Musik für Augen: Sean Scully in Neuss
In der grandiosen Architekltur der Langen Foundation gastiert mit dem Iren Sean Scully gerade ein Maler, der uns einmal ungewöhnlich tief berührt hat. Die Ausstellung stellt das Musikalische seines Werks ins Zentrum. Und diesen Fokus können wir aufgrund eben dieser Berührung besonders gut nachvollziehen.
2019 durften wir Sean Scully beim Malen über die Schulter schauen: vom ersten Strich bis zu dem Moment, in dem das Bild fertig war. Wenn wir uns recht erinnern, dauerte es keine fünf Minuten.
Scully saß auf einer schwarzen Bank in seiner Ausstellung „Vita Duplex“ im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster am Smartphone und zog seine vertikalen und horizontalen Striche dank einer speziellen Software mit dem Finger über den Bildschirm. Ein paar frühere Ergebnisse hingen damals in Münster an der Wand.
Im Unterschied zu seinen tiefen Gemälden überzeugten uns diese flachen Bildschirm-Oberflächen damals nicht. Gerade die Tiefe ist es ja, die Zeit braucht bei Scully. Beim Malen, sicher, aber eben auch beim Betrachten.
Scullys tiefe Gemälde, die wir bisher nur flach von Abbildungen her kannten, verblüfften uns beim Eintauchen komplett vor Ort. Wir erinnern uns noch gut an den überwältigenden Eindruck, der uns vor einem ganz in Grau und Schwarz gehaltenen Großformat überkam. Da hatten wir zu unserem eigenen Erstaunen plötzlich doch tatsächlich Tränen in den Augen.
Bis heute wissen wir nicht, wie Scully das gemacht hat.
Kraftvolle Zartheit, poetische Trauer
Normalerweise tränen wir nicht vor Bildern. Bei aufwühlender Musik allerdings – zum Beispiel bei manchem von Nick Cave („No More Shall We Part“), oder am Ende unsrer Lieblingsoper „Dido und Aeneas“, mit Jessye Norman – hin und wieder regelmäßig.
Scullys gestisch-geometrische Bilder müssen also etwas haben, das uns unmittelbar da anpackt, wo wir am Verletzlichsten sind. Offenbar wohnt ihnen eine kraftvolle Zartheit, eine poetische Trauer oder eine berührende Nähe inne, die wir in dieser stillen Dramatik eher vom Musikalischen her kennen.
Nun läuft in der Langen Foundation gerade eine Ausstellung mit 50 Werken aus verschiedenen Schaffensphasen Scullys, die den musikalischen Aspekten in seinem Werk – der Übersetzung von Melodie und Rhythmus in Linienraster und Farbstrukturen also – gewidmet ist. Das hat uns in Neuss kuratorisch unmittelbar eingeleuchtet: Offenbar hat uns unser Gefühl damals in Münster nicht getäuscht.
Ohnehin beginnt das Musikalische beim Maler schon beim Biografischen: Scully ist als Sohn einer Sängerin in Dublin aufgewachsen, die ganzen Klischees von der Melancholie und Lebensfreude irischer Klänge wollen wir hier nicht bemühen; die Assoziationen werden eh schon sprießen.
In London und New York jedenfalls scheint Rhythm and Blues für Scully wichtig geworden zu sein. Und auch der Malprozess wird bei ihm nach eigener Aussage oft „durch Musik ausgelöst“.
Der Rhythmus der Musik des Lebens
„Die Linien in meinen Bildern sind wie Gitarrensaiten im Raum, die vibrieren und Emotionen auslösen“, sagt Scully. Letztlich gehe es ihm um einen malerischen Rhythmus, der „wie der Rhythmus der Musik des Lebens“ sei.
Die Skeptiker in uns hätten so eine Aussage früher vielleicht als rein metaphorisch belächelt. Aber wir haben es in Münster ja, wie schon erzählt, an den eigenen Leibern sehr konkret erlebt.
In der Langen Foundation haben wir nicht geweint. Vermutlich waren wir diesmal einfach zu vorbereitet und zu abgeklärt. Dabei gab es aus Gründen überwältigender Schönheit und betörender Spannung eigentlich Anlass genug. Und das Zusammenspiel von Tadao Andos spektakulärer räumlicher Leere mit Scullys spärlich gesetzten Farbakzenten hatte schon selbst etwas von der aufwühlenden Partitur einer großen Symphonie.
Es müssen ja auch nicht immer Tränen sein. Der „Song of Colours“ war uns trotzdem ein bewegendes, in seiner Klarheit wogendes Erlebnis. Und vielleicht kommen wir mit Jessye Norman im Ohr einfach nochmal wieder? Dann lugen wir sicher auch nochmal nebenan bei Bertram Jesdinsky durch die Scheibe. (27.06.2022)
„Sean Scully. Song of Colours“ läuft noch bis zum 7. August 2022 in der Langen Foundation in Neuss. Und wer zufällig Urlaub in Italien macht: Da läuft im Museo d’Arte Moderna di Bologna (MAMbo) noch bis zum 9. Oktober 2022 „Sean Scully. A Wound in a Dance with Love“.
Langen Foundation in der KunstArztPraxis:
Alicja Kwade: In der Schwebe
Homepage der Langen Foundation
Sehr starker Bericht, voller Gefühl und Ehrlichkeit den Emotionen gegenüber.
Werde mich hier in diesem Blog noch etwas länger aufhalten.
Lieber Gruß
Antwort KunstArztPraxis: Danke vielmals fürs Verweilen. Als Tipp: Wenn Sie uns abonnieren, kommen wir ins Haus!