Ebenen gewechselt. Zum Tod von Mary Bauermeister
Mit Mary Bauermeister starb gestern (02.03.2023) eine der einflussreichsten Künstlerinnen der Nachkriegszeit. Wir haben ein Foto-Buch mit ihr gemacht und erinnern uns an fünf Jahre voller Besuche in ihrem Märchenreich. Und an einen wundervollen Menschen.
2017 waren wir das erste Mal bei Mary Bauermeister in Rösrath. Es gab eine Ausstellung in Solingen, der WDR wollte eine Fotostrecke von uns, wir hatten einen Hausbesuch im Wohnatelier auf der Hedwigshöhe vorgeschlagen. Mary Bauermeister saß vorm Haus auf einem Findling in der Sonne. Zwei, drei Worte, und die Chemie war da.
Sie wolle noch ein wenig Sonne tanken: Bis heute sind wir dankbar dafür, dass wir Haus und Garten zunächst allein erkunden durften. Dieses Märchenreich aus kulturellen und religiösen Artefakten, diese magische Stätte aus Steinen und Muscheln, aus Türmen, kultischen Kreisen, Stelen, Zirkuswagen.
Das Nebeneinander von Epochen und Kulturen und Naturen. Diese 6.000 Quadratmeter große Wunderkammer aus eigener und fremder Kunst.
Anschließend saßen wir benommen und erfüllt mit Mary Bauermeister am Küchentisch. Stundenlang sprachen wir über ihre Kunst und über ihr Leben, während das durch die Prismen-Scheiben vorm Fenster gebrochene Sonnenlicht in Regenbogenfarben über die Küchenregale und Kraterbilder und Steinspiralen wanderte.
Es gab nur Selbstgemachtes
Es gab selbstgemachten Pflaumenkuchen, über den die Schatten der Prismen zogen. Es gab selbstgemachten Yogi-Tee. Und es gab selbsterlebte Geschichten: unglaublich viele davon. Während der wendige Geist Mary Bauermeisters immer neue Bezüge schuf und immer neue Kapriolen schlug.
Viel zu viele Eindrucke für nur einen Tag. Viel zu viele für eine Fotostrecke. Und eigentlich, wie wir heute, rund 3.500 Fotos später wissen, sogar viel zu viele für ein einziges Buch.
Eiskristalle in Prismen-Stelen
Nach der ersten Begegnung haben wir immer wieder an Mary Bauermeisters Küchentisch gesessen, fünf ganze Jahre lang. Wir sind im Märchenreich ein- und ausgegangen, um unsere Augen vollzusaugen und unsere Seelen gesund zu machen, zu allen Tag- und Nacht- und Jahreszeiten. Und immer wieder sah alles anders aus.
Wir haben mit der Familie selbstgekochte Suppe gegessen, mit Restauratorinnen selbstgebratene Forelle und mit den Gärtnern am großen Tisch im Garten selbstgepflückte Pilze aus der Pfanne: Immer war Essen, immer waren Menschen, immer war Arbeit da.
Die Großherzigkeit der Versorgerin, das Delegiergeschick der Macherin. Beides fast so groß und variantenreich wie ihre Kunst.
Abends hat Mary Bauermeister die Lichter in den Hütten und Zirkuswagen für uns angeknipst. Sie hat die Hütten für uns geöffnet, den blauen Turm: Wir haben in der Hängematte in seiner Spitze geschlafen – im Gegensatz zu ihr, die das Schöne zumeist für die Anderen geschaffen hat. Zum Ausruhen war keine Zeit.
Und einmal – der Sohn rief an, um uns Bescheid zu sagen – sind wir als Erste durch das knirschende Weiß des frischen Schnees gestapft und haben staunend das von der klirrenden Kälte kristallisierte Wasser in den Prismen-Stelen funkeln gesehen.
Irgendwer war immer da
Wir durften sogar kommen, wenn Mary Bauermeister nicht zuhause war, das Vertrauen in uns und unsere Arbeit war groß. Das Haus stand uns offen, irgendwer war, wie gesagt, ja immer da. Nur einmal hatten wir Pech. Da war Mary Bauermeister in New York bei ihrer neuen Galerie und das verwaiste Haus verschlossen.
Und wir haben in unserer Neugier die Alarmanlage ausgelöst und auf den Findlingen vorm Haus unterm Sirenengeheul gewartet auf die Polizei.
Irgendwann, es war wohl Mitte 2018 – wir waren gekommen, um ihr zu sagen, dass wir einen Verlag gefunden hätten für unser Buch – verriet uns Mary Bauermeister, eher beiläufig, beim gemeinsamen Weg durch den Garten, sie habe Krebs.
Nur noch drei, vier Monate zu leben?
Die Ärzte gäben ihr noch drei, vier Monate auf dieser Welt, sagte sie, sie freue sich schon auf die nächste. Auf neue Erfahrungen, neue Eindrücke. Auf ein Wiedersehen mit Karlheinz Stockhausen, den Ex-Mann. Ja: vor allem auch auf ihn.
Für den Fall, dass die Krankheit begänne, ihr den Atem zu rauben, hatte sie da schon längst einen eigenen Ausweg fürs Sterben gefunden. Sie wolle einfach klammheimlich aus der Welt verschwinden, bevor der Krebs die Kontrolle übernähme, sagte sie uns am blauen Turm: Nahrung verweigern. Man müsse nur regelmäßig die Lippen benetzen. Dann ginge es ganz leicht.
Kunst und Leben hatte sie stets selbstgemacht. Auch dem Tod wollte sie das Feld nicht tatenlos überlassen.
Plötzlich alles himmelwärts
Schlagartig änderte sich damals unsere Sicht aufs Haus, auf den Garten. Die Perspektive wechselte vom Quer- ins Hochformat – ja, das ist wirklich wahr! Plötzlich strebte alles nach oben auf unseren Fotos. Himmelwärts.
Natürlich hatte alles im Garten schon vorher nach oben gestrebt mit all den Stelen und Türmen und Bäumen und Kristallen. Aber bisher hatten wir das nicht gesehen. Jetzt, im Angesicht der Diagnose, hatten wir es plötzlich erkannt.
Mit der Hiobsbotschaft wurde unser Buch eine Art Nachruf zu Lebzeiten. Für Mary Bauermeister und für uns stand außer Frage, dass die Künstlerin sein Erscheinen nicht mehr erleben würde. „Bald werde ich die Ebenen wechseln“ lautet ein von ihr für uns niedergeschriebenes Zitat auf der allerletzten Seite. Und diese Ebenen würden, da waren wir uns sicher, vor Drucklegung des Buchs schon gewechselt sein.
Aber der Krebs ließ sich Zeit. Vermutlich hatte er keine Wahl: Vermutlich raubte Mary Bauermeisters unbändige Energie den Metastasen die Kraft. Unser Buch jedenfalls kam 2020 heraus. Es hat ihr gefallen.
Über 300 Exemplare hat sie uns von der Erstauflage abgekauft und zu horrenden Porto-Kosten in alle Welt verschickt, bis in die USA: Immer, wenn wieder Geld vom Galeristen aus New York hereinkam, kam telefonisch eine neue Order für den Verlag.
„Endlich kann ich mich bei denen bedanken, die mich über 60 Jahre lang durchgefüttert haben“, sagte sie dann. Für sie war das Buch auch ein Präsent für all jene, die ihr ihr Künstlerinnen-Dasein ermöglicht hatten: denen sie offenbar ihr ganzes Leben lang dankbar war. Ein schöneres Kompliment hätte sie uns nicht machen können. Und auch ihren Sammler*innen nicht.
Der „liebe Christo“ starb zu früh
Im vollgeschriebenen Adressbuch hatte sie, die organisierte Macherin, akribisch festgehalten, wer ein Exemplar bekommen sollte (Kreis) oder schon bekommen hatte (Kreuz im Kreis). Auch für den „lieben Christo“ war ein Päckchen vorgesehen. Aber der liebe Christo starb ein paar Tage zu früh für das Geschenk.
Einmal sind wir mit ihr in ihrem silbernen Opel zur Post gefahren, den Kofferraum bis oben voll mit Buch-Paketen. Museumsdirektor*innen, Auktionator*innen, Autor*innen, Sammler*innen und Künstler*innen waren die Adressaten. Ein Who is Who des Kunstbetriebs.
Eine Wagenladung voll unglaublich gut vernetztem Leben.
Die nächsten Male sahen wir Mary Bauermeister zur Jahreswende 2021/2022. Gerade war die zweite Auflage unseres Buchs erschienen, sie lebte immer noch. Wieder hatte sie 200 Exemplare abgenommen: „Für meine Nachwelt“, wie sie sagte. Aber auch als Finanzierungshilfe für unsere Projekte.
Den zehnten Teil aller Einnahmen hatte sie Zeit ihres Lebens an Künstler*innen abgegeben, die auf dem Kunstmarkt weniger erfolgreich waren als sie; jetzt wurden wir bedacht.
Phönix aus der Asche
Nach der Krebsdiagnose 2018 hatte sie sofort aufgeräumt: Sie wollte ein bestelltes Haus, den Kindern möglichst wenig Arbeit hinterlassen. Jetzt, drei Jahre später, stand im Garten schon wieder eine neue Hütte: hölzerne Heimat für jene wenigen Werke, die bei einem verheerenden Brand in ihrem zweiten Atelier im oberbergischen Oberagger nicht völlig zerstört worden waren.
Brandopfer-Werke. Es war ein neuer Anfang.
„Schöner als das Feuer kann man das nicht machen“, sagte sie beim Rundgang. „Jetzt habe ich meinen Frieden mit dem Brand.“ Ihre Art, mit Krisen umzugehen: alles, jeden Fehler, selbst das Vernichtende in eigene Kunst zu überführen, anzuverwandeln, einzuverleiben. Dem Schmerz durch Kreativität den Stachel ziehen. Kunst als Bewältigung, selbstgemacht, auch hier.
Und dabei immer die Natur in ihrer Fülle und Kraft und Energie mit einbeziehen: Die Steine, das Wasser, das Licht, die Bäume. Am Ende also das Feuer. Phönix aus der Asche.
Die Mäuse des Märchenreichs
Damals haben wir mit Mary Bauermeister und einer Restauratorin den Weihnachtsbaum für die Urenkel geschmückt: mit jenen Figuren, die die vielen Mäuse des Märchenreichs, die auch der Kunst in den Hütten gern zu Leibe rückten, noch nicht zerknabbert hatten. Es war sehr feierlich.
Echte Kerzen, natürlich. Und unterm Baum eine Schneelandschaft aus jahrzehntelang immer wieder neu entfaltetem und neu zerknittertem Aluminiumpapier. Samt Fachwerkhäusern und Skifahrern und Räuchermännchen aus dem Erzgebirge.
Ein paar Stunden könne sie noch zeichnen, sagte uns Mary Bauermeister beim Schmücken, dann würden die Finger wegen der Metastasen blau. Neue Steinbilder gingen zu dieser Zeit schon gar nicht mehr: nur alte restaurieren, es brach ja immer irgendetwas ab. Der Holzleim zwischen den Steinen hält nicht ewig.
Was noch ging, waren die Linsenkästen, die berühmten Linsenkästen. Gerade hatte sie wieder neue Rahmen beim Schreiner bestellt.
Da war sie wieder stärker geworden, wir hatten sie schon schwächer erlebt. Jetzt war sie voller neuer Energie, voll Tatendrang. Das Morphium hatte sie abgesetzt: Es habe ihr die Sinne benebelt, sie wolle aber ihren Körper spüren. Und weiter schaffen, schaffen, schaffen, dann eben mit schmerzenden Fingern.
Selbstbestimmt bleiben: bis zum Ende das höchste Gut. Den Körper verfallen, sich das Bewusstsein vom eigenen Verfall aber nicht trüben lassen. Fast zahnlos und taub, aber hellwach im Geist war sie noch da.
Mehr Komplexität war nicht mehr drin
Und als wir später, im Sommer 2022 noch ein paarmal wiederkamen, um unsere Augen vollzusaugen und unsere Seelen im Märchenreich gesund zu machen, lagen 20 gerade fertig gewordene Linsenkasten auf dem Küchentisch: gefüllt mit ihren Malutensilien, mit halb ausgedrückten Farbtuben und abgenutzten Pinseln – nicht mehr hinter zwei, drei Prismenglas-Schichten gut, multiperspektivisch sichtbar verborgen, sondern, den Umständen, den Schmerzen geschuldet, nur noch hinter einer.
Es war ein wundervoll humorvoller Abgesang an die schwindende Schöpferkraft. Mehr materielle Komplexität war für den wachen Geist mit diesem Körper einfach nicht mehr drin.
Zum Glück hat Mary Bauermeister sich noch Zeit gelassen, um die Ebenen zu wechseln. Das „Bald“ hat länger gedauert als befürchtet. Aber es ist schneller eingetreten als erhofft.
„Ich durfte ein Leben lang machen, was ich wollte“, resümierte sie bei unserem letzten Besuch Ende 2022 im Märchenreich. „Das ist ein großes Privileg, das nur die Wenigsten haben.“ Sollten wir jemals wieder ein Buch über Mary Bauermeister machen, aus unseren über 3.200 unveröffentlichten Fotos, dann wäre das ein guter, ein optimistischerer Schluss.
Wir sind sehr traurig. Und sehr dankbar
Vor ein paar Wochen wollten wir noch einmal zu ihr ins Märchenreich, gerade war ein Katalog zu ihrer großen Retrospektive in der Kunsthalle Kiel mit einigen unserer Fotos erschienen, auch von der Brandopfer-Hütte: zumindest ein kleines gemeinsames Projekt. Aber wir erreichten nurmehr den Anrufbeantworter: Mary Bauermeister lag schon im Sterben. Besuch wollte sie keinen mehr empfangen. Ihr Geist war gedanklich wohl schon auf der neuen Ebene.
Jetzt sind wir traurig. Aber auch sehr dankbar. Und möchten gerne glauben, dass das Sterben so leicht und selbstbestimmt zugegangen ist wie vor Jahren schon geplant. (02.03.2023)
Anmerkung: Für den WDR haben wir einen eher nüchterneren Nachruf geschrieben. Darin stehen die sachlichen Fakten.
KunstArztPraxis-Hausbesuch: Im Märchenreich. Zu Gast bei Mary Bauermeister
Kunst aus Prismen: Zum Tod von Mary Bauermeister (WDR)
Danke für Euren Text – er holt mich ab, hüllt mich ein und berührt mich zutiefest.Ich hatte mich am Dienstag auf den Weg gemacht, von Kolbermoor nach Kiel, um einige von Marys Werken in „echt“ zu sehen…, die Wunderwelt, die Kunstobjekte, die mich schon in Eurem Buch verzaubert haben. Am 01.03. stundenlang in der Ausstellung, dann einen Brief an Mary geschrieben, am 02.03. zurück von Kiel nach Kolbermoor, über 8 Stunden, die ich im Zug verbrachte, in Gedanken versunken… und dann die Nachricht, dass Mary die Ebenen gewechselt hat. Nochmal DANKE für diesen Text, der in allen großen Kunstmagazinen der Welt stehen sollte – denn er erfasst ihre Ebenen aus Eurer Sicht, weil Ihr sie kanntet, die Künstlerin und die Frau… U. Hendrich
So ein schöner intensiver Text, der mir sie ganz nahe bringt und auch die Besuche dort kann ich so nachempfinden. Danke für den schönen Nachruf.
DANKE, DANKE für diesen wunderbaren Text als besonderen Nachruf. Das Buch „Im Märchenreich – Haus und Garten – liegt seit seinem Erscheinen 2020 immer auf meinem Sofa griffbereit zum Reinschauen. Unvergessen auch ihre wunderbar kuratierte Ausstellung in der Villa Zanders, wo sie selbst auch immer wieder anwesend war. Nochmals meinen großen DANK.
Ein sehr schöner, liebevoller Text ! Und tolle Fotos.