Wohnen bei Paula: Unsere Reise nach Worpswede
In diesem Jahr feiern die vier Museen von Worpswede (fast) in den 150. Geburtstag von Paula Modersohn-Becker (08.02.2026) hinein: Zum Jubiläum gehen die Leihgaben an die großen Häuser. Für uns ein guter Grund, ins einstige Künstlerdorf zu fahren, zu Paula & Gefährtinnen. Für Einen von uns war es eine sentimental journey.
Vor 35 Jahren reiste Einer von uns nach Worpswede. Es ging um eine Frau, das auch. Vor allem aber ging es um die Birke. Unser Einer liebt die Birke, für ihn ist sie bis heute die Königin der Bäume. In seinen Augen kommt kein anderer Baum ihr an Anmut und Schönheit gleich.
Der Ruf der Birken von Worpswede war den Bäumen in Form von Kunst vorausgeeilt. Nun wollte unser Einer im Teufelsmoor unter dem unglaublich weiten Himmel des Nordens jene stolzen Bäume sehen, die er von den Bildern Paula Modersohn-Beckers her schon kannte.

Tot der Jugend lauschen
Mit besagter Frau kam unser Einer damals im Haus im Schluh unter, bei Heinrich Vogelers schon hoch betagter Tochter Mascha: Damals lebte sie noch. Im Frühstücksraum hing ein Gemälde, auf dem ihre Mutter Marta im Birkenhain den Vögeln, dem Frühling und der eigenen Jugend lauschte. Heinrich Vogeler hatte es gemalt.
Unser Einer schlief im sogenannten Rosenzimmer untern Reetdach, mit selbstgemachten Möbeln Heinrich Vogelers vom Barkenhoff. Er erinnert sich an herrliche Gespräche mit Mascha, auch über Kunst im Alltag. An himmlische Betten, an traurige Träume. Und an sehr unbequeme Stühle.

Foto oben: Heinrich Vogelers „Frühling“ (1897) im Haus im Schluh,
Worpswede 2025. Unser Einer hatte das Bild viel kleiner in Erinnerung.
Von der Birke zum Porträt
So wundervoll unser Einer Vogelers Marta-Porträt in seiner natürlichen Umgebung damals fand, so ist für ihn bis heute Paula Modersohn-Becker die Malerin der Birke geblieben. Er verließ Worpswede aber auch mit der Erkenntnis, im Teufelsmoor keine der von ihr in ihrem „Lilienatelier“ vor Ort gemalten Birken gefunden zu haben.
Denn Paula Modersohns Birken, so hatte er schließlich begriffen, sind ja keine Bäume, sondern aus Farbe geformte, fast seidene Körper, wie Risse in der Leinwand schwebend vor ihrem grünbraun-erdenschweren Grund.
Und in ihrer Wesenheit und stillen Stärke von einer anderen, flächigen und eben nicht mehr vordergründig tiefen Wirklichkeit.

Später brauchte unser Einer noch eine Weile, um seinen Blick auf Modersohn-Beckers Werk von der dominanten Birke weg zu ihren Porträts hin zu öffnen, die ja irgendwie auch Landschaften sind. Zum Frauenporträt, um genau zu sein.
Zum Frauenselbstporträt, natürlich. Denn Paula Modersohn-Becker hat ja vor allem sich selbst gemalt.
Für Zwei von uns war es das erste Mal
Vor wenigen Wochen sind wir alle Drei gemeinsam nach Worpswede gereist. Für zwei von uns war es das erste Mal: Die Erzählungen des Einen, von der Birke & den Frauen, hatten den anderen Beiden keine Ruhe gelassen.
Ins Teufelsmoor stiefelten wir aber nicht: der verflossenen Jugend, sprich: der Knie wegen.
Stattdessen sind wir zu Paula Modersohn-Beckers Grab gepilgert und haben von der Orgelbühne aus ihre Blumenbilder in den Bögen der ungemein hübsch schlichten Moorbauern-Kirche betrachtet.
Der Überlieferung nach sind sie Teil einer gemeinsam mit der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff verfertigten Strafarbeit der damals 24-Jährigen: weil die Fräuleins in einem Anflug jugendlichen Leichtsinns die Kirchenglocken Sturm geläutet hatten – und das verärgerte Dorf in der irrigen Annahme herbeigeströmt war, es brenne.
In unseren drei Tagen Worpswede haben wir diese Geschichte vier Mal gehört. Und später in Bremen noch einmal.

Foto oben: Grab von Paula Modersohn-Becker (1876-1907) auf dem Friedhof der Zionskirche.
Die Mutter-Kind-Plastik des Bildhauers Bernhard Hoetger kam erst 1919 dazu.
Egal. Jedenfalls sind diese Blumen-Zeichnungen die einzigen, im Übrigen ganz bezaubernd zarten Werke der Künstlerin, die man bis ans Ende aller Tage nur in Worpswede sehen kann.
Wenn es nicht WIRKLICH einmal brennt.

Wir schliefen nicht in Heinrich Vogelers Rosenzimmer im Haus im Schluh, das inzwischen ohnehin mit Bad und Küche zum Appartement aufgetakelt wurde.
Stattdessen bezogen wir in Paula Modersohn-Beckers berühmtem Lilienatelier im denkmalgeschützten Brünjeshof Quartier, in dem viele der von uns geschätzten Porträts und Birkenbilder entstanden. Für diese Reise war es ohnehin der stilvollere Rahmen.


Wenn Rauschen Rauschen übertönt
Im Atelier konnten wir zwar nicht wie Paula Modersohn-Becker „alles Eitle, was die Großstadt mit sich bringt“, abstreifen, um „ein wahrer Mensch und echte Seele zu werden“, das ist ja klar:
Dafür ist Worpswede längst Teil des touristischen Urbanen.
Bei uns kam deshalb auch nur bedingt das Künstlerinnen-Gefühl auf, dass vorm Fensterrahmen „draußen die Schöpfung leise rausche“:
Heute wird die Schöpfung vom Vorrüberrauschen der SUV und LKW auf der nahen Hauptstraße schnöde übertönt.
Foto oben: Durch diese Rahmen sah Paula Modersohn-Becker
draußen tagtäglich die Natur. Worpswede 2025
Die Aura des konkreten Raums
Aber die sorgsam ausgesuchten Möbel gaben in unseren Augen das Flair der damaligen Einrichtung hinlänglich wieder. Und die Bemalung der Wände ist jener Farbigkeit nachempfunden, in der Paula* sie einstmals strich.
*In Worpswede werden die Künstler*innen der Moderne beim Vornamen
genannt: Paula, Ottilie, Martha, Clara, Heinrich, Otto usw. usf.
An diesen Marketingeltangel mussten wir uns erst gewöhnen.
Vor allem aber sahen wir durch dasselbe Atelier-Fenster, durch das Paula Modersohn-Becker beim Malen zur Jahrhundertwende gesehen hatte – was ungeheuer inspirierend war!
Denn so, wie es eine Aura des Kunstwerks gibt, so gibt es ja auch – sogar jenseits originaler Möblierung – die Aura des konkreten Raums.

Die Malerin der Blicke
Momentan ist eine gute Zeit, um nach Worpswede zu fahren – vor allem, wenn man die hier tätig gewesenen Maler*innen der Künstlerkolonie nicht nur von der Birke, sondern auch vom Porträt her studieren will.
Im Vorjahr zu Paula Modersohn-Beckers 150. Geburtstag (08.02.2026) haben die vier Worpsweder Museen in einer konzertierten Aktion nämlich die Ausstellungs-Reihe „Der unteilbare Himmel“ ins Leben gerufen, die der Jubilarin und ihren künstlerischen Weggefährtinnen gewidmet ist.
Mit einem grafisch wie didaktisch gleichermaßen überzeugenden Konzept, dass die Häuser mit einem roten Faden wie von Geisterhand verbindet.

Für uns war dabei die – vor allem im Untergeschoss sensationelle – Schau „Frei und unabhängig. Ottilie Reylaender“ in der Worpsweder Kunsthalle einhellig die größte Entdeckung.
Von Reylaender, die mit ihrer Mitschülerin Paula Modersohn-Becker in der Klasse vom Mitbegründer der Worpsweder Künstlerkolonie Fritz Mackensen eng befreundet war, kannten wir zwar einiges.
Aber wir hatten diese großartige Malerin, deren Selbst- und Doppel-Bildnisse, Landschaften oder Mutter-Kind-Darstellungen im Dialog mit denen der Bald-Jubilarin gehängt sind, frevelhafter Weise viel zu wenig auf dem Schirm.

Foto oben: Dieses fulminante Gemälde zum Beispiel kannten wir schon:
Ottilie Reylaender, „Zwei Freundinnen“ (um 1900), Worpsweder Kunsthalle, 2025
Nach Worpswede können wir nun aber unter anderem sagen, dass wir nur wenige Künstler*innen kennen, die mit so wenigen gezielten Pinsel-Strichen so viel Seele in die Blicke der von ihr Porträtierten legen konnten wie sie. So viel Melancholie: gerade in Kinderaugen.
Da arbeitet Modersohn-Becker beim gleichen Sujet – Augen & Blicke & Seelen bei Kindern – ganz klar verwaschener.

Die Große Kunstschau vis-à-vis verfolgt mit „Zukünftiges Schaffen“ das um 1900 nicht nur von Paula Modersohn-Becker anvisierte Ziel, Künstlerin zu werden, im Grunde bis in die Gegenwart – und konfrontiert den Wunsch nach kreativer Freiheit mit der damals gängigen – und heute von Rechtspopulisten wieder hervor gekramten – Rolle der Frau als Gattin und Mutter.
Und im wundervollen Barkenhoff – dem Wohn- und Atelierhaus von Heinrich Vogeler, das inzwischen sein Museum ist – sucht die Ausstellung „Verwandte Seelen“ nach Bezügen zwischen der Malerei Modersohn-Beckers und den Porträt-Skulpturen Clara Rilke-Westhoffs, die wir ja schon aus der Sturmglocken-Anekdote weiter oben kennen.
Foto oben: Was für ein Aufgang! Barkenhoff, Worpswede 2025

Und das Haus im Schluh?
Ach ja: Das Haus im Schluh. Dort sahen wir Maschas Mutter Martha wieder – nicht nur als lauschende Jugend im Birkenhain.
1919 wurde sie ja Heinrich Vogelers „Befreite Muse“: Als sie nach der Trennung mit den drei Töchtern, vielen Möbeln und Vogelers Frühwerk aus dem Barkenhoff auszog und dieses Anwesen, ein Dorf im Dorf, begründete.
Nicht zuletzt ermutigt durch Paula Modersohn-Becker, malte sie hier eigene Blumenbilder und begründete neben einem Heimatmuseum mit Bauernmöbeln 1938 auch eine Handweberei, die bis heute existiert.
Deshalb sind in „Befreite Muse“ viele Textilentwürfe und Textilien zu sehen. Auch jenes Kleid, das Martha Vogeler auf Heinrich Vogelers „Frühling“ trägt.
Da hat unser Einer sich gefreut.

Foto oben: Das Kleid, das Martha Vogeler 1897 für Heinrich Vogelers „Frühling“ trug,
Haus im Schluh, Worpswede 2025

Wir gingen auch ins frühere Speisezimmer, sahen den inzwischen abgesperrten Tisch vorm „Frühling“, an dem unser Einer mit seiner Liebe beim Frühstück damals noch gesessen hatte.
In SEINER Jugend. IHRER Stimme lauschend. Noch ohne Wehmut. Und mit intakten Knien.
Ins Rosenzimmer gingen wir nicht
Wir setzten uns auch mehrmals auf Heinrich Vogelers Stühle. Wir fanden sie eigentlich ganz bequem, unser Einer auf seiner sentimental Journey plötzlich auch. Ins Rosenzimmer unterm Reetdach indes gingen wir nicht. Die Wehmut! Die Knie!! Die neuen Bewohner!!!
Wir schauten nur von draußen ins Fenster.

Im Haus im Schluh sprachen wir lange mit einer der jetzigen Besitzerinnen, die letzten der Familie. Was kommt danach?
Und in der Handweberei, am Webstuhl, trafen wir eine alte Weberin. Sie arbeitete schon vor 35 Jahren hier: schon zu Mascha Vogelers Zeiten, als unser Einer mit besagter Frau das Rosenzimmer unterm Reetdach bezog.
An unseren Einen und seine Liebe konnte sie sich natürlich nicht erinnern, verflossen ist verflossen. Außer in der Kunst. (12.10.2025)
Die Vierfach-Ausstellung „Paula Modersohn-Becker und ihre Weggefährtinnen. Der unteilbare Himmel“ ist noch bis zum 18. Januar 2026 in den Worpsweder Museen zu sehen. Hier im Abspann noch ein paar fotografische Vorgeschmäcke, in the order of apperance oben. Voilà:
„Frei und unabhängig“, Worpsweder Kunsthalle, 2025
„Zukünftiges schaffen“, Große Kunstschau, Worpswede 2025
„Verwandte Seelen“, Barkenhoff, Worpswede 2025
„Befreite Muse“, Haus im Schluh, Worpswede 2025
Und dann zeigt das Paula Modersohn-Becker Museum in Bremen ebenfalls noch bis zum 18. Januar 2026 unter dem Titel „Paula Modersohn-Becker: Short Stories“ Werke aus der eigenen Sammlung. Da waren wir nach Worpswede auch noch.
Neben einem großartigen Bildnis der Freundin und Konzertpianistin „Lee Hoetger vor Blumengrund“ (1906) ist auch das „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“ (1906) der Künstlerin mit vorgewölbtem Bauch unter den Werken.
In seiner Flächigkeit verweist es auf die andere Tiefe einer Seelenlandschaft. Denn schwanger – das ist so eine Short Story – war Paula Modersohn-Becker damals nicht.


Aber auch die anderen in Bremen gezeigten Werke sind zum Gutteil faszinierend. Kostprobe gefällig? Voilà nochmal:
Bonus-Track 1: „Paula Modersohn-Becker: Short Stories“, Bremen 2025
Und dann gab es 2022 noch die Ausstellung „Das sind meine modernen Frauen“ mit Leihgaben aus dem Paula Modersohn-Becker Museum im Arp Museum in Remagen, deren Farbgebung Paulas berühmtem Lilienatelier in Worpswede nachempfunden war. Nicht nur deshalb wollen wir an sie erinnern. Voilà:
Bonus-Track 2: „Das sind meine modernen Frauen“, Arp Museum, Remagen 2022
Weitere Kunst-Anamnesen in der KunstArztPraxis:
Gegen.Bilder.Terror, 1989: Richters „18. Oktober 1977„
Lebenslanges Türenöffnen: Tomi Ungerer zum 90.
Korrekt performen: Marina Abramović zum 75.
Mehr Licht (2): 450 Jahre Caravaggio (*1571)
Sommerloch-Porträts (3): Robert Wilsons Mund
Sommerloch-Porträts (2): Pierre Huyghes Hund
Sommerloch-Porträts (1): Tim Burtons Hand
dankeschön für diese wunderbare Sonntags-Postille … und ja, es ist tatsächlich so, dass ich morgen für eine Woche nach Worpswede reise … und ja, tatsächlich das Rosenzimmer beziehen werde … um so schöner gerade, hier nun nachzulesen und hinzuschauen … dankeschön dafür! alles Liebe und Gute von Sabine aus Bonn
Antwort KunstArztPraxis: Grüßen Sie uns Frau Müller! Ihre KunstArztPraxis
sehr gern, das werde ich tun, mit ihr bin ich morgen nachmittag erst einmal verabredet
PS: Ein Besuch in Bremen war sowieso geplant, vor zwei Jahren dort mit großer Begeisterung schon in Paulas Museum gewandelt, darauf freue ich mich auch in diesem Jahr, und nun wurde just gestern in der Bremer Kunsthalle die Giacometti-Ausstellung eröffnet … mehr Vorfreude geht gerade tatsächlich gar nicht … wie gesagt, ein wunderbarer Reise-Bericht, der zeitlich passender für mich hätte nicht erscheinen können … glücklicherweise habe ich den Newsletter abonniert, und so wurde ich eben auf ihn aufmerksam 🙂