Traum nach innen: Antony Gormley in Duisburg
Der Brite Antony Gormley (72) gilt als einer der bedeutendsten Bildhauer unserer Zeit. In seinen nun im Lehmbruck Museum gezeigten Skulpturen denkt er das Innen und Außen des Menschen neu. Vermutlich auch, weil er den Mittagsschlaf als Kind grundlegend anders verweigert hat als wir.
Im Sauerland hatten unsere Eltern drei unschlagbare Rezepte für strafende Langeweile: Fernsehverbot, Hausarrest – und Mittagsschlaf.
Über Jahre lagen wir Punkt eins für eine halbe Stunde eingepfercht zwischen den sich dehnenden Volumen schnarchender Väter, die aus dem Büro kommend Kraft fürs Büro tanken wollten, und einer psychedelischen Tapete, deren Muster anzustarren uns in der Ödnis übrigblieb. Es war die Hölle, nur ohne Spieß: Drehen konnten wir uns nicht.
Wir waren hellwach. Räumlich gepuckt. Und dachten nicht im Traum daran, die Augen zu schließen.
Nach einigen Minuten passierte regelmäßig Merkwürdiges:
In der träge machenden Hitze des Zimmers vergrößerte auch die angestarrte Wand irgendwann atmend ihr Volumen, kam pulsierend auf uns zu oder zog sich saugend zurück. Und unter dem schnarchenden Rhythmus symmetrischer Töne und Bilder lösten sich Gesichter und Leiber und Landschaften aus den vibrierenden Mustern, begannen sich zu winden, zu kämpfen, sich zu küssen, zu kommunizieren.
Bevölkerten den schmalen Grat zwischen Auge und Wand und machten aus den paar Zentimetern kurzsichtiger Tiefe Kilometer von epischer Weite.
Die bewusstseinserweiternde Raufaser
Es war eine andere Form von Schlaf, ein Traum mit offenen Augen, eine Art Somnambulismus im Zenit der Sonne; im klar erweiterten Bewusstsein, dass uns da aus der Tapetentiefe eine andere Welt tranceartig entgegenkam.
Dieser hypnotische Zustand kam selbst da noch wieder, als die psychedelischen Muster modebedingt den Zufallsreliefs weißer Raufasertapeten weichen mussten.
Wir erwähnen die kreative Langeweile unsere Mittagsschläfe an dieser Stelle nur deshalb so ausführlich, weil Antony Gormley in seiner Kindheit erstaunlicherweise ganz Ähnliches, Qualvolles erlebt zu haben scheint wie wir. Nur ohne das bebende Volumen schnarchender Väter. Und mit geschlossenen Augen.
Der klaustrophobische Raum
Nachmittags hätten ihn die Eltern ins heiße Zimmer zum Schlafen geschickt, sagt Gormley im Katalog zur Ausstellung „Gormley / Lehmbruck: Calling on the Body“. Beim Warten auf die Müdigkeit verwandelte sich „der heiße, klaustrophobische Raum hinter meinen Augenlidern langsam in etwas völlig anderes, wurde kühl und dunkel und dehnte sich aus zu einem Raum ohne Konturen, ohne Objekte und ohne Dimension.“
Was bei uns ein Schlaf mit offenen Augen war, war bei Gormley offenbar ein Traum nach innen.
So habe er die Verbindung zu seinem Körperinnern wiedergefunden, sagt Gormley. Die „Erkenntnis, dass in der Dunkelheit des Körpers ein Ort der Freiheit liegt“, sei bis heute grundlegend für seine Arbeit. „Wenn ich arbeite, bin ich an diesem Ort.“
Die aus diesem Ort geborenen Werke seien „Hinweise auf eingefangene Momente gelebter Zeit“, sagt Gormley. Es ist die eigene gelebte Zeit, so wie der eigene Körper seit 40 Jahren Richtmaß für seine Skulpturen ist. So deuten wir denn auch Gormleys „Field“-Figur (1984/1985), die mit überproportionalen Armen in der Glashalle des Lehmbruck Museums den Außenraum der Stadt mit dem Innenraum des Gebäudes verbindet, als Indiz auch jener nachklingenden Erfahrung beim verweigerten Mittagsschlaf.
„Field“ ruht in seinem eigenen Entspannungsfeld, es könnte genauso gut liegen. Mit geschlossenen Augen loten seine fast sechs Meter langen Arme in ihrer Streckung die Unendlichkeit innerer Räume ebenso aus wie die Begrenztheit seiner Umgebung.
Uns bleibt nichts anderes, als diesen Körper von außen zu umrunden, seine symmetrischen Maße gehend zu erfahren. Und der Raum in uns und um uns ändert sich beim ermessenden Umrunden mit.
Emotionale Reflexionen
In den Skulpturen Gormleys bespiegeln wir uns als Betrachter beim Betrachten also quasi symmetrisch selbst.
Wie die beiden identischen Männer des Skulpturen-Ensembles „Reflection II“ (2008), die sich diesseits und jenseits der Museumsscheibe im Lehmbruck-Trakt bzw. im Skulpturenpark duellierend entgegenstehen (links im Bild mit Fensterputzer).
Und die eben nicht nur ihr Gegenüber zu befragen scheinen, sondern in ihrer Doppelexistenz auch ihren ersten und zweiten – sprich: ihren biologischen und ihren architektonischen Körper.
Offenbar hat Gormley an diesem inneren Raum und seinem Verhältnis zum Äußeren Zeit seines Lebens weiter gefeilt. Und vielleicht haben die zwei Siebzigerjahre in Indien und Sri Lanka die Auseinandersetzung des Künstlers mit dieser anderen Sicht auf das Leben und die Kunst die Kindheitserfahrungen beim Mittagsschlaf noch komplettiert.
Im Stürzen innehalten
Bei den 14 Skulpturen und Installationen in „Gormley / Lehmbruck: Calling on the Body“ funktioniert Reflexion im Idealfall in diesem Sinn immer auch auf emotionaler Schiene. Selbst bei den 111 Modellen und in den Zeichnungen der Schau ist das noch spürbar.
So steckt viel Meditatives in Gomleys Figuren. Das kennt man auch von Wilhelm Lehmbruck, mit dem Gormley in Duisburg jetzt brüderlich den Raum teilt. Besonders deutlich beim „Gestürzten“ (1915/16), dessen denkender Kopf im Moment der Sammlung zwischen Sturz und Aufrichtung mit der Erde eine neue Verbindung eingeht – und seinen Fall so über den Geist im Hier und Jetzt zu etwas Positivem, Vereinigendem wendet.
Bei Gormley ist das Vereinigende nicht nur ein Übergang von Figur in Architektur, sondern auch von Einzelnem in Menge. Das Lehmbruck Museum wird auf 3.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche so nicht zuletzt zum sozialen atmenden Körper, der eine fast schon gespenstische kontemplative Ruhe ausstrahlt. Der Traum nach innen stülpt sich nach außen um.
Vor allem darüber haben wir in Duisburg lange mit Antony Gormley gesprochen.
Verkörpert wird dies auch in „Allotment II“ (1997) im großen Wechselausstellungsraum, einer gigantischen Installation, die zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder zu sehen ist: ein Heer von 300 Figuren, deren Körpervolumen auf Kopf und Torso – also auf das Geistige der Form, oder auf die grundlegende Architektur des Körpers – abstrahiert sind. Auch hier wurden bei uns beim Durchschreiten Gefühle wach, die uns auf uns selbst zurückgeworfen haben.
Egal mit wem sind wir allein im Raum, verloren und verlassen: ein Fremder unter fremden Wesen aus erdschwerem Beton, die sich in ihrer Starrheit beim Durchschreiten des Labyrinths doch irgendwie winden, miteinander sprechen, vielleicht auch küssen oder kämpfen wollen. Und in ihrer materiellen Präsenz irgendwie atmen.
Es war eine Einsamkeit, die wir wie Gormley aus unserer Kindheit kennen. Zumindest fühlte es sich für uns im heißen Raum so an.
Der starre Blick, der weite Blick
Oft sind es ja ganz zarte, frühe, rituelle Dinge, die komplette Lebenswege zeichnen. „Prägende Kindheitserinnerungen“, wie Gormley zu seinen Mittagsschlaf-Erfahrungen sagt.
Hätten wir damals wie Gormley also die Augen geschlossen, um in die weite Welt des Inneren zu horchen, statt kurzsichtig auf den Puls der Zimmerwand vor uns zu starren, wären wir – Talent vorausgesetzt – vielleicht auch Volumen verändernde Bildhauer geworden statt ausufernde Erzähler in einer KunstArztPraxis.
Und vielleicht wäre Gormleys Kunst epischer geworden, wenn er sich damals trotzig geweigert hätte, die Augen zu verschließen? Geschichten jedenfalls erzählen seine berührenden, den Menschen auf seine Essenz verdichtenden Skulpturen nicht.
Der pulsierende Kosmos
Trotzdem ist das, was Gormley schafft, ein neuer, ein pulsierender Kosmos – ein bisschen so wie jener, der uns beim erzwungenen Mittagsschlaf mit offenen Augen aus der Tapete entgegensprang. Nicht von dieser Welt, aber doch ein neuer Teil von ihr.
Ein Teil sogar, aus dem man mindestens soviel Kraft und Energie für sein Leben schöpfen kann wie durch einen halbstündigen Mittagsschlaf fürs Nachmittagsbüro. Auch das sei den Heerscharen schnarchender Väter von ihren wachenden Söhnen ins Stammbuch geschrieben. (10.10.2022)
Anmerkung: Wie Joseph Beuys und die KunstArztPraxis, so glaubt auch Antony Gormley an die diagnostische Kraft des Skulpturalen und das „therapeutische Modell der Kunst“: die „intime Beziehung zum Material“, die“Wunden wie unsichtbare Energien spürbar“ mache: „Ich bin überzeugt, dass die Kunst in der Lage ist, ein Gefühl für die Ganzheit des Bewusstseins wiederherzustellen.“ Wir betonen das hier auch deshalb, weil Beuys einen ähnlichen Gedanken ausgerechnet an den Skulpturen Wilhelm Lehmbrucks klar (oder, dem Gegenstand angemessen, auch unklar) gemacht hat. Denken ist Skulptur, Skulptur kann heilen. Muss uns gefallen.
„Gormley / Lehmbruck: Calling on the Body“ ist noch bis zum 26. Februar 2023 im Lehmbruck Museum in Duisburg zu sehen.
Das Lehmbruck Museum in der KunstArztPraxis:
In der Strafkolonie: Cardiff & Miller in Duisburg
Beuys, der Schüler: “Alles ist Skulptur” in Duisburg (teils Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Stephan Balkenhol: Hüllen für Geschichten (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
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