“Meine Juden”: Miriam Cahn im MGK Siegen
In diesem Jahr erhielt mit Miriam Cahn eine unserer Lieblingskünstlerinnen den renommierten Rubenspreis der Stadt Siegen. Wir haben uns die damit verbundene Ausstellung angeschaut. Und sind von Cahns emotionaler Kraft einmal mehr begeistert. Auch von der erschreckenden Aktualität unseres Lieblingsbilds.
Am 27. Januar 2022 ist das Wetter in Europa wieder einmal viel zu warm und viel zu trocken. Krebskranke Japaner verklagen den AKW-Betreiber von Fukushima auf Schadenersatz in Millionenhöhe. Ein Ölteppich bedroht ein thailändisches Ferienparadies. Und Nordkorea testet ballistische Raketen für sein Atomwaffen-Programm.
Am 27. Januar 2022 bitten die Separatisten in der Ostukraine Russland um Waffen. Und die USA warnen Putin vor “massiven Konsequenzen” im Fall eines Einmarschs ins demokratische Nachbarland.
Es ist der 77. Jahrestag der Befreiung des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau: Die Welt gedenkt vor allem der sechs Millionen jüdischen Toten des Holocaust.
Am 27. Januar 2022 malt Miriam Cahn in ihrem kargen Atelier in Stampa eines unserer Lieblingsbilder. Vermutlich ist sie in zwei, drei Stunden damit fertig, ohne vorzuzeichnen, allein aus dem Bildgedächtnis agierend, so wie immer. Und wie immer ist das Werk mit seinen schrecklich schönen Farben von einer emotionalen Dichte, die kaum auszuhalten ist.
Das hat mit Cahns malerischer Brillanz und der dynamischen Unmittelbarkeit ihres Stils zu tun. Aber auch mit motivischen Kniffen. Wodurch wir fühlen, was wir sehen.
Was wir sehen, was wir fühlen
Auf “HÄNDE HOCH! 27.1.2022” bohrt eine Flüchtlings-Kleinfamilie die Finger derart stark in einen viel zu schmalen Himmel, dass sich die Körper zerdehnen wie auf einer Streckbank. Da muss uns mulmig werden: Denn wir sind die Soldaten, die der Familie mit gezückter Waffe gegenüberstehen.
Die drei Menschen sind nackt; ihnen ist nichts geblieben als ihr nun von uns bedrohtes Leben. Das Mädchen in der Mitte stemmt eine steinerne Last. Die Last drückt es zu Boden wie eine für diese Aufgabe noch gar nicht reife Atlantin aus grauer Vorzeit. Vielleicht stemmt dieses im Beisein seiner Eltern schutzlose Kind das Leid – oder die Schuld? – der ganzen Welt.
Während das Kind schon komplett im sandigen Gelb versunken ist, reichen die Hände der Eltern noch knapp über den schmalen Horizont. Keine Hoffnung ist zum Greifen nah. Wir helfen nicht.
Der blaue Mutterschleier besteht aus flüchtig klug gesetzten Pinselstrichen, das weiße Augenpaar des Vaters besteht aus Grauen. Das leere Mondgesicht des Kindes atmet sandige Traurigkeit.
Die gelbe Farbe könnte die Wüste sein, aber vielleicht auch das Meer. Wenn dem so wäre, dann droht der Familie nicht unsere Kugel, sondern der Erstickungstod. Die Natur nähme uns die Arbeit ab.
Die Wirklichkeit gibt diesen Bildern Recht
Wir haben keine Ahnung, ob Miriam Cahn im Atelier Radio hört, aber vermutlich wusste sie während des Malens nichts von der Wirklichkeit, die um ihr Atelier herum passierte. Trotzdem war der 27. Januar 2022 angefüllt mit Ereignissen, die eigentlich allen ihren Bildern Recht geben.
Es geht um den Krieg und sein Folgen, um den Fluch der Atomkraft, um Natur, das Tierische, auch Trieb. Es geht um Cahns persönliche Biografie mit seinen Fluchtgeschichten, um ihr vom Vater geerbtes, bewusst gewähltes Judentum, um ihr Frau-Sein. Es geht um Sex, Gewalt, um hilflose Zerbrechlichkeit.
Vieles davon – wenn auch nicht alles – ist in den wütend-resignierten Strich unseres Lieblingsbilds am 27. Januar 2022 mit eingeflossen. Die sogenannte Flüchtlingskrise ist da nur das sichtbarste Moment.
Noch knapp zwei Monate hängt “HÄNDE HOCH! 27.1.2022” in Cahns grandioser Ausstellung “Meine Juden” im MGK Siegen, die in 14 von der Künstlerin selbst eingerichteten Räumen wichtige Werkgruppen und Installationen seit den 1970er Jahren präsentiert. Erst ein gutes halbes Jahr ist seit seiner Entstehung vergangen. Das Bild ist frisch. Aber die anderen, teils 50 Jahre alten Bilder sind es auch.
Draußen führt Russland jenen Krieg, der sich beim Malen schon abgezeichnet hatte. Kernkraftwerke werden beschossen, strategische Atomwaffen sind im Gespräch. Es droht die nukleare Katastrophe. Und im Museum wachsen Cahns atomare Pilze wie bunte Feuerquallen an den Wänden.
Draußen macht der Mensch durchs Klima aus Europa Wüste, Wasser wird knapp, die Flüchtlingsströme wollen nicht versiegen. Und im Museum sinken Cahns nackte Leiber ins übertrieben schöne Blau der Ozeane, dass einem beim Betrachten selbst der Atem stockt.
Masse vs. Schicksal
Letzte Woche haben wir an anderer Stelle gestanden, der Kunst von Ai Weiwei gespalten gegenüberzustehen. Vermutlich liegt das an der intellektuellen Kälte dieses Werks bei Themen, die unserer Meinung nach Wärme, Ergriffenheit erfordern. Aus irgendwelchen Gründen nehmen wir Ai, im Gegensatz zu Cahn, die Empathie und Menschlichkeit nicht ab – auch wenn wir keinen Zweifel haben, dass er sie hat.
Man kann halt 14.000 auf der Insel Lesbos angeschwemmte Schwimmwesten um die Säulen des Konzerthauses am Berliner Gendarmenmarkt hängen, um auf die zum Himmel schreiende Not von Flüchtlingen hinzuweisen; oder eben ein Bild malen wie “HÄNDE HOCH! 27.1.2022”. Bei letzterem sehen wir die Umarmung, bei ersterem den Stinkefinger.
Ersteres imponiert durch das opernhaft Pompöse der Inszenierung (“Wow: 14.000 Westen!”) und erzeugt einen leicht frivolen Schauder (“von echten Ertrunkenen?”). Letzteres ist eine sehr subjektive, malerisch grandiose Antwort auf dieselbe weltbewegende politische Frage. Dieser verstörende Zorn berührt zumindest uns persönlich mehr.
Begehren vs. Gebären
Liegt darin der Unterschied zwischen einem männlich-sachlichen und einem weiblich-empathischen Blick? Das jedenfalls will Cahn ja schaffen: der stark männlich dominierten Kunstgeschichte eine gleichberechtigte, auf Augenhöhe wahrgenommene weibliche Position gegenüberzustellen.
Dazu gehört auch, das Gewalt von Frauen ausgehen darf und die Grenzen zwischen Sex & Lust & Crime zerfließen. “Weiblich” meint hier auch die Auflösung der Fronten.
Deshalb ist Cahns in Siegen zu sehender Verweis auf Gustave Courbets “Ursprung der Welt” keine lockende, abstrakt-gesichtslose, erotisch verklärte Öffnung: Wenn, dann soll man zur Vulva auch den eindringenden oder erigiert davor lauernden Penis sehen.
Oder man soll sehen, wie die Welt unter Schmerzen aus eben dieser “Öffnung in der Mitte” einer ganzen Person geboren wird. Auch hier ergänzt Cahns feministische Perspektive: Die Geburt als natürlicher Vorgang fehlt in der “männlichen” Kunstgeschichte ganz.
Moral habe in der Kunst nichts zu suchen, hat Cahn einmal gesagt. Das heißt aber nicht, dass Kunst nicht politisch Stellung beziehen darf – oder nicht Anteil nehmen an den Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten der Welt an jenen Tagen, an denen sie, umrahmt von Umweltkatastrophen, Krieg und Vertreibung, manchmal in zwei, drei Stunden entstanden ist.
Natürlich weiß Cahn, dass die von ihr auch in den Siegener Räumen durch Hängung praktizierte Unterteilung in “weibliche” und “männliche” Kräfte zu einfach ist. Denn auch sie kann knallhart sein, pornographisch, provokant – das ist ja eine ihrer Stärken. Aber selbst im Brutalsten, Hässlichsten steckt noch Mitgefühl. Wir zumindest glauben das zu sehen: nicht nur in den Motiven. Sogar in den Farben. In der Komposition. Im Strich.
Für uns ist diese Kunst schon deshalb immer wieder ein emotionales Erlebnis. Unserer Meinung nach sollte man “Meine Juden” im MGK Siegen auf keinen Fall verpassen. (05.09.2022)
“Miriam Cahn. Meine Juden” ist noch bis zum 23. Oktober 2022 im Museum für Gegenwartskunst i(MGK) n Siegen zu sehen. Zur Ausstellung gibt es kostenlos ein wundervolles, reich bebildertes Beiheft.
Appendix: Warum wir bei Miriam Cahn auch an Mirko denken
Wir haben viel vom Männlichen und Weiblichen in der Kunst gesprochen, aber wenn wir an Miriam Cahns harte Bilder denken, dann denken wir auch an die Weichheit Mirkos. Er war der Freund eines Freundes, den wir vor den sogenannten Jugoslawienkriegen oft in Zagreb besuchten. Einmal nahm er uns zu Mirko, den auf ewig unbekannten Künstler, mit.
Es waren die letzten Monate der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, die Tito schon lange nicht mehr zusammenhielt: Bilder von martialischen Söldnertrupps mit großserbischen Phantasien auf Totenkopf-Fahnen kursierten bereits in den Gazetten, Polizeistationen wurden überfallen, um sich zu bewaffnen. Die Zeit der großen Grausamkeiten war noch nicht angebrochen. Noch gab es keine Häutungen bei lebendigem Leibe, noch keine Massenvertreibung von Muslimen, keine Massenvergewaltigungen, noch kein Massaker von Srebrenica, noch kein Fußballspiel mit abgetrennten Köpfen.
Aber es gab sensible Geister, die dies kommen sahen.
Ein solcher Geist war Mirko: ein stiller, bescheidener junger Mann Anfang zwanzig, soweit wir uns erinnern, mit dichtem schwarzen Haar. Das Malen und Zeichnen hatte er sich selbst gelehrt. Er saß da, in seinem kleinen Zimmer in der Wohnung seiner Eltern, neben der Freudin, und imponierte uns in seiner ganzen tiefen Stille. Wir mussten ihn fast nötigen, uns seine Bilder zu zeigen. Endlich holte er eine Mappe mit Aquarellen unter dem Bett hervor; düstre Bilder von düstren Menschen, es waren Hunderte.
Er müsse solche Bilder malen, sagte er dabei. Um die Welt zu ertragen. Wie sie sei. Wie sie werde. Auch wenn niemand das verstünde. Die Freundin jedenfalls verstand, bei aller Liebe, solche Bilder nicht.
Wir gaben unserer Begeisterung lebhaften Ausdruck. Die Dankbarkeit in Mirkos Gesicht sprach Bände. Wir durften uns eins der Aquarelle aussuchen, es steht seit 30 Jahren in den Räumen der KunstArztPraxis, und wer es sieht, wird vielleicht begreifen, warum wir bei Cahns harten Bildern, die Mirko sicher nicht gekannt hat, bei allen Eigenheiten beider, immer wieder auch an seine Weichheit denken.
1991 begannen die Kriege, wir telefonierten oft mit unserem Freund in Zagreb, reisen war gefährlich, man wusste nicht, was wird. Einmal kam das Gespräch auch auf Mirko. Wir erfuhren, dass er zum Militär eingezogen worden war. Nach einer Nacht an der Front war sein schwarzes Haar mit einem Schlag schlohweiß geworden. Seine Freundin hatte ihn verlassen.
Er starb nicht von fremder, sondern von eigener Hand. Nicht an der Front, sondern im nun kroatischen Zagreb, wohin man den psychisch Zerbrochenen zurückgebracht hatte.
Es steht zu befürchten, dass die trauernden Eltern die Mappe mit Mirkos Aquarellen vernichtet haben. Sie waren ja so hässlich wie die Nacht der Kriege. Dann wäre unser Bild vielleicht das einzige, das Mirko, den auf ewig unbekannten Künstler, überlebt hat.
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