Mehr Licht (2): 450 Jahre Caravaggio (*1571)
An der Schwelle zum Erwachsensein pilgerten wir mit Freunden zu Caravaggio nach Rom. Dabei inszenierten wir die Begegnung mit Ritualen. Eine Erinnerungsgeschichte zum 450. Geburtstag (Licht). Im Nachklapp: ein Interview mit Ingrid Noll über Caravaggios Krimis (Schatten).
Am Tag nach der Abiturfeier fuhren wir im extrem heißen Sommer 1985 mit zwei weiteren Freunden im Zug nach Rom.
Im Gepäck hatten wir eine Handvoll neuer 100.000-Lire-Scheine, auf denen neben Ottavio Leonis posthumem Porträt Caravaggios auch plumpe Reproduktionen der „Wahrsagerin“ und des „Früchtekorbs“ abgedruckt waren.
Das schien uns passend für unsere kurze Pilgerfahrt, die den sechs noch verbliebenen Gemälden Caravaggios in römischen Kirchen gewidmet war.
Glaubensdunkel, nicht museumshell
Die Werke in der Galleria Borghese wollten wir dabei ebenso meiden wie die im Palazzo Barberini oder in den Kapitolinischen Museen: Uns ging es um einen Caravaggio, der nicht im hellen Spot der Museen hing, sondern mit all seiner Fleischlichkeit in einer glaubensdunklen, steinfeuchtkalten, weihrauchnebeligen Umgebung noch aus sich selbst heraus leuchten konnte.
Jeden Tag betraten wir mit einem Ledersäckchen voll passender Lire-Münzen, die wir zuvor durch die Zerstückelung unserer Caravaggio-Scheine mit sündhaft teuren Limonaden, üppigen Frühstücksgelagen oder anderen Taschenspielertricks gewonnen hatten, eine andere Caravaggio-Kirche.
Es gab ja nur noch drei: Santa Maria del Populo, San Luigi dei Francesi und Sant’Agostino.
Wunder aus Hell und Dunkel
Die Caravaggios schlummerten alle in der Düsternis des Kirchenraums. Warf man aber eines der Lire-Stück in den dafür vorgesehenen Geldschlitz, blitzten plötzlich unter dem Surren der Zeitschaltuhren für Sekunden wie aus dem Nichts im Licht mehrerer Scheinwerfer jene Wunder auf, die Caravaggio in seinem phantastischen Hyperrealismus aus Hell und Dunkel gezaubert hatte.
Es waren Theaterfeuerwerke der Kontraste, barocke Blendgranaten. Bis wieder Stille war und Dunkelheit.
Das Ritual des Geldeinwurfs zelebrierten wir über Stunden. Immer wieder erwachten die Caravaggios für einen andächtigen Moment zum Leben, dann verschwanden sie wieder.
In unseren Augen war das die würdige Dramaturgie für jene Inszenierungen, die Caravaggio uns hinterlassen hatte.
Blinde Lider der Verwandlung
Bis heute sind es vor allem grelle Schlaglichter, die uns in Erinnerung geblieben sind: Die dreckigen Sohlen des armen Pilgers und der seltsam teilnahmslose Blick der gedrechselten, etwas schläfrigen Loretto-Madonna zum Beispiel. Und ihr seltsamer Fuß.
Das verzweifelt leere Auge des alten Petrus und die leidenschaftslose, fast maschinelle Verrichtung seiner Henker. Die blinden Lider des am Boden liegenden Saulus, seine hilflos zum Himmel gestreckten Arme an der leblosen Schwelle zum Seelenheil.
Die raffinierte Zeigefingernavigation auf der „Berufung des Heiligen Matthäus“. Das blinde Fenster, das Hohngelächter auf die alberne, den Raum öffnende Architektur der Renaissance.
Der Engel auf seiner Requisitenwolke. Der Zeuge in seiner modischen Schnöseltracht. Der halbnackte, zornige Mörder, sein wehrloses Opfer im Ornat. Das hart ausgeleuchtete, teilnahmslose Töten. Die Raffgier. Die Kälte. Die naive Glückseligkeit.
Versinken in sinistren Geschichten
Spätnachmittags, wenn uns das Geld und das Licht ausging, mussten wir auf Andere warten, die einen ähnlichen Plan hegten wie wir selbst. Auch wenn natürlich niemand so ausdauernd war.
Nach der Vertreibung aus der Kirche saßen wir stundenlang beieinander und verloren uns in der nächtlichen Schwüle unseres Zimmers beim Rotwein in halbwahren, sinistren Geschichten.
Die schiefe Bahn
Am Ende der Reise stoben wir achtlos auseinander. Es war das Ende der Jugend, die Zeit der Unschuld war vorüber: Mit Caravaggio waren wir erwachsen geworden. Die Freunde von gestern verloren wir aus den Augen.
Auf einem Abiturtreffen erfuhren wir zehn Jahre später, dass einer der verlorenen Freunde tatsächlich bei einer Messerstecherei in Florenz getötet worden war. Der andere soll in Berlin auf die schiefe Bahn geraten sein.
Mit unserer Reise zu Caravaggio hatte das aber sicher nichts zu tun. (27.09.2021)
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Ingrid Noll: „Eigentlich malte Caravaggio Krimis“
Vor 15 Jahren hat Krimi-Autorin Ingrid Noll zu einer Caravaggio-Ausstellung im Düsseldorfer Kunstpalast eine Erzählung über den Maler, der vielleicht auch Mörder war, geschrieben. Damals haben wir sie interviewt. Ein Gespräch über tötende Frauen, Krimi-Gemälde und die Kunst des Verbrechens.
KunstArztPraxis: Frau Noll, mit Caravaggio teilen Sie die Vorliebe für starke, mörderische Frauen. Gibt es da so eine Art Seelenverwandtschaft zwischen Ihnen und dem Künstler?
Ingrid Noll: Wir beide befassen uns mit außerordentlichen, verbrecherischen Geschichten – wobei ich meine Stoffe im Unterschied zu Caravaggio aus der Gegenwart beziehe und nicht aus der Mythologie und der Bibel. Aber gerade das Alte Testament hat ja eine ganze Fülle von Mord und Totschlag und ziemlich wilde Storys zu bieten.
KunstArztPraxis: Wann sind Sie mit Caravaggio das erste Mal in Berührung gekommen?
Ingrid Noll: Ich habe Caravaggio erst vor wenigen Jahren schätzen gelernt und begriffen, dass ohne seine dramatische Helldunkel-Malerei das ganze Zeitalter des Barock kaum denkbar gewesen wäre. Vor einiger Zeit habe ich mir zudem ein persönliches Internet-Museum eingerichtet, bei dem ich mir Bilder von den Websites berühmter Museen herunterlade und nach Themenkreisen ordne.
Da habe ich eine ganze Sammlung von Gemälden mit Judith, die im Alten Testament nach einer Liebesnacht General Holofernes köpft, und da ist Caravaggio schon herausragend vertreten. Die Entstehung des Caravaggio-Gemäldes zu Judith und Holofernes hat mich ja auch zu meiner Erzählung „Das weiße Hemd der Hure“ inspiriert. Das beschäftigt mich schon sehr.
KunstArztPraxis: Was fasziniert Sie als Krimiautorin an Caravaggio?
Ingrid Noll: Am Menschen Caravaggio fasziniert mich sein Mut. Er hat Prostituierte und Stricher nicht nur als Modelle für Mörder, sondern auch als Modelle für Heilige engagiert, sie damit aufgewertet und bewiesen, dass Personen mit einem zweifelhaften Ruf zu allen menschlichen Emotionen fähig sind.
In diesem Punkt sehe ich eine Parallele zu meinen Romanen, in denn ich ebenfalls versuche, nicht zu verurteilen, sondern zu verstehen.
Am Maler Caravaggio interessiert mich seine Genialität und seine Weg weisende Phantasie. Er hat ja dramatische, teils blutige Bildergeschichten erzählt für ein damaliges Kirchenpublikum, das nicht lesen konnte. Auf vielen seiner Gemälde hat Caravaggio eigentlich Krimis gemalt.
KunstArztPraxis: Kann man als Krimiautorin also von Caravaggio lernen?
Ingrid Noll: Unbedingt. Caravaggio ist ja ein Meister der Dunkelheit, und dunkel sind auch alle kriminellen Geschichten in der Literatur, oft nur erhellt durch irgendeinen Lichteffekt, der eine bestimmte Person psychologisch heraushebt und beleuchtet.
Mich interessiert deswegen auch immer besonders, was Caravaggios Leute für ein Gesicht machen, was für eine Gestik und Mimik sie zeigen. Aus diesem Spiel von Licht und Schatten entsteht dann die ganze Geschichte.
Das Gespräch fand statt im Auftrag des WDR anlässlich der Ausstellung „Caravaggio. Auf den Spuren eines Genies“ im Düsseldorfer Kunstpalast (09.09.2006-07.01.2007).
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