst doch so autonomen Phantasie, gepaart wohl auch mit der Erinnerung an den als Droge wirkenden Hunger früher Künstlerjahre:
Von Brot, das in allen nur erdenklichen Geschmacksvariationen auf wundersame Weise immer wieder nachwächst wie damals im Schlaraffenland oder am See Genezareth.
Und von einer rauschaft herbei imaginierten Generalprobe der eigenen Auferstehung wie bei Lazarus.
Bis auch der Humor entweicht
Der Sohn erzählt vom schmerzverzerrten Krümmen auf dem Küchenboden, von demütigenden Hilflosigkeiten. Vom Atem, der rasselnd wird, bis er im flachen Japsen verebbt. Vom endgültigen Zerbrechen des schon lange brüchigen Körpers. Und vom Lachen über den Zerfall, die neuen Unzulänglichkeiten. Bis eben auch der Humor durch die Poren verpufft.
Wir sind sehr sicher, dass er nicht alles erzählt.
Trotzdem: Bei jedem Klingeln der Glöckchen erfahren wir etwas desillusionierend Neues. Die Klänge des Saxophons umhüllen nicht länger die Bäume, sondern, gepaart mit der heilsamen Enttäuschung der Worte, unsere trügerischen Phantasien.
Trotzdem: Das lächelnmachende Bild vom Sohn, der mit der Mutter im Arm zur Toilette tänzelt, um ihr die wenigen Meter erträglicher zu machen, wird uns wohl noch lange im Gedächtnis bleiben. Auch das Bild der Amsel, die im rechten Moment vor dem Fenster des Sterbezimmers auf der Palliativstation zwitschert.
Und die zwei Fragen Mary Bauermeisters, die so schön, so poetisch und gleichzeitig so unendlich traurig sind. „Wo war ich gestern?“, lautet die erste, schon markerschütternde Frage. Und die zweite: „Und wo war ich nicht?“
Nach dem Requiem mäandern wir im Tross auf Serpentinen hinter der Trommel her wieder himmelwärts zum Grab. Inzwischen hat es zu regnen begonnen, der Bestatter hat Schirme verteilen lassen. Das Wetter passt sich einfallslos öde dem Ereignis an.
Oben wird die Trommel wohl ins Loch gelassen. Dann wäre Mary Bauermeisters Resonanzraum jetzt die ganze Erde – und, über die wolkenkratzenden Kristallantennen verbunden, der Kosmos auch. Wir können es jedoch bis heute nicht mit Bestimmtheit sagen: Wir sehen das Loch vor lauter Schirmen nicht.
Aber auf dem Meer aus grauem Stoff schwimmen Mary Bauermeisters Kristalle wie Bojen.
Irgendwann fordert der Sohn die Trauergäste auf, von dem, was im Loch sein könnte, Abschied zu nehmen. Jeder darf etwas aus den Schalen hinabwerfen und hören, ob die Steine und die Erde und der Feldsalat Töne in der Unterwelt erzeugen. Ob die Erde bebt.
Wir stellen uns brav in die Schlange, nehmen Steine und Feldsalat. Erde trauen wir uns nicht. Wer sind wir denn, dass wir Erde auf Mary Bauermeister schütten dürften?
Wir lauschen. Es gibt keinen Ton. Nichts erbebt. Kein Blitz saust von den Kristallen zu den Sternen.
Die Performance neigt sich zum Ende. Traurige Tulpen werden als Rahmen ums Loch drapiert, eine exzentrische Dame mit Sonnenbrille wirft Konfetti in die Lüfte, das mit den Regentropfen – und auch ein paar Tränen? – wie in Zeitlupe herunter rieselt. Später werden wir erkennen, dass es Kirschblütenblätter waren.
Jetzt sehen wir auch, dass der weiße Engel auf seinem Baumstumpfbett eine bunte Arm- oder Flügelbinde bekommen hat: Irgendjemand muss sie ihm in der Zwischenzeit umgebunden haben. Als Ausdruck irgendeiner zauberhaften Verbundenheit, der ihr Geheimnis vor uns Außenstehenden bewahrt.
Dann steht auf einmal ein gedankenverlorenes Mädchen allein am Grab, minutenlang: eine Studentin der Alanus Hochschule in Alfter vielleicht, die mit Mary Bauermeister gearbeitet hat? Es ist ein inniger, ehrlicher Moment, für uns einer der innigsten des Tags. Jetzt ist die Zeit der Jugend gekommen.
Während wir noch verstohlen zu dem Mädchen hinübersehen, eilt eine andere junge Frau strahlend auf uns zu. Es ist die angehende Restauratorin, mit der wir Marys letzten Weihnachtsbaum schmücken durften.
Danach haben wir noch ein, zwei Male mit ihr Forelle gegessen. Freitags gab es bei Mary ja geräucherte Forelle. Auch der Zähne wegen.
Wir unterhalten uns. Nicht über Mary Bauermeister, sondern über einen neuen, gerade erst beginnenden Lebensweg. Meister-Prüfung, dann Studium, und dann: Italien! Das Leben hat den Atem nur kurz angehalten. Aber es pocht natürlich noch immer faltenlos lächelnd in der nächsten Generation.
Aus irgendeinem Grund stochern wir beim Erzählen gemeinsam in den übrig gebliebenen Steinen. Zu unserem Erstaunen finden wir welche mit Farbsprengseln, mit Holzleim verklebte Strukturen, die der Zufall oder Mary Bauermeister oder beide gemeinsam zusammengesetzt haben.
Ein Schneckenhaus aus Glas, das an die Steintürmchen erinnert, ist auch darunter: Am Ende ist es eine Schatzsuche nach Spuren, die Mary Bauermeister selbst in diesem Unscheinbaren hinterlassen hat.
Und dann sagt diese junge Frau ganz plötzlich, aus heiterem Himmel: „Ich habe von Mary so viel gelernt!“ Bis heute sind wir ihr dankbar für diesen Satz.
Warum wir uns jetzt trauen, wissen wir nicht
Bevor wir gehen, werfen wir doch noch eine Schaufel Erde ins Grab: Wir sind wohl die letzten Gäste, die Mary Bauermeisters Asche mit Erde bedecken. Warum wir uns jetzt trauen, wissen wir nicht.
Und überhaupt: Ist da denn wirklich eine Trommel im Boden? Und ist da wirklich Marys Asche in der Trommel? Darin könnte ja alles sein! Oder nichts!
Dass Mary Bauermeister die Ebenen gewechselt haben soll, können wir auch im Nachklang dieser Performance nicht richtig glauben. Wir erwarten fast, dass sie plötzlich neben uns steht und mit uns gemeinsam verwundert in das leere Loch da unten blickt.
Dass ein Glöckchen klingelt und Mary Bauermeister wie Phönix aus der eigenen Asche, aus ihrem eigenen Kunstwerk aufsteigt: untermalt vom herzzerreißend fröhlichen Klang eines Sopransaxophons. Dass nach der Generalprobe der Auferstehung á la Lazarus in der Sterbenszeit nach dem Tod als Premiere die echte folgt.
Das sind UNSERE absurden Halluzinationen.
Wir wollen nochmal wiederkommen
Wir wollen nochmal wiederkommen. Vielleicht steht dann der Engel vom Baumstumpfbett mit seiner bunten Armflügelbinde am offenen Grab und schickt uns vom neuen Garten Mary Bauermeisters zurück in den alten? Oder die sphärisch überdehnte Dame mit dem schwebendem Gang und dem schwebenden Kopf geleitet uns dorthin?
Wir werden erst wieder nüchtern, als wir zurück auf der hässlichen Straße sind. Als uns der lärmende Verkehr umtost. Der Wald ist fort. Da war kein Tor. Der Traum ist zu Ende. (15.05.2023)
Appendix: Die drei Tode der Mary Bauermeister oder: 1+1 = 3
Ihren 78. Geburtstag wird Mary Bauermeister nicht mehr erleben. Davon ist die Künstlerin 2011 felsenfest überzeugt. In Rösrath bereitet sie alles für ihr Sterben vor. Sie räumt Haus und Garten für die Nachwelt auf, packt Persönliches in Kisten und zieht von der Hedwigshöhe in eine kleine Wohnung hinter den Berg: Um ihre Autobiografie „Ich hänge im Triolengitter“ zu beenden – vor allem aber, um mit dem Leben abzuschließen.
Noch am Vorabend des Geburtstags wartet sie aufs Sterben. Aber der Tod klopft bis zum 7. September 2011 nicht an die Tür. Fix und fertig sei sie um Mitternacht gewesen, erzählte sie uns sieben Jahre später am Küchentisch. „Wenn meine Ahnung mich in einem derart schweren Fall betrogen hat – welche anderen Irrwege bin ich noch gegangen?“
Dazu passt, dass Mary Bauermeister im Februar 2023 wieder felsenfest davon überzeugt ist, die Nacht nicht mehr zu überleben. Ihr Sohn beschreibt das in seinem Requiem. Die Familie eilt zum Sterbebett, sogar die Tochter reist aus Zürich an. Aber auch diese zweite Ahnung entpuppt sich als Irrweg, als Betrug.
Im Angesicht des ersten Todes hatte sich Mary Bauermeister 2011 einen Grabstein gemeißelt, der über ein Jahrzehnt vergessen und schlussendlich übermoost in ihrem Rösrather Garten lag, wohl immer noch liegt: „Hier ruht in Eile“ steht auf ihm geschrieben. „Hier ruht in Eile“ steht auch auf dem weißen Stein am jetzigen Grab. Erst dachten wir, Mary Bauermeister habe ihn mit einem ihrer schwarzen Filzstifte selbst geschrieben, gleich würde der Beerdigungsregen ihn verwaschen. Aber der Text widerstand.
Wir sind keine Graphologen, aber die Schrift ist die von Mary Bauermeister. Auch ihr Geburtstag trägt, wie wir glauben, ihren unverwechselbaren Duktus. Aber das Sterbedatum, der 2. März 2023 ist von fremder Hand hinzugefügt. Vermutlich hat der Tod den Tag höchstselbst in diesen Stein gemeißelt, um der Nachwelt den Vollzug seines Auftrags zu beweisen.
Wir trauen trotzdem lieber Mary Bauermeisters Formel. Zwei falsche Tode, der dritte richtig. Also 1+1 = 3. Deshalb muss es stimmen.
Lebe also wohl, Mary Bauermeister. Möge dieser dritte, der endlich felsenfeste Tod kein Irrweg, möge die gewechselte Dimension ein neues Ufer sein.
Anmerkung: Alle Erinnerungen des obigen Textes sind im ihrer Gesamtheit wahr, aber die (angehenden) Berufe und Namen der erinnerten Personen sind teils erfunden. Der kontaktsuchende Udo zum Beispiel verdankt seine Namensänderung unserem Lieblingslied von Nina Hagen: „Der Spinner“ von 1978, in dem sich bekanntlich Jemand einen Wald sucht, um sich im Moos ein Bett zu bauen – und dann am Ende doch lieber an ein anderes Ufer wechseln möchte. Ein Riesensaxophon spielt in diesem Wald eine Rolle, und Flöten, die – wie Stelen? – auf der Wiese wachsen.
Im Spinner, den uns der objektive Zufall bemerkenswerter Weise knapp eine Woche nach Mary Bauermeisters Beerdigung – und rund zehn Jahre nach dem letzten Hören – wieder ins CD-Fach unseres Autos spielte, finden sich auch die namensändernden Zeilen: „Ich frag die Alte wo der Wald ist. / Sie sagt: Mein Udo ist schon lange tot.“ Und der grandiose, von starken Trommeln untermalte Schlussakkord: „Ich dachte, dass du tief im Wald wohnst. / Ich wusste nichts von deinen Ufern!“.
Als wir den Spinner derart plötzlich & irgendwie auch von Mary Bauermeisters Beerdigung herkommend wieder hörten, also als ein anderes & komplett unerwartetes Requiem, erbebte doch noch kurz die Erde.
Und: Einen Salamander hätten wir Mary Bauermeister ins Grab werfen sollen! Nicht Erde oder Steine oder Feldsalat! Wer den „Spinner“ hört, wird das vielleicht verstehen.
Ebenen gewechselt. Zum Tod von Mary Bauermeister
KunstArztPraxis-Hausbesuch: Im Märchenreich. Zu Gast bei Mary Bauermeister
Kunst aus Prismen: Zum Tod von Mary Bauermeister (WDR)
Der Text hat mich jetzt echt gerissen, danke Thomas! Die Glöckchen waren nicht die von Marys Klavier, die Journalistin war das letzte Mal im September bei Mary, also nie im Hospiz und eine Sammlerin aus New York war nicht auf dem Begräbnis. Aber das sind vollkommen nebensächliche Korrekturen, deine Schilderung der Beerdigung ist toll.
Antwort KunstArztPraxis: Hab 1000 Dank lieber Simon, auch für die Korrekturen! Wir haben die falschen Erinnerungen trotzdem im Text gelassen. Wir bestehen ja irgendwie alle nicht nur aus Wasser, sondern, zumindest zum Teil, auch aus falschen Erinnerungen.
Wundervoll … aus ganzem Herzen Dank für diese Worte und Fotos … Love what you do … live your dream … auch Alb-, Wahn-, Schmerz- und Angst sind Teil des Träumens. Demut vor dem Geist im Leib des Körper Mensch sein, das war vielleicht noch wichtig. Auf den Salamander
Antwort KunstArztPraxis: Toll. Herzlichen Dank! Gerade dieser Kommentar bedeutet uns sehr viel. Auf den Salamander.
Berührende Worte und Bilder!
Herzlichen Dank fürs Mitnehmen!