Vom Schlafschaf. Kant und seine Fragen in Bonn
Im April feiern wir den 300. Geburtstag von Immanuel Kant, die Bundeskunsthalle in Bonn widmet ihm deshalb eine Ausstellung. Das ist mutig & nötig, deshalb wollen wir sie hier besprechen: auch – oder gerade – weil sie so anders ist als die Ausstellungen, die wir sonst hier so besprechen. Gimmick: Gedanken zum Schlafschaf.
Vor Kurzem haben wir aus unserer kollektiven Erinnerung spontan das Gedicht „Weltende“ (1911) von Jakob van Hoddis niedergeschrieben, aber wir können noch etwas auswendig, weil das den Geschichtslehrern unserer Sauerländer Jugend wichtig war.
Es ist die Anfangspassage aus Kants Essay „Was ist Aufklärung“ von 1784, die so erschreckend aktuell geworden ist, dass wir auch sie kurz kollektiv erinnern wollen:
Im April feierte Immanuel Kant seinen 300. Geburtstag, und wenn er wirklich so unsterblich wäre, wie wir ihn ob solcher Sätze gerne hätten, dann hätte er sich über die Ausstellung in Bonn sicher gefreut – vor allem über die vielen jugendlichen Besucher*innen.
Zumindest als wir da waren, waren neben den üblichen Ü60 sehr viele Schulklassen mit ihren Lehrer*innen da.
Der Kant-Kult der Vergangenheit
In Bonn wird Kants Leben, seine Zeit und seine Philosophie gerade für ein philosophiefernes Publikum didaktisch anschaulich aufbereitet. Es gibt viel zu lesen und zu experimentieren. Und ein paar Reliquien, die sich dank Kant-Kult der Vergangenheit überliefert haben, gibt es auch.
So sind in „Kant und die offenen Fragen“ sogar jene feinen Schuhe zu bestaunen, mit denen der Philosoph bei seinen täglichen Stadtspaziergängen vielleicht durch Königsberg flanierte – und jenes im Zweiten Weltkrieg komplett zerstörte barocke Königsberg, durch das er mit den Schuhen flaniert ist, ist sehr imposant & mit riesigem Aufwand virtuell rekonstruiert.
„Wer nicht denken will, fliegt raus“
Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Anhand dieser Schlüsselfragen Kants entspinnt sich in Bonn der Parcour.
Wobei wir es natürlich besonders toll finden, dass dabei nicht nur zeitgenössische Dokumente aus Leben, Kunst und Wissenschaft zu finden sind, sondern auch Gegenwartskunst, die sich von Kant her begreifen lässt.
Beuys ist mit dem Multiple „Ich kenne kein Weekend“ vertreten, zu dem auch Kants „Kritik der reinen Vernunft“ als bescheidene Reclam-Ausgabe gehört – ein Multiple, das wir im Beuys gewidmeten Anfangsjahr unserer KunstArztPraxis als DIY-Servier-Vorschlag zum Nachbasteln angeboten haben.
Das leuchtet ein: Immerhin hat Beuys im Grunde Kants „Sapere aude!“ mit „Wer nicht denken will, fliegt raus“ ironisch in die autoritärere Formel des philosophieren lehrenden Lehrers in seiner Klasse gepresst.
Wo bleibt die Moral?
Von Anselm Kiefer gibt ist ein eher unbescheidenes Gemälde zu sehen – wohl wegen seines kantianischen Titels „Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Prinzip in mir“ (1997). Das ist Kontrastprogramm: Erhaben – vielleicht sogar über jeden Selbstzweifel? – ist Kiefer ja immer.
Ein moralisches Prinzip jedenfalls haben wir auf dem Bild nicht entdeckt.
So weit, so gut.
Ansonsten aber hätte sich Kant, wenn er in seiner Unsterblichkeit mit seinen Schuhen aus der Bundeskunsthalle zum Spaziergang an die freie Stadtluft getreten wäre, sicher vor allem jene in der Schau von besagter Strähne repräsentierten Haare gerauft: Schließlich wird seine Aufklärung von imaginären Glatzköpfen in imaginären Springerstiefeln gerade mit Füßen getreten.
Mangelnde Urteilskraft Hilfsausdruck
Wir sind ja im erkenntnistheoretisch eher unbeleckten postfaktischen Zeitalter angekommen, das zwischen faktenbasierter Wahrheit und bloßer Meinung keinen Unterschied mehr erkennen will – selbst da nicht, wo einem die amoralische, unsoziale, bisweilen gar narzistisch-kriminelle Durchtriebenheit dieser „Meinung“ ganz offensichtlich in beide Augen springt.
Mangelnde Urteilskraft Hilfsausdruck.
Was Kant auf unseren Straßen zu sehen bekäme, ist ja nichts weniger ein neuer Eingang des Menschen in seine selbstverschuldete Unmündigkeit, eine Rolle rückwärts in eine Epoche, in der ausgerechnet Aufklärer wie Kant die Buhmänner sind.
Nur fehlt es bei diesem Eingang in die selbstverschuldete Unmündigkeit offenbar nicht an Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Es ist den Eingegangenen schlichtweg egal.
Was will ich glauben? Was kann mir nützen? Was soll ich kaufen? Wer ist ein Mensch? Das sind so die Fragen.
Exkurs zum Schlafschaf
Für diesen in seine Unmündigkeit Eingegangenen haben die Schlafschafe übrigens den schönen Begriff des „Schlafschafs“ erfunden, und der trifft es, wie wir finden, ziemlich gut.
In unserer kollektiven Einbildungskraft schlummert das Schlafschaf sanft in einer Blase, die die Wölfe permanent mit süß-sauren Giften füllen. In dieser nährenden Lösung erträumt sich das Schlafschaf einen Leitwolf zum Schäfer, der wie durch Zauberhand nur jene Schafe reißt, die das Schlafschaf für die schwarzen hält.
Dass es selbst ein Schlafschaf sein (und dem Wolf zum Opfer fallen) könnte, fällt dem Schlafschaf im Traum nicht ein. Es hält sich nämlich für hellwach. Und tatsächlich sieht man dem Schlafschaf den Schafsschlaf äußerlich nicht an! Das ist der ontologische Trick.
Wir sind uns ziemlich sicher, dass das Schlafschaf noch tiefer wird schlummern können, wenn die Wölfe ihm in naher Zukunft die Fruchtblase dank KI zu 100 Prozent mit virtuellen Giften füllen. Wobei wir mit KI natürlich „Künstliche Intelligenz“ meinen, und nicht, wie noch im Philosophieunterricht unserer Sauerländer Jugend, „Kategorischer Imperativ“.
Und damit genug fabuliert. Zurück zu Kant.
Es gibt momentan eine heftige Debatte über „westliche Werte“, die wir nicht so recht verstehen, aber es liegt vermutlich nur ein Missverständnis vor.
Wenn wir an „westliche Werte“ denken, dann denken wir automatisch an Demokratie, Gleichberechtigung, Menschenwürde, Wissenschaftsfreundlichkeit, Friedfertigkeit und Toleranz. Und an moralische Integrität. Ja: auch auch die.
Mit diesen Idealen sind wir zum Gutteil nämlich noch großgeworden. Aber „westliche Werte“ sind das ja tatsächlich nicht unbedingt.
Im Großen und Ganzen sind das eher die Ideale der Aufklärung, die in der Ausstellung aufscheinen, weil unter anderen Kant sie vertreten hat – auch wenn es mit der praktischen Umsetzung bei ihm nicht immer so ganz klappen wollte.
Auch dies zeigt die nicht zuletzt vom Erkenntnisstand der Forschung her sehr fundierte Bonner Schau mit Blick auf Kolonialismus, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus auf.
Sollte man besser „Werte der Aufklärung“ sagen?
Vielleicht sollte man statt „westliche Werte“ also besser „Werte der Aufklärung“ sagen? Dann hätte man (zum Beispiel) auch die muslimische Welt mit eingefangen, die ja mal unvergleichlich viel aufgeklärter als die christliche war.
Und all jene, die im „Westen“ diese Werte nicht vertreten, hätte man außen vor.
Könnte man sich DANN vielleicht darauf einigen, dass diese „Werte der Aufklärung“ durchaus Ideale sind, die es – gerade jetzt, wo der blasige Mainstream der teils erschreckend jungen Schlafschafe aus Trotz und Verachtung und Empathielosigkeit und Egoismus die Wölfe zu wählen droht – mit Zähnen und Klauen zu verteidigen gilt?
Es sind nämlich fast ausnahmslos jene Werte, die die imaginären Glatzköpfe wie, sagen wir: Donald Trump, Wladimir Putin oder die AfD, in ihren imaginären Springerstiefeln pausenlos mit Füßen treten.
Was dürfen wir wünschen?
Wir jedenfalls wünschen uns viele aufgeklärte Menschen, die sich weigern, erneut in ihre selbst verschuldete Unmündigkeit einzutreten, obwohl es nie so verführerisch war wie heute. Und wir wünschen uns eine vernunftbasierte, polemikfreie Politik, die, wie von Kant vorweggewünscht, endlich wieder in Bildung & Erziehung investiert: also langfristig in Zukunft denkt statt in Humankapital und in Wahlperioden.
Auch das wäre langsam an der Zeit.
Und, ja: Wir wünschen uns Lehrer*innen, die den Mut besitzen, ihren Schüler*innen Kant (und noch viele andere derselben Liga) zuzumuten. Und Schüler*innen mit der Entschließung, Kant (und noch viele andere derselben Liga) auch zu lesen. Durchaus so kritisch, wie diese Ausstellung Kant zu lesen versteht. Auf dieses Sapere aude wollen wir zumindest hoffen.
Und den Anfang von Kants Essay „Was ist Aufklärung“ sollte auch noch Jede*r auswendig können. Punkt & Schluss. (28.01.2024)
„Immanuel Kant und die offenen Fragen“ läuft noch bis zum 17. März 2024 in der Bundeskunsthalle in Bonn. Mögen Schulklassen die Ausstellung fluten.
Anmerkung1, zur Sicherheit: Nein nein: Wir sind zwar nicht so lebensmüde, dass wir eines unserer drei Leben für Andersdenkende opfern würden wie Voltaire sein einziges, aber wir haben nichts gegen Andersdenkende, im Gegenteil: Man kann ja lernen. Gerade Querdenker sind willkommen. Sie sollten eben halt nur wirklich quer DENKEN. Darauf wollten wir hinaus.
Anmerkung 2: Doch doch: Wir wissen selbst, dass die unabhängigen, also auch die öffentlich-rechtlichen Medien und die „Eliten“ eine Menge zur momentanen Medien- und Eliten- und Demokratiefeindlichkeit beigetragen haben. Wir versuchen ja zumindest, mit unseren Köpfen die eigene Blase hin und wieder zu durchstoßen wie der Mensch auf Flammarions Holzstich. Gut, das man auch sowas sagen kann.
Nachtrags-Anmerkung 3 (22.01.2024): Wir haben gestern die Bilder der Demonstrationen in Hamburg, München und Berlin gesehen (und auch die, wenn auch kleinen, Demos aus dem Osten), und: Ja, wir haben alle Drei ein bisschen vor Freude geweint.
Appendix: Kant, Georgia und der Wert der Kunst
Kant hat sein Postulat vom Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zeitgemäß an „Religionssachen“ festgemacht, weil „in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen“. Aber EINEN Vormund für Kunstfans gibt es heutzutage schon, und der heißt „Markt“. Wobei wir den „Markt“-Begriff, wie er hier interessiert, ziemlich weit fassen wollen.
Der „Markt“ bestimmt den „Wert“ von Kunst, der sich zumeist am Finanziellen – oder am Martgeschrei der Anderen – orientiert. Und der „Markt“ legt fest, was wir überhaupt zu sehen kriegen. Beim „Markt“ geht es aber meistens nicht um Kunst, sondern um Geld und um Geschichten (außer bei uns natürlich!), und eine besonders hübsche hat sich bekanntermaßen Ende letzten Jahres in der Bundeskunsthalle zugetragen.
Auch wenn es natürlich Alle wissen, erzählen wir es hier gerne noch einmal: In der Bundeskunsthalle ist beim Abbau von „Wer wir sind. Fragen an ein Einwanderungsland“ Anfang Oktober 2023 aufgefallen, dass in der Ausstellung offenbar über einen Monat lang ein Bild hing, das die Künstlerin Danai Emmanouilidis aus Hagen hineingeschmuggelt und mit doppelseitigem Klebeband an der Museumswand befestigt hatte.
Die Kunst-Aktion, die als „Geschichte“ ziemlich alles hat, worauf Medien so abfahren, bekam wie erwartet ein Medienecho, dass das journalistische Maß der Aufmerksamkeit für die vorangegangene Ausstellung gefühlt um das Hundertfache überstieg. Am Ende – sprich: am 29. November 2023 – wurde das Bild („Georgia“, Acryl auf Papier, 2019/2020) beim renommierten Kölner Auktionshaus VAN HAM für einen guten Zweck, vor allem aber für 3.700 Euro (inkl. Aufgeld) versteigert. So macht es der „Markt“ ja immer: Subversives wird gnadenlos einverleibt.
Und? Sagt diese Geschichte irgendetwas aus über das Bild (das wir im Übrigen gar nicht übel finden, wenn auch nicht so gut wie die Aktion daselbst!) und seinen „Wert“? Natürlich nicht! Aber sie sagt viel aus über unsere Vormünder – und was wie & warum zu sehen (oder eben nicht zu sehen) kriegen. Im Übrigen sollte uns die Geschichte daran erinnern, dass prinzipiell überall da draußen – jawohl: auch jenseits der Museen und Galerien und Auktionshauswände! – gute Kunst lauern könnte. Man muss nur mündig & aufgeklärt hinschauen.
Denn: Kants „Sapere aude!“ gilt auch für Kunst.
Die Bundeskunsthalle in der KunstArztPraxis:
Echt? Peinlich? “Ernsthaft?!” in der Bundeskunsthalle
Reine Bildgebung (15): “Ernsthaft?!” in Bonn
Der Kunstmarkt in der KunstArztPraxis:
159,2 Millionen für van Goghs “Gurkenmädchen”!
Die Zerstörung van Goghs: “Stand up for Art”
Keine Kunst! Was Richard David Precht vergaß
Nach dem Exkurs zum Schlafschaf lese ich dieses Bild ganz anders:
https://artothek.kulturelles-erbe-koeln.de/documents/obj/40000668
Vielen Dank!
Antwort KunstArztPraxis: Ha, das gefällt uns! Und: Ein beachtliches Bild! Jetzt haben wir gelernt, dass Schafe unterschiedlich schlafen können. Danke retour. Ihre KunstArztPraxis
Vielen Dank auch aus Aachen für die Inspiration !
Am Sonntagmittag (nach Schafschlaf) bringt das Orientierung ins Weekend
und den Wunsch, sich nach Bonn aufzumachen (hoffentlich als Mehrgenerationenprojekt).
Das klingt nach einer würdigen Feier des Jubilars, dem ich noch einen Raum wünschte, der zum kritischen Diskurs, zum Philosophieren, einlädt. Gibt es ihn dort? Liebe Grüße, Julia Hock
Antwort KunstArztPraxis: Dank retour! Vielleicht sollte man die Bundeskunsthalle in ihrem jetzigen Zustand als Wandelhalle im Sinn der griechischen Stoa begreifen? Dann könnte man mit anderen Erkenntnisliebenden durchwandeln und beim Durchwandeln philosophieren.
Im Übrigen gibt es im Ansatz tatsächlich einen solchen Raum – einen sehr gelben, wenn wir uns recht entsinnen! Ihre KunstArztPraxis
Echter Trost am Sonntagmorgen,
großartig, klug und verständlich geschrieben
– wie immer –
ich flute gerade meinen Freundeskreis mit ihrem Text und werde mir die Ausstellung ansehen – Pilgerweg für Aufklärung aus München – sowas wie ihren KunstArztpraxis Blog würde ich mir hier auch wünschen …
darf man ja mal.
Vielen Dank
Claudia Baumhöver
Liebe Frau Baumhöver, das zu lesen freut uns sehr, herzlichen Dank! In einer Woche reisen wir übrigens blogsüdwärts & mit Blick auf Münster wieder mal nach München! So viel sei hier schon verraten. 🙂 Herzliche Grüße, Ihre KunstArztPraxis.