Vergewaltigung durch Sehen: „Susanna“ in Köln
Zum ersten Mal überhaupt widmet sich eine große Ausstellung dem aktuellen biblischen Thema „Susanna im Bade“. Im Wallraf-Richartz-Museum geht es um sexuelle Nötigung, um Richter als Täter, um MeToo und Hitchcocks „Psycho“. Wir haben mit mulmigen Männerblicken reingeschaut.
Für uns Diagnostiker aus der KunstArztPraxis sind die schönsten Rätsel der Kunst immer jene, die beim Entschlüsseln nicht entzaubert werden, sondern uns staunend erst die Augen öffnen. Wie neulich im Fall von Alfred Hitchcocks „Psycho“ (1960), und zwar unten im Wallraf.
So grübelten wir jahrelang, welches Gemälde Norman Bates wohl von der Wand nimmt, um die nach ihrem Diebstahl in sein Motel geflohene Marion Crane in ihrer schwarzen Unterwäsche durch ein Guckloch zu betrachten, bevor er sie in Gestalt seiner knöchrigen Mutter unter der Dusche ersticht – und warum Mr. Hitchcock das gemacht hat.
Marion und die Alte
Seit unserem Besuch im Wallraf sind wir schlauer. Bei dem Gemälde handelt es sich um eine Kopie von Willem van Mieris‘ „Susanna und die Alten“ (1731): im Grunde ein Film-Still aus dem Alten Testament, bei dem sich im Kopfkino des geschulten Betrachters die ganze Erzählung abspult.
Von den beiden Alten, die die Nackte beim Baden im Garten betrachten und sie nötigen wollen, mit ihnen zu schlafen. Von der tugendhaften Susanna, die von den enttäuschen Alten nach ihrer Abfuhr aus Rache des Ehebruchs bezichtigt wird. Und vom weisen Propheten Daniel, der die Lüge durch getrennte Verhöre aufdeckt und Susanna so vor der Todesstrafe bewahrt, die dann statt ihrer die Lüstlinge erleiden.
Bei Hitchcock gibt es statt des umzäunten Gartens eine Blumentapete und ausgestopfte Vögel. Statt der beiden Alten ein schizophrenes Muttersöhnchen. Und statt des Bads die kurzzeitige Reinigung der inzwischen ja längst reuigen Sünderin unter der taufenden Dusche. Die dramaturgischen Verweise sind frappant.
Sexuelle Nötigung ist nur ein Teil
Seit „Susanna“ glauben wir zudem zu wissen, warum Hitchcock das mit dem Gemälde vorm Guckloch in „Psycho“ gemacht hat.
Im Grunde wollte uns der katholisch erzogene, inzwischen aber skrupellose Regisseur damit zeigen, dass seine Erzählung von der (männlichen) Beschmutzung eines reinen (weiblichen) Körpers so alt ist wie die Geschichte menschlicher Triebe. Und dass die Vergewaltigung eines Körpers mehrere Grade haben kann: Sie kann beim Gaffen beginnen und über den Umweg sexueller Begierde beim Morden enden.
Die durch scharfe Cuts besonders eindringlich gemachte Penetration Cranes mit dem Messer in der berühmten Duschszene ist in diesem Sinn das äußerste Extrem. Und, ja: auch, dass WIR bei der Ermordung zusehen, das innerste.
Es geht nicht zuletzt auch um unseren Voyeurismus: eine Art Vergewaltigung durch Sehen. In Bezug auf Miriam Cahns Bilder zur sogenannten Flüchtlingskrise haben wir diesen Effekt schon einmal beschrieben.
If looks could kill …
In der Kölner „Susanna“-Ausstellung ist Hitchcock ein ganzer Raum gewidmet: Man kann sogar durch ein Guckloch selbst auf Marion Crane in ihrer schwarzen Unterwäsche schauen. Das ist ein kuratorisch kluger Kniff. Zum einen schlägt die Schau so eine Brücke vom biblischen Motiv bis hin zur Gegenwart. Zum anderen verweist sie auf unsere Doppelrolle als Richter und Täter: Die Lust am Sehen hat einen faden Beigeschmack, den man in der Bilderschau, von Hitchcock kommend, nicht mehr los wird.
Das ist gut so, denn die meisten der 90 in „Susanna“ versammelten Werke machen uns das Gaffen nicht wirklich schwer. Es gibt viel nackte Haut zu sehen, die die überwiegend männlichen Maler offenbar mit leidenschaftlicher Bravour verführerisch in Szene setzten. Da werden blickdichte Tücher vor Hintern zur Seite gezogen oder durch Abwehrgesten derartig Brüste betont, dass die Moral von der Geschichte eher aus dem Blick gerät: Diese Maler waren geschickte Regisseure.
Bei Hans Makart räkelt sich die schlafende Susanna uns perspektivisch sogar noch lasziver entgegen als den im Hintergrund zur Staffage verkommenen Alten. Bei Francesco Hayez sind die beiden Schwerenötiger dann ganz verschwunden: Der Blick der uns direkt in die Augen schauenden Schönen kommt einer aufreizenden Einladung gleich, doch ruhig etwas näher heranzutreten.
Aber es gibt auch Ausnahmen. Eine kleine, imponierend unsexy daherkommende Druckgrafik von Jan Gillisz van Vlies zum Beispiel, in dem die klassische Schönheit des Aktes im Akt brutalsten Grabschens untergeht. Und es so aussieht, als habe der Kupferstecher in der geballten Faust des einen Alten nur Hitchcocks Messer zum Erstechen vergessen. Wir mussten mehrmals hinschauen: Es ist nicht da.
Da ist es dann eher wie in Hitchcocks grausamen Spätwerk „Frenzy“, wo sexuelle Nötigung und Mord in unerträglich lang gestreckten Szenen statt in schnellen Schnitten ineinander übergehen. Das muss man als Voyeur erstmal aushalten.
Das Messer gibt es dann andernorts in „Susanna“ tatsächlich: bei Kathleen Gilje. Die als Restauratorin ausgebildeten Künstlerin tut so, als habe sie Artemisia Gentileschis „Susanna und die Alten“ (1610) radiologisch durchleuchtet und dabei eine übermalte Schicht freigelegt, in der sich die Bedrängte mit der Waffe feministisch wehrt.
Das ist als Idee ebenso bestechend wie auf vielen Ebenen meisterhaft. Selbst dann noch, wenn man das Rätsel der eigenen Täuschung entschlüsselt hat.
Artemisia Gentileschi neben Kathleen Giljes „Susannna and the Elders, Restored“ (1998)
Das Original des Susanna-Bildes aus „Psycho“ von Willem van Mieris ist in der Kölner Ausstellung übrigens nicht zu sehen. Das wäre auch unmöglich, da es 1972 selbst einem Gewaltverbrechen mit dem Messer zum Opfer fiel. Vor 50 Jahren wurde es von einem unbekannten Täter aus dem Musée Hyazinthe Rigaud in Perpignan aus dem Rahmen geschnitten und entführt. Die menschliche Gier hat halt viele Gesichter – und bleibt hier wie so oft ein Rätsel: Richtig wertvoll war das Gemälde zum Zeitpunkt des Diebstahls nicht.
Wer weiß? Vielleicht sitzt der inzwischen alt und gebrechlich gewordene Dieb ja gerade jetzt auf seinem mit Kakteen besetzten Balkon und schaut sich unter dem Zwitschern eines unschuldigen Kanaris im Käfig lüstern die jung gebliebene Susanna an. Oder er streicht sogar mit runzeligen Fingern über ihre ölige Haut.
Wenn dem so wäre wie in unserer Männerphantasie, dann sollte er sich was schämen. (05.12.2022)
„Susanna – Bilder einer Frau vom Mittelalter bis MeToo“ ist noch bis zum 26. Februar 2023 im Wallraf-Richartz-Museum in Köln zu sehen.
Appendix: Von Hitchcocks Vögeln
Wir wollen den im echten Leben ja sehr liebevollen Raben sprachlich nicht unrecht tun, aber in „Psycho“ von 1960 geht es nun mal leider auch um eine tote (mumifizierte) Rabenmutter. Überhaupt spielen tote (ausgestopfte) Vögel im Film eine ebenso wichtige Rolle wie Susanna im Bade – Hitchcock war halt ein Meister hintergründiger Symbolik, der „nichts dem Zufall überließ“ (wie man so sagt).
In Norman Bates‘ Gruselmotel ist der Rabe neben dem Käuzchen wichtig, denn dieses Duo bringt seit dem Mittelalter bekanntlich Tod und Verderben. Schmerzlich vermisst haben wir persönlich ein, zwei ausgestopfte Tauben, die ja – durchaus mit den der pädagogischen Kaltherzigkeit bezichtigten Rabeneltern vergleichbar – ebenso fälschlich für Frieden und wahre Liebe stehen. Wer schon einmal männliche Exemplare zum Beispiel im Bahnhofsmilieu anwanzend hat turteln sehen, wird eher an sexuell harassment denken als an gefühlsechte Romantik.
Im Ranking der für „Psycho“ geeigneten Vögel jedenfalls belegt der Tauberich aus den oben im Beitrag beschriebenen Gründen eindeutig einen Spitzenplatz.
Darüber hinaus sind die Vögel in Hitchcocks „Psycho“ natürlich Ausdruck unserer geheimsten Ängste, dunkelsten Triebe und furchtbarsten Obsessionen, und in dieser Eigenschaft hat Mr. Hitchcock sie in „Die Vögel“ 1963 reanimiert und auf die Menschheit losgelassen – namentlich & mit dem größten sadistischen Vergnügen vor allem auf Tippi Hedren, die in ihrer Blondheit offenbar ganz seinem turteltäubigen Beuteschema entsprach.
Im Rahmen der MeToo-Debatte hat die Schauspielerin vor Kurzem nochmals erzählt, wie offensiv erniedrigend der über 30 Jahre ältere Regisseur sie machtmissbrauchend sexuell belästigt habe. Alfred Hitchcock war also offenbar noch schwerenötiger als die beiden Alten von „Susanna im Bade“, weshalb auch den „Vögeln“ im Kölner Hitchcock-Zimmer von „Susanna“ zu Recht etwas Raum gelassen wird. „Psycho“ ist eben auch ein Selbstporträt des Künstlers als lüsternes Ekel. Gerade, weil wir Hitchcocks Filme (und seinen schwarzen Humor!) sehr verehren, wollten wir das zumindest kurz erwähnen.
Wir sparen uns jetzt trotzdem das Wortspiel mit den Vögeln, um die Symbolik in die Realität zu holen, jeder kann sich das „m“ selber kaufen. Wir wollen dem Mann rhetorisch auch keinen (Vogel-)Schwanz anhängen, aber genauso schaut’s bei Hitchcock leider aus. Derartige Tauberichereien wollen wir in der Welt des Homo sapiens eigentlich nicht mehr sehen. Oder, um es mit Edgar Allan Poe auf den Doppelpunkt zu bringen:
„Quoth the Raven: Nevermore!“
Mal wieder ist nicht nur der geistreiche Artikel, sondern auch das photographisch-gestalterische Können des betreffenden KunstArztes zu loben. Durch den Einbezug des Betrachters und seiner technischen Vehikel (Kamera) wirft er einen Blick auf die Blicke und fügt dem Ganzen dadurch einen weitere reflexive Ebene hinzu.
Herzlichen Dank für den schönen Text. Es gibt begleitend zur Ausstellung auch eine Tanzperformance von XXTanzTheater im Museum, die noch zweimal dort gezeigt wird, am 19.1. und am 2.2.23, jeweils 19 Uhr, leider etwas versteckt auf der Webseite:
https://kunstfreunde.koeln/alle-termine/
Antwort KunstArztPraxis: Herzlichen Dank! Und: Diese Information reichen wir sehr gerne weiter.
Wieder eine wunderbare Einführung und Kommentierung und tolle Fotos, danke! – Kleine biblische Besserwisserei: Der Prophet ist Daniel, nicht David. Die Szene stammt ja aus den griechischen Zusätzen des Danielbuches (in kath. Bibel übrigens auch nicht apokryph). – Und dann möchte ich doch noch eine kleine Rehabilitation der Tauben versuchen: Biblisch sind sie keine Symbole des Friedens, sondern der Liebe. Weil sie so zärtlich miteinander sind (sie schnäbeln und schmusen wirklich ausgiebig) und als Paare oft jahrelang treu. Durch mein Fenster zum Hof (schon wieder Hitchcock!) kann ich das oft beobachten, weil dort welche brüten. Die aufdringlichen Freier sind also nicht die ganze Wahrheit (wie bei homo sapiens glücklicher Weise auch nicht.)
Antwort KunstArztPraxis: Hach, wie schön! Glücklich der Blog, der derart aufmerksame & kompetente Leser hat! Herzlichen Dank! Zudem freuen wir uns über die Rehabilitation der Tauben. Vielleicht sind unsere Beobachtungen ja auch milieuabhängig. Und natürlich reden wir ja eh über die Ausnahmen, die nicht zur Regel werden sollen. Es dankt & grüßt Ihre KunstArztPraxis.