Erwin Hapke: Das Ende eines Gesamtkunstwerks
Mit unzähligen Figuren aus Papier und Blech hat Erwin Hapke in 35 Jahren sein eigenes Museum geschaffen. Bis zu seinem Tod 2016 durfte niemand es sehen – wir waren danach die ersten Fremden. Nun ist das Werk unwiederbringlich verloren. Ein letzter Besuch.
Dies hier war Erwin Hapkes Heimat. Hier hat er geatmet, gegessen, geschlafen. In seinem selbst gemachten Universum, ein ganzes zweites Leben lang. Hier hat er gefaltet, tagaus, tagein, und so die Zeit zum Stillstand gebracht. Niemals das Haus verlassen. Immer daheim geblieben. Es gab zu viel zu tun.
Und hier ist er dann doch gestorben. Als die Zeit sich nicht mehr stoppen ließ, ist der Tod gekommen, der erste Gast seit über drei Jahrzehnten, und hat ihn abgeholt.
Ein Haus wird gehäutet
Fünf Jahre später sind auch für Hapkes Universum die Tage gezählt. Neue Bewohner sind da, die Faltungen müssen Menschen weichen. Nächste Woche wird das Haus geräumt.
Nein: Eigentlich wird das Haus gehäutet: die grausamste Folter. Denn Hapkes Kunst war eine zweite Haut für Wände, Böden, Tische. Wir haben mehrmals davon geschrieben.
Jetzt, eine Woche vorher, sitzen wir am Küchentisch, umgeben von den Koffern der Vertreibung aus Hapkes erster Heimat Ostpreußen. Es ist Ende August, draußen über Fröndenberg zucken tatsächlich die Blitze. Es gießt aus Kübeln. Flut- und Flüchtlingswetter.
Sechs Stunden lang sind wir mutterseelenallein durch die verdämmernden Zimmer gewandert und haben versucht, Hapkes Kunst noch einmal einzuatmen. Dieses Biotop aus Papier und Blech auf- und im Gedächtnis mitzunehmen. Die gefaltete Artenvielfalt, die nicht nur schöne Atmosphäre.
Heute noch einmal aufsaugen, was morgen nicht mehr ist.
Das haben wir oft versucht in den letzten Jahren. Jedes Mal sind wir mit einer Überfülle an Fotos heimgekommen. Diesmal haben wir in sechs Stunden ganze drei gemacht.
Es war ein langes Sterben
Im Rückblick war es ein langes Sterben. Und schrecklich für alle, die ohnmächtig mitansehen mussten, wie dieser große Kosmos sich unaufhörlich aufzulösen begann.
Weil Bürgermeister ihre Besichtigungsbegeisterung in der Amtsstube offenbar schon wieder vergessen hatten. Weil Galeristinnen nur die Sahnehäubchen sahen statt den ganzen Kuchen. Weil Kulturverwerter und mögliche Finanzierer abwinkten. Oder erst gar nicht reagierten.
Weil in der Welt da draußen letztlich kein Geld und kein Platz und kaum Verständnis da war für das hier drinnen, das seinesgleichen nicht mehr finden wird in der Welt.
Vielen kann man einen Vorwurf machen. Vielleicht auch sich selbst. Die Familie aber hat ihr Menschenmöglichstes getan. Eine Woche bleibt ihr nun, um die vom Bruder und Onkel und Großonkel zusammengefalteten Jahrzehnte gemeinsam mit einem Freund möglichst sorgsam zu verpacken und auf die Reise in eine ungewisse Zukunft zu schicken. In Kisten. Und in den alten Koffern.
Wieder eine Heimat, die unwiederbringlich verloren geht.
Wir wissen nicht, ob wir das packen
Sollen wir helfen bei der Vertreibung? Das Universum mit vernichten, um seine Bewohner vor Schlimmerem zu bewahren? Wir wurden gefragt, es wäre dringend nötig. Wir haben ein schlechtes Gewissen. Wir fühlen uns schuldig. Auch die Familie ist uns ans Herz gewachsen in den Jahren.
Aber wir wissen nicht, ob wir das packen.
Überhaupt: Wie verabschiedet man sich von einem Gesamtkunstwerk? Wie lässt man etwas Unrettbares los, von dem man glaubt, dass es mit aller Macht der Erde hätte gerettet werden müssen?
Uns ist nichts Besseres eingefallen als dieser Text, der in den letzten sechs Stunden in unseren Köpfen gewachsen ist. Und ein fotografisches Experiment, eine sicher viel zu plumpe Inszenierung als letzte Hommage.
Gleich werden wir mit Hapkes eigener Polaroid-Kamera ein letztes Mal durch die Räume gehen. Wir wollen jene Dinge fixieren, mit denen der Eremit die Welt in seiner Klause behielt:
- Den Kittel, den er als Biologe am Max-Planck-Institut im ersten Leben getragen hat.
- Das Fahrrad, mit dem er das Haus zur Beerdigung der Mutter 1996 einmal verließ.
- Die Gartentreppe, auf der einst die Schwimmer des örtlichen Freibads ins Wasser glitten.
- Das Telefon, mit dem er der Schwester am anderen Ende Einkaufslisten diktierte.
- Der Globus, auf dem er in den eigenen vier Wänden bis nach Japan reiste.
- Und die Schuhe, mit denen er vor die Haustür hätte treten können. Was nie gelang.
Ein Vermächtnis lieb gewonnener Dinge soll es werden. Dinge, die Hapke aufnahm in sein Universum. Dinge, deren Schicksal auf jeden Fall besiegelt ist. Gesehen durch ein Objektiv, durch das schon Erwin Hapke sah.
Nur ein Versuch: ein Film, acht mögliche Bilder. Und im Ergebnis hoffentlich ebenso dunkel und verschwommen und einmalig wie eine traurige Erinnerung an etwas Wundervolles, das verloren ist. (27.08.2021)
Anmerkung: Dieser Text wurde getippt auf Erwin Hapkes „Olympia“, auf seinem Papier, an seinem Küchentisch. Das Farbband war komplett verblasst, wir mussten die Buchstaben durchdrücken, es war harte Arbeit. Nach der Abschrift haben wir das Papier verbrannt. Soviel Ritual waren wir Erwin Hapke schuldig. Und soviel Pathos.
WDR-Multimedia-Reportage: Erwin Hapke – Der Weltenfalter
WDR-Podcast: Erwin Hapke – Der Weltenfalter
Appendix: Was sich der Tod beim Abholen gedacht hat
Was mag sich der Tod gedacht haben, als er nach Fröndenberg kam, um Erwin Hapke abzuholen? Was mag in ihm vorgegangen sein, als er durch die geschlossene Haustür schritt und eine Welt vorfand, die selbst einer wie er noch nie zuvor gesehen hatte?
War er sprachlos, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben? Hat er kurz inne gehalten in seinem Tun? Für einen Moment vielleicht sogar den Auftrag vergessen vor lauter Staunen?
Wir glauben, dass der Tod zunächst einmal wieder benommen nach Hause gegangen ist. Dass er da, wo er wohnt, geduldig abgewartet hat. Bis Erwin Hapke sein Werk komplett vollendet hatte. Vollbringen konnte, was er vollbracht hat. Bis sein Museum eingerichtet war. Bis der Künstler fertig war mit spielen.
Erst danach ist der Tod zurückgekommen. Damit die Nachwelt sich um etwas Großes zu kümmern hätte. DAS hat sich der Tod gedacht.
Wenn dem so wäre, wie wir glauben: Dann muss sich der Tod ab sofort ewig im Grabe umdrehen.
Post Scriptum 9/11
Schuldig auch ich: Das Zweibein hätte ich finden können/ müssen.Ganz verloren ist es nicht: Die bewundernswerten Diagramme werden es möglich machen.Es muss nur der richtige Gralsritter kommen.Alles ist ja nicht nur in euren wunderbaren Fotos, Videos und Texten „konserviert“, sondern von Erwin Hapke selbst in seinen Partituren, die eine Aufführung durch andere jederzeit möglich machen. Leider nicht in seinem Bayreuth.
Am Tode Hapkes hatte ich keinen Anteil, an der Vernichtung des Werkes habe ich aber Hand angelegt. Mit Respekt und Ehrfurcht, mit Traurigkeit, mit eben dem ungewissen Gefühl, dass einen befällt, wenn man zerstört, was sonst die Zeit zerstört hätte. Es ist ein aussichtsloses Rennen, dem Verfall zuvorzukommen, wenn nicht mehr und nicht weniger als die Zeit und die Witterung dein Gegner ist. Täglich fahre ich dort hin, in dem Bewusstsein, Stücke zu entreißen, um sie in möglich sanfter Lage an einen Ort zu bringen, an dem sie nicht mehr das sein dürfen, was sie einmal waren: Teil eines Ganzen.
Und während ich dort Stunde um Stunde, Tag um Tag sitze, stehe, knie, von der Wand nehme, in Folie packe und noch mal ein paar Hundert Kartons bestelle, frage ich mich: „Hasst mich Erwin Hapke?“ Sieht er, was ich tue? Weiß er, dass sein Vermächtnis eine schier unlösbare Hürde dargestellt hat? Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich mir denke: „Erwin, du blöder Hund. Sag mir, was wir hätten noch tun sollen?“
Ich bin froh, dass ich erst heute diesen Text lese. Hätte ich ihn gelesen, bevor wir die ersten Kartons und die 36 Rollen Paketkleber ins Haus gebracht haben, weiß ich nicht, ob ich es durchgehalten hätte.
An Schlaf ist nicht zu denken. Nun am Abend beginnen die Recherchen, um das Unmögliche möglich zu machen. Wie verpackt man ein papierenes Stonehenge? Wie einen Bauernhof? Mit den meisten Kartonlieferanten ist man längs zum Du übergegangen. Man kennt sich. Schade eigentlich.
Herzlichen Dank für diese Möglichkeit zur Anteilnahme bei diesem schweren Abschied. Und herzliches Beileid auch an die Familie, die das Gesamtkunstwerk verpacken muss. Ich hoffe, es ist ein Trost, dass dieser so lange unentdeckte Künstler zumindest in Eurer wunderschönen Multimedia-Reportage für alle Interessierten zugänglich bleibt!
Ist es nicht weiterhin möglich, dass es in Zukunft Ausstellungen der verpackten Kunst geben könnte?
Liebe Grüße aus Aachen
Liebe KunstArztPraxis,
das berührt mich zutiefst. Was ihr schreibt, wie ihr es durchlitten habt und an uns weitergegeben habt. Erschütternd, dass es keine Rettung für dieses großartige Gesamtkunstwerk gibt. Es muss nun in den Köpfen weiterleben. Euer Beitrag ist ein Teil davon. Danke.
Anke
P.S.: Die Polaroids sind schmerzhaft schön!!!
Was ein intensiver Text. Vielen Dank dafür an diesem sonnigen Montag Morgen. Zeit lässt sich einfach nicht anhalten und nur in Maßen konservieren. Auch die Papiere werden sich irgendwann auflösen. Zeit läuft weiter und es gibt zum Glück immer eine Zukunft, neben der Vergangenheit, die auch ihre Berechtigung hat.