Erwin Hapke: Welten falten
In seinem Elternhaus bei Unna schuf Erwin Hapke für die Zeit nach seinem Tod mit Zehntausenden Faltfiguren aus Papier und Blech sein eigenes Museum. Rund 35 Jahre lang. Ohne das Haus je zu verlassen. Eine Geschichte vom Wunsch nach Glück mit Kunst in Quarantäne.
Momentan sind alle Museen wegen Corona geschlossen. Das ist fast unerträglich. Trost spendet nur die Aussicht, dass dieser Zustand irgendwann vorbei sein wird. Und zwar hoffentlich bald.
In Fröndenberg bei Unna aber steht seit Jahrzehnten ein Museum, das noch nie geöffnet war. Das sich im immerwährenden Lockdown befindet. Und dessen Erbauer in selbstgewählter Quarantäne mit ungeheuerlicher Kreativität und wissenschaftlicher Akribie ebendort ein faszinierenden Werk geschaffen hat, das nach seinem Tod Besucher erfreuen und in Erstaunen versetzen sollte.
Vor fünf Jahren nun ist er gestorben. Doch sein Wunsch hat sich bis heute nicht erfüllt.
Die zweite Haut des Hauses
Erwin Hapke hieß dieser Künstler: Ursprünglich ein promovierter Biologe, der der Welt nach einer kurzen Karriere an einem Max-Planck-Institut in Wilhelmshaven und einer kurzen Odyssee durch Deutschland Anfang der 1980er Jahre – inzwischen völlig verarmt – den Rücken kehrte.
Um in der Zimmereinsamkeit seines Elternhauses in NRW aus immer neu variierten Grundformen der Natur seine eigene Welt zu erfalten. Unermüdlich, bis zu seinem tödlichen Sturz im April 2016 mit 79 Jahren.
Bis dahin hat Hapke die zuvor von allem Mobiliar befreiten Wände, aber auch die zu Ausstellungsflächen arrangierten Tische und die Böden mit einer zweiten Haut überzogen. Einer Haut aus Zehntausenden von Insekten und Krebsen und Menschen und Monstern und Hexenwesen aus Papier und Blech.
Garniert mit Fotos der vergötterten Eltern, für die das Haus ein Erinnerungs-Tempel sein sollte.
Vom Erdgeschoss bis zum Dach ist Hapkes Haus gestaltet mit kuratorischer Dramaturgie. Und eben: entworfen als Museum. So entdeckte es Hapkes Neffe am Tag der Beerdigung: inklusive Besuchertoilette, Wegeleitsystem, Faltanleitungen – und vorgefaltetem Papier. Zum Üben für jenes Publikum, das Hapke für die Zeit nach seinem Tod erwartet hat.
Nur dem Gespür dieses Neffen ist es zu verdanken, dass das Werk nicht sofort im Papiercontainer gelandet ist.
Ewig im Zimmer bleiben?
Hapkes Museum ist nicht nur künstlerisch: Es ist auch sehr persönlich, fast intim. Denn es erzählt von einer privaten Vergangenheit, die plötzlich mit grausamer Historie kollidierte. Unter anderem durch Dorfarchitekturen aus Papier, mit denen sich der 1937 in Ostpreußen geborene Künstler die Kindheit auf einem Bauernhof gleichsam zurückerfaltete. Selbst die Koffer von der Flucht der Familie vor der Roten Armee 1944 sind noch alle da.
Es sind Zeugnisse jenes unheilvollen Parts der Weltgeschichte, der nach Blaise Pascal entsteht, weil es den Menschen einfach nicht gelingen will, nicht vor die Tür zu treten. Jetzt sind sie Teil eines aus allen Zeitläuften herausgefallenen Kunstkonzepts, das in der ruhigen Taktung Hapkes 35 Jahre lang durch konsequentes Im-Zimmer-Bleiben entstand.
Denn nach Flucht und Vertreibung und der gescheiterten Existenz als Biologe schuf sich Erwin Hapke im eigenen Gesamtkunstwerk ein neues Leben. Und eine neue Heimat, die er sogar signierte: mit den dreidimensional gefalteten Initialen “EH” aus rotem Papier in einem Meer aus weißen Lettern.
Wie in Quarantäne glücklich werden?
Von Erwin Hapke kann man lernen, was zu tun ist, um eine als böse empfundene Welt draußen zu halten. Und vielleicht auch, um in der Isolation doch zumindest zu überleben.
Zum einen: Den Briefkasten mit Panzerband verkleben. Sich aus dem Telefonbuch streichen lassen. Neugierige Nachbarsblicke an einem meterhohen Grenzwall aus Plastikfolie im Garten abprallen lassen. Ohne Krankenversicherung leben. Sich medizinisch selber heilen lernen.
Zum anderen: Ein “Trostbüchlein” über die toten Eltern schreiben. Die Natur vorm Fenster aus mit einem Fernglas beobachten. Die Tage strukturieren. Papier falten. Blech falten. Sich im Zustand äußerlicher Ereignislosigkeit innerlich entfalten.
Sich mit Kunst verweigern. Die Zeit zum Stillstand bringen. Und sich jeden Freitag von der Schwester mit dem Nötigsten versorgen lassen.
Aber: Kann man von Hapke auch lernen, in Zeiten des Lockdowns mit künstlerischem Eremitentum glücklich zu werden? War Erwin Hapke glücklich? Das wird die Welt wohl nie erfahren.
Was bleibt, ist ein Gesamtkunstwerk, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Und vielleicht auch in natura niemals sehen wird.
Der Lockdown fürs Museum bleibt
Draußen im Land werden die Museen hoffentlich bald wieder öffnen dürfen. Hapkes Museum aber wird weiter geschlossen bleiben. Alle Versuche, es zu retten, sind bisher gescheitert. So ist das Haus den Erben vor Jahren schon zur Bürde geworden.
Drinnen ist die Zeit, die Hapke zu Lebzeiten durch nichts als Falten Tag für Tag zum Stillstand brachte, seit seinem Tod ohnehin längst wieder angelaufen. Die Figuren lösen sich mit ihren Klebestreifen von den Wänden, auf den Tischen sind ganze Figurentableaus einfach umgekippt. Die zweite Haut des Hauses mit ihren Faltungen zerfällt. Hapke fehlt nicht nur als Künstler und Kurator, er fehlt auch als Konservator seines eigenen Werks.
Längst denkt Hapkes Neffe daran, das Lebenswerk des Onkels in einem letzten rituellen Akt würdig zu verbrennen. Der Tempel aus Papier und Blech soll den Flammen geopfert werden. Dann wäre das Museum unwiederbringlich zerstört, bevor es auch nur für einen Tag hätte öffnen können.
Und das ist wahrhaft unerträglich für jene Handvoll happy few, die es seit 2016 schon betreten durften. (25.01.2021)
WDR 3 Multimedia-Reportage: Der Weltenfalter
WDR 3 Podcast: Der Weltenfalter
Diese Arbeiten – Ausdruck einer bewegend bewegten Biographie, ihr unbestrittener Wert als Gesamtkunstwerk, als Spiegel einer von aktuellen Ereignissen „geschlossenen“ Welt – sie dürfen nicht zerdrückt, geknüllt oder verbrannt werden!
Pingback:Sabine Remy, miriskum, Papierkunst, Erwin Hapke |
Wenn diese Faltkunst für immer geht, hat unsere Kulturwelt versagt. Ich finde diese Geschichte nach wie vor ergreifend, erschütternd und faszinierend.
da hast du Recht, Philipp!
Ich gehörte zu dem kleinen Team, was gemeinsam mit dem Neffen versucht hat die Arbeiten zu retten. Das war 2016 /17 und wir konnten leider keinen Sponsor auftreiben. Das M. Burchardt plant alles zu verbrennen erschüttert mich.
Etwas ganz Einmaliges!
Verstörend schön!
Was für ein Drama, das sich das vermutlich nicht retten lässt!