Ästhetik des Widerstands: „Courage“ in Duisburg
Zum 60. Gründungsjubiläum arbeitet das Lehmbruck Museum verwandte Bezüge seines Namenspatrons und der Avantgarde heraus. „Courage“ zeigt, wie mutig die Kunst formal und politisch dem „Geschmack“ und den herrschenden Kräften trotzte. Letzteres kennen wir von unserer echten Verwandtschaft auch.
Für Tante Anni
Wir haben mit Blick auf Kiki Smiths Wolfsfrau vor Kurzem schon erzählt, dass eine unserer Großmütter 1938 um ihr Leben laufen musste, als die Nazis die Juden durch die Straßen trieben: Weil sie den Nazis entgegenschrie, dass sie Schweine seien, die sich was schämen sollten.
Aber das war nur die halbe Wahrheit. Wir hatten ja auch Onkel und Tanten.
Hochverrat. Bei Todesstrafe!
Die Älteste dieser Tanten vervielfältigte mittels einer auf dem Heuboden des Elternhauses versteckten Kopier-Maschine die antifaschistischen Hirtenbriefe des späteren Kardinals von Galen aus Münster über die von den Nazis so genannte „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, da war sie 15.
Das war Hochverrat. Bei Todesstrafe.
Und als die Nazis sich 1941 anschickten, die Pallottiner aus dem Osterseifen zu verschleppen, da zog eine lange Prozession wütender Bürger von der Stadt zum Kloster hinauf.
In einem dieser Kleider steckte eine unserer Tanten
Es waren viele Kinder darunter: Die Lehrer*innen hatten ihnen schulfrei gegeben. Die Mädchen, die kurz zuvor zur Erstkommunion gegangen waren, trugen ihre weißen Kleider.
In einem dieser Kleider steckte eine unserer Tanten.
Unsere damals 13 und 15 Jahre alten Onkel kletterten auf den Glockenturm des Klosters und läuteten dort Sturm, um den Rest der aufrechten Bürger*innen zusammenzutrommeln. Unten prügelten sich die erwachsenen Gläubigen mit der bewaffneten Gestapo.
Auf dass die Nazis es hörten
Und als die Nazis die Pallottiner im offenen Lastwagen am Ende doch noch abtransportierten – sie waren ja bewaffnet –, da standen unsere Tanten und Onkel von sechs bis 17 Jahren aufwärts im Spalier am Straßenrand und sangen, so laut sie konnten, Kirchenlieder.
Auf dass die Nazis – und die verschleppten Padres – es hörten.
Heute redet man ja nur noch über pädophile Priester, aber das war katholische Antifa: vom „einfachen Volk“, wie man so sagt.
Getragen nicht nur von Gottesfurcht, sondern auch von Gerechtigkeitssinn & Freiheitsdrang & Toleranz & Menschenwürde. Und vom Glauben an das Recht auf Leben & körperliche Unversehrtheit.
Es war ein zwar wertekonservatives, aber nicht mindern mutiges Aufbegehren gegen eine rassistische, intolerante, extrem menschenverachtende Ideologie.
DAS zumindest hatten unsere Onkel & Tanten, ihrer Haltung nach, bei allen Unterschieden, mit vielen der in „Courage“ gezeigten Künstler*innen der Moderne gemein.
Auguste Rodin, „Maske Hanakos“, 1908, Lehmbruck Museum, Duisburg 2024
Es war unter anderem eben der Mut, sich dem herrschenden Ungeist zu Beginn des 20. Jahrhunderts formal wie politisch entgegenzustellen, der diese Künstler*innen einte. Das arbeitet „Courage“ heraus.
Den Nazis galten sie deshalb als „entartet“: allen voran der Duisburger Hauspatron Wilhelm Lehmbruck, der sich durchaus auch auf konservative Werte berief – und dessen manieristisch langgestreckter Pathos der Anmut & Zerbrechlichkeit zum kollektiven Heldenkult der Nazis so gar nicht passen wollte.
Ebenso wenig wie zur Propaganda der uniformen Aufopferung fürs Vaterland im Schützengraben.
Grazil verinnerlicht: Wilhelm Lehmbrucks „Kniende“ (1911), Lehmbruck Museum, 2024
Bereis 1915 hatte Lehmbruck mit seinem „Gestürzten“ ein Kriegerdenkmal geschaffen, das schon im ausgehenden Wilhelmismus seiner Zeit in weiten Kreisen der Gesellschaft einem Affront gleichgekommen sein muss:
Weil es die leidende, gebeugte, gescheiterte, auch existentiell nackte, förmlich am Boden kauernde Kreatur ins Zentrum stellte. Dieser armen Seele aus Kunststein war jeder Heroismus entwichen.
Den wie von einer Kugel getroffenen „Gestürzten“ kann man im Lehmbruck-Flügel des Duisburger Museums sehen: Er gehört zum ständigen Bestand des Hauses. Und ergänzt „Courage“ ideal.
Und in der Ausstellung?
Und in der Ausstellung, die die (trotz aller Unterschieden vorhandenen) Gemeinsamkeiten ihrer Werke intuitiv, also ganz ohne lange erklärende Texte herausarbeitet – was kursorisch schon beeindruckend genug ist?
„Courage“ zeigt die innere Zerrissenheit des Menschen (Egon Schiele), aber auch seine neue „Konstruktion“ in einer gleichberechtigten Gemeinschaft (Oskar Schlemmer).
Sie zeigt eine pazifistisch orientierte Moderne mit ihrem Blick für den Zusammenhang von Kriegslust & Profitgier, mit Empathie für das soziale Elend der Zeit (Alice Lex-Nerlinger, Käthe Kollwitz, Otto Dix).
Aber sie zeigt auch einen Fortschrittsglauben, der sich unter anderem aus den Dynamiken der Russischen Revolution und ihrer frühen Utopie einer gerechten, freien Gesellschaft ergab (Vladimir Tatlin).
Käthe Kollwitz, „Nie wieder Krieg!“, Plakat, 1924
Ach ja: Ein wundervoll arrangiertes Ensemble in „Courage“ ist Auguste Rodin gewidmet, den Wilhelm Lehmbruck in Paris kennengelernt hatte. Mit seinen „Bürgern von Calais“ holte er den Heroismus der Gruppe, die sich ja immerhin für ihre belagerte Stadt aufopfern wollte, buchstäblich vom Sockel: demokratisch auf die Augenhöhe des Betrachters.
Und machte die ganze hinter der Heldentat waltende Verzweiflung sichtbar. Das hinter der Entscheidung waltende Elend. Die Todesangst.
In „Courage“ kann man lernen, dass sogar die Suche nach einer neuen Formensprache auf ganz unterschiedliche Art und Weise nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein existenzielles, ja: ein politisches, ein gesellschaftliches Statement sein kann.
Und immer wieder scheint eine aufgrund der Zeitumstände durchaus mutige Menschlichkeit durch: ein Widerstand, den wir auch von unserer christlichen Verwandtschaft kannten.
Man kann Entdeckungen machen
Und man kann Entdeckungen machen! Für uns war das der impressionistische Bildhauer Medardo Rosso mit seinen Wachs-Skulpturen, den hatten wir überhaupt nicht auf dem Schirm.
Rosso Auflösung von Physiognomie in knetige Weichheit, diese Betonung der Unbeständigkeit und Wandelbarkeit innerster menschlicher Erscheinungen, der Fokus auf das flüchtige, fast schon verschwommene Bild des Gegenübers im Auge des Betrachters erschien uns, die wir Giacometti lieben, ganz famos.
Allein DIESE Entdeckung lohnt unserer Meinung nach schon den Besuch.
(Bild: Medardo Rosso, „Die Pförtnerin“, 1884)
Courage sogar gegenüber den eigenen Zweifeln?
Man mag es sich heute vielleicht gar nicht mehr vorstellen können, wie viel Mut es damals brauchte, die alten Ordnungen infrage zu stellen, neue, formale Lösungen zu finden für eine Kunst, die nach Jahrzehnten akademischer Belanglosigkeit wieder gesellschaftliche & politische Relevanz bekommen sollte.
Mut vielleicht sogar gegenüber den eigenen Zweifeln, ästhetisch in seinem Aufbegehren auf dem richtigen Weg zu sein.
Möglicherweise hilft es da, sich vor Augen zu führen, dass wir selbst wohl abermals in einer Umbruchszeit leben, in der größenwahnsinnige Kriegstreiber auch in Deutschland wieder Zuspruch finden?
In der Jugendliche, die nicht einmal mehr Großeltern haben, die ihnen von Hitler erzählen könnten, in ihrer indifferenten Geschichtsvergessenheit die neuen Nazis zu wählen drohen – und zwar, weil diese neuen Nazis auf Tiktok einfach die geilsten Lügen-Clips posten?
Über Politiker, die wieder offen von einer „Beseitigung des Gedankenmülls“ in den Museen sprechen, von einer „Entsiffung des Kulturbetriebes“, von künstlerischen Positionen, die es „auszurotten“ gelte, wollen wir erst gar nicht reden.
George Grosz und John Heartfield, „Der wildgewordene Spießer Heartfield / elektro-mechanische Tatlin-Plastik“, 1920, Lehmbruck Museum, Duisburg 2024
Von einer bedauernswerten Zeit, die mutige Menschen wie die in „Courage“ versammelten Künstler*innen, ja: wie unsere Onkel & Tanten braucht, sind wir also schlimmstenfalls offenbar gar nicht mehr so weit entfernt.
Deshalb haben wir hier von beiden, „Courage“ und Verwandtschaft, gemeinsam berichtet.
Wichtig bis in unsere Tage
Wir finden, man sollte mit dieser unserer teils unglaublich aufgeheizten, teils unglaublich spießigen Gegenwart vor Augen durch die Duisburger Jubiläums-Ausstellung gehen. Dann kann man vielleicht erkennen, wie radikal, wie im besten Sinne provokant die ausgestellten Positionen damals waren, im Grunde teils noch immer sind.
Und wie unglaublich wichtig. Bis in unsere Tage. (11.08.2024)
„Courage. Lehmbruck und die Avantgarde“ ist noch bis zum 6. Oktober 2024 im Lehmbruck Museum in Duisburg zu sehen.
Anmerkung: Eine Sache wollen wir in diesem Zusammenhang nicht verschweigen:
In „Courage“ steht auch eine faszinierend martialische Skulptur des italienischen Futuristen Umberto Boccioni (1882-1916) aus dem Kröller-Müller Museum in Otterlo, deren Konturen unfassbar großartig mit dem Raum verschmelzen.
Bekanntlich suchten auch die Futuristen nach einer neuen Gesellschaft, die bei ihnen aber nicht auf Menschlichkeit, sondern auf der Rasanz der Technik fußte. Für sie war der Krieg eine geschwindigkeitsberauschende Kraft-Maschine, ein dromologisches Spektakel. Demokratie war ihnen zu „weich“, Heldentod okay.
Die Staatskunst des gerade in Italien wieder gehypten Faschismus nach Benito Mussolinis Machtübernahme 1922 verdankt den Futuristen ziemlich viel.
Umberto Boccioni, „Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum“ (1913)
Appendix: Wie es mit unserer couragierten Verwandtschaft weiterging
Wir haben oben von unseren mutigen Tanten & Onkeln berichtet, die als Teil der katholischen Antifa den Nazis trotzten. Sie hatten das von ihrem Vater, der als Ernährer von 13 Mäulern Zuchthaus riskierte. Die Kinder mussten den Raum verlassen, wenn er am Volksempfänger „Feindsender“ hörte. Aber das war ja später in der DDR bei der „Tagesschau“ ganz ähnlich.
Zu dieser Zeit war der Religionsunterricht in den Schulen des Sauerlands längst abgeschafft. „Händchen falten, Köpfchen senken, nur an Adolf Hitler denken“: Das war ab dem Kindergarten neue Religion. Zur Zeit der Morgenmesse – vorher, natürlich: jeden Tag, vor der Schule, bei Wind & Wetter: Morgenmesse! – hatten die Nazis vorsorglich Aktivitäten von Hitlerjugend, Jungvolk und Jungmädelbund gelegt.
Die Teilnahme daran war unseren jüngeren Onkeln und Tanten von der ältesten Tante natürlich strengstens untersagt. Die hatte sich vom Pfarrer zur Laienkatechetin ausbilden lassen. Und unterrichtete zur Zeit der Aktivitäten von Hitlerjugend, Jungvolk und Jungmädelbund am Morgen vor der Schule als „Defätistin“ im Untergrund heimlich weiter.
Besagte älteste Tante überlebte die Bombardierung der Stadt durch britische Piloten 1945 als Azubi im Handelskontor von „Holterhoff & Söhne“ übrigens nur deshalb, weil die Leichen der Kund*innen sie unter sich begruben, bevor das herabstürzende Dach sie erschlagen konnte: Sie musste sich unter einer Masse aus Asche, Schutt und Körpern mühsam hervorgraben. Ewig soll das gedauert haben.
Danach kam die Willensstärkste, Mutigste aller unserer Verwandten blut-, schweiß- und tränenüberströmt mit dem verzweifelten Satz nach Hause, dass sie nicht mehr leben wolle.
Zur etwa gleichen Zeit jagte ein britischer Kampfpilot eine achtjährige Tante mit Maschinengewehr-Salven übers offene Kartoffelfeld. Er hätte sehen können, dass sie ein Kind war. Vermutlich hat er es sogar gesehen, wir denken, die Jagd hat ihm Spaß gemacht. Normalerweise saßen die Kinder ja für solche Salven unerreichbar in den Bunkern; diesmal aber hatten die Sirenen warumauchimmer vorschnell Entwarnung gegeben, die Kinder waren zum Kartoffelsammeln zu früh auf den Feldern, die Kund*innen zu früh in den Kontors.
Ein Gebüsch rettete der Tante damals wohl das Leben.
Und dann, 1945, als die befreienden Amerikaner – ja, @Herr Höcke, @Frau Wagenknecht: die BEFREIENDEN Amerikaner kamen, das Elternhaus besetzten, die Hühner schlachteten und alle Vorräte aßen, man selbst, da Hitler endlich besiegt war, dankbar mit elf Personen wie befohlen in ein Kellerzimmer zog, herrschte für die Eltern kurzzeitig Lebensgefahr: weil die GIs in einer Schublade das „Goldene Mutterkreuz“ fanden.
In der Mitte von Hitlers Auszeichnung für Gebärende, die „deutschblütig“, „erbgesund“ und „sittlich einwandfrei“ sein mussten, um dem Führer Kanonenfutter für seinen totalen Krieg zu schenken, prangte unübersehbar & über alle Sprachbarrieren hinweg das Hakenkreuz.
Trotzdem kamen nicht Mord, Vertreibung, Vergewaltigung und Plünderung wie mit den russischen Soldaten im Osten (und wie heute wieder mit den russischen Soldaten in der Ukraine): Die Eltern hatten Zeit, den GIs mit Händen und Füßen zu erklären, dass die Mutter Hitlers Goldmedaille wegen ihrer elf Kinder bekommen hatte, die fast alle mit großen Augen vor ihnen standen – nur zwei von ihnen waren ja Kanonenfutter geworden! Des Vaters „Feindsender“-Englisch half bei der Erklärung.
Und dann kamen statt Mord, Vergewaltigung und Plünderung wie mit den russischen Soldaten im Osten, @Herr Höcke, @Frau Wagenknecht: Es kamen Schokolade und Kaugummi. Und weil man Christ war, nahm man dankbar im Keller später auch noch jene Menschen auf, die vor den vergewaltigenden, mordenden und plündernden russischen Soldaten geflohen waren. Trotz aller damit einhergehenden Probleme.
Einer unserer gegen die Nazis sturmglockenläutenden Onkel wurde übrigens später selbst Pallottiner. Am Ende hatte er eine kleine Pfarrei am Mittelrhein. Dort lebte er bis zu seinem Tod mit einer Ordensschwester zusammen, die sich gegen Zwangsheirat, Zwangsprostitution und Menschenhandel in Afrika engagierte. Gemeinsam hatten sie zwei Kinder, die vergewaltigte Zwangsprostituierte zur Adaption freigegeben hatten.
Das eine Kind war Hindu, das andere Buddhistin. Weder der Onkel noch die Ordensschwester hatten irgendwelche Ambitionen, dagegen anzumissionieren.
Auf diese – auch gegenüber der teils ja sehr bornierten katholischen Kirche – sehr couragierte, auf Menschenwürde & Freiheit & Gerechtigkeit basierende Toleranz unserer Verwandtschaft sind wir sehr, sehr stolz.
Das Lehmbruck Museum in der KunstArztPraxis:
Wir Seelenblinden. Alijca Kwade in Duisburg
“Ich bin die Landschaft.” Barbara Hepworth
Traum nach innen: Antony Gormley
In der Strafkolonie: Cardiff & Miller
Beuys, der Schüler: “Alles ist Skulptur” in Duisburg
Stephan Balkenhol: Hüllen für Geschichten (gefressen von der Unsichtbarkeits-Maschine)
Bizarre Biester: Lynn Chadwick
…wie persönlich, wie aktuell und – in diesen Zeiten – wie couragiert!
Vielen Dank für diesen immer wieder Freude machenden und zu eigenen Besuchen und Auseinandersetzungen animierenden Blog.
Irmgard Kuhne-Kneis
Antwort KunstArztPraxis: Herzlichen Dank, Frau Kuhne-Kneis! Wir wollen uns weiter Mühe geben. Ihre KunstArztPraxis
Ein wundervoller, geistreicher Beitrag, mal wieder. Danke! Und herzlichen Glückwunsch zur couragierten Verwandtschaft. Die Ausstellung werde mich mir ansehen. Herzliche Grüße, Max Meyer
Antwort KunstArztPraxis: Sie werden es nicht bereuen, Herr Meyer. Sie werden es nicht bereuen. Ihre KunstArztPraxis