Betriebsausflüge (4): „Kafka: 1924“ in München
Als florierende KunstArztPraxis haben wir ja Geld wie Heu, deshalb schließen wir hin und wieder die Patientenpforte und reisen komplett ins befreundete Ausland. Diesmal ging’s schon wieder nach München, zu „Kafka“ in die Villa Stuck. Hier das Ausflugsprotokoll unserer Schülerpraktikantin Mila.
Auf der Fahrt zu „Kafka“ hat mir einer der KunstÄrzte eine komische Geschichte erzählt, die mir jetzt, wo ich Kafka sogar gelesen habe, fast schon etwas kafkaesk erscheint. Über drei Jahrzehnte hat sich der KunstArzt nicht in eine Geisterbahn hineingetraut, hat er mir verraten: aus Angst vor dem, was darin lauern könnte.
Und als er dann endlich mit einer Freundin in eine Geisterbahn hineingefahren sei, mit fast 40 Jahren, nach einer Mutmaß Bier auf dem Münchner Oktoberfest, da ist er aus dem Lachen gar nicht mehr herausgekommen. Ich glaube, vor Erleichterung.
Inzwischen habe ich Kafka wie gerade schon gesagt sogar gelesen, und ich glaube, dass die Welt als Ganzes eine Geisterbahn für ihn gewesen ist – auch die Welt in seinem Kopf. Aber im Unterschied zum KunstArzt hat Kafka sich in diese Geisterbahn immer wieder hineingetraut, und ist dann aus dem Gruseln und dem Lachen gar nicht mehr herausgekommen.
Der Vater und die Offiziere
Ich denke nämlich, dass das, was Kafka in dieser Geisterbahn erlebt hat, schrecklich und komisch zugleich für ihn gewesen ist. Und seine Gespenster, das waren vor allem der Vater und die Beamten. Und die Türhüter und die Schlossverwalter und die Offiziere. Der ganze Spuk.
„Kafka“ in München war auch ein bisschen Geisterbahn, aber eine helle. Auf jeden Fall ich bin froh, dass keine Triggerwarnung mich vor dem erschreckt hat, was mich dort erwartet hat. Sonst wäre ich vielleicht gar nicht reingegangen.
Da gibt es zum Beispiel zwei Tötungsmaschinen, wie sie Kafka in seiner Geschichte „In der Strafkolonie“ beschrieben hat. In der Geschichte tätowieren Nadeln einem Gefangenen sein Verbrechen in den Rücken. Da hätte ich mich bei einer Triggerwarnung schon gefragt, ob ich das aushalte.
Die eine Tötungsmaschine hat ein berühmter Museumsdirektor für eine Ausstellung vor vielen Jahren einmal nachbauen lassen, die andere stammt von einem Künstlerpärchen. Beide sind harmlos.
Spannend fand ich aber, wie unterschiedlich man sich die Tötungsmaschine von Kafka vorstellen kann. Die eine ist ganz still und klar, die andere ganz laut und muffig.
Wenn man bei der muffigen Maschine auf einen roten Buzzer drückt, dann tanzen Roboterarme über einem Zahnarztstuhl, und eine Discokugel wirft Lichter an die Wände. Man ist dann selbst die Böse. Fand ich ganz witzig.
Genauso wie den Gefangenen im Pyjama, den die Polizei Klavier spielen lässt – nur vergisst sie, ihm vorher die Handschellen abzunehmen, deshalb kann er nur klimpern. Darüber gibt es in München einen Film.
Bilder, Geschichten weiterspinnen
Am besten hat mir eine Installation mit einem Krankenbett gefallen, das mit Tausenden von Fäden mit dem Zimmer versponnen ist.
Die KunstÄrzte haben mir erklärt, dass Kafka unter Schlaflosigkeit und Angst vor Enge gelitten hat, deshalb die Fäden. Das Fremdwort dazu habe ich vergessen, aber das war meiner Meinung nach ohnehin nur Angeberwissen. Die KunstÄrzte eben.
Das Bett mit den Fäden hat mir gefallen, weil es eine Geschichte in mir aufgeweckt hat, die ich weiterspinnen konnte, so irgendwie. Weil es mir etwas über mich gesagt hat.
Der Krieg, das Klima & die Nazis
Mein Leben fühlt sich seit Corona nämlich auch so an wie eine Geisterbahn, mit einem Spinnennetz, das sich immer fester um mich zuschnürt wie beim „Herrn der Ringe“. Ich kann darüber aber nicht mehr wie Kafka lachen. In meiner Geisterbahn ist nur noch Angst.
Ich habe Angst vor einem Krieg. Davor, dass die Erde schon für meine Generation unbewohnbar wird. Dass Donald Trump in Amerika Präsident wird und wir dann vor Putin ohne Schutz sind. Ich habe Angst davor, dass in Deutschland die Nazis wieder an die Macht kommen und mich grundlos verhaften wie Josef K. und aus Deutschland hinausfegen wie die Schwester Gregor Samsa, das Ungeziefer, aus seinem Zimmer. Ich habe nämlich auch „Migrationshintergrund“.
Mir graust vor der Kälte und dem Hass im Internet, vor der Einsamkeit. Ich kann ja nichtmal fliehen, die Angst kommt ja immer mit! Bei Karl Roßmann und Amerika hat das auch nicht geklappt.
Verkriechen wie Kafkas Tier?
Manchmal würde ich mich gerne in einen labyrinthischen Bau verkriechen wie Kafkas Tier. Aber die Angst ist leider selbst ein Tier und hat sich schon in meinen Gedanken eingenistet.
Diese Angst ist in mich hineingefahren wie ein Dämon und kratzt ständig mit ihren Krallen in mich wie die Maschine in der „Strafkolonie“ – irgendwie so empfinde ich das.
Manchmal fühle ich mich wie ein Alien, ich verstehe die Welt nicht mehr. Spinne ich nun rum oder spinnen die anderen? Ich glaube, so ähnlich hat sich Kafka damals in Prag auch gefühlt. Und die Künstler*innen, deren Werke ich in „Kafka“ gesehen habe, vielleicht auch.
Zum Glück habe ich mich in München in die Geisterbahn hineingetraut, es ging auch ohne Bier. Und zum Glück habe ich dadurch Kafkas Geschichten für mich entdeckt. Klingt vielleicht komisch, aber sie geben mir Kraft. (04.02.2024)
Anmerkung 1: Beim „berühmten Museumsdirektor“ handelt es sich um den legendären Kurator Harald Szeemann, der Kafkas Tötungsapparatur nach der Beschreibung aus der „Strafkolonie“-Erzählung 1975 für seine Ausstellung „Junggesellenmaschinen“ nachbauen ließ, das „Künstlerpärchen“ sind Janet Cardiff & George Bures Miller, deren „Killing Machine“ (2007) wir schon mal im Lehmbruck Museum in Duisburg gesehen haben. Der klavierspielende Sträfling stammt von Rodney Grahams (haben wir leider zu fotografieren vergessen, sorry Mila, es ist KEIN Pyjama, das hatten wir dir aber auch erklärt), und die Installation aus Bett & Fäden ist „During Sleep“ (2008) von Chiharu Shiota, die wir im Marta Herford mal persönlich kennenlernen durften. Weiter unten ein Bild vom Spinnen ihrer Herforder Fäden.
Weil wir große Robert-Crumb-Fans sind, hat uns sehr gefreut, dass die Ausstellung viel über den Text und die Bilder aus seinem brillanten „Kafka“-Comic erzählt. Und über einen Papierschredder, der angeblich Max Brod gehört haben soll (und der defekt sein könnte), mussten wir ziemlich schmunzeln. SO wird es wohl gewesen sein.
Anmerkung 2: Die Stelle mit Karl Roßmann haben wir in Milas Ausflugsprotokoll mal dringelassen, auch wenn wir finden, dass Mila Kafka hier nicht ganz sauber gelesen hat. Und wir sind uns auch nicht so sicher, ob die Schwester Gregor Samsa am Ende der „Verwandlung“ tatsächlich aus dem Zimmer fegt: Bei Jedem von uns ist die Lektüre aber schon ein paar Jährchen her. Nur Milas „Torhüter“ haben wir dann doch durch den „Türhüter“ ersetzt, das war uns Schmunzeln an der falschen Stelle. Sind aber eigentlich nur Petitessen. Es geht ja eher um die Atmosphäre.
„Kafka: 1924“ ist noch bis zum 11. Februar 2024 im Museum Villa Stuck in München zu sehen – nicht mehr viel Zeit um hinzufahren, das wissen wir! Aber Mila hat leider erst am Freitag geliefert: Schreibhemmung. Es geht ihr eben gerade nicht besonders gut. Wir sollen aber ausrichten, dass das nichts mit Kafka oder „Kafka“ zu tun hat, aber das habe sie ja schon geschrieben. Ihr Leben sei halt seit Corona eine Geisterbahn.
Ach, noch eine Kleinigkeit: Weil wir uns ja auch der Sichtbarmachung des Unsichtbaren verschrieben haben, finden wir die Installation „Kafkas Schwestern“ des Künstlers Sebastian Jung im Jüdischen Museum in München zumindest erwähnenswert. Die kann man sich noch bis zum 29. September 2024 anschauen, vielleicht gehen wir beim nächsten Besuch in München einmal hin. Der Eintritt ist frei.
Betriebsausflüge in der KunstArztPraxis:
Betriebsausflüge (3): Nicole Eisenman in München
Betriebsausflüge (2): “Geordnete Verhältnisse” in Nürnberg
Betriebsausflüge (1): “Kunst für Tiere” in Rüsselsheim
Hallo Mila,
mir hat Dein Text zum Kafka-Besuch gut gefallen. Vielleicht lese ich nun Kafka auch mal wieder. Das letzte Mal liegt etwa 30 Jahre zurück. Schade, dass die Ausstellung nicht mehr lange zu sehen ist. Aber ich verstehe auch Deine Schreibhemmungen. Quälender Zustand. Vielleicht findest Du ja eine Technik, um Dich davon zu befreien. Wie Kafka – Bücher schreiben?
Alles Gute und vielen Dank an die Kunstärzte und das Rettungspersonal für die schönen Anregungen in den Newslettern (fördert bei mir FOMO) und fürs Lachenmachen.
Herzliche Grüße von Andrea
Antwort KunstArztPraxis: Herzlichen Dank, richten wir aus! Und verschreiben JOMO auf KunstArztRezept: Das meiste, was wir NICHT beschreiben, kann man ja getrost vergessen (Scherz!) ;-). Ihre KunstArztPraxis
Toller lesenswerter Text von Mila. Da will man in die Ausstellung und selber schauen.
Weiter so! – Und alles Gute!
Eine kleine Anmerkung für die Kunstärzte – es handelt sich auch nur um eine Petitesse. Sicherlich ist nicht wie genannt „Milas Ausflusprotokoll“ gemeint, sondern ihr Ausflugsprotokoll, oder? 😉
Viele Grüße
MS
Antwort KunstArztPraxis: Herzlichen Dank, das wird sie freuen. Und die Petitesse werden wir bereinigen. 🙂 Herzliche Grüße, Ihre KunstArztPraxis