Betriebsausflüge (2): „Geordnete Verhältnisse“
Als florierende KunstArztPraxis haben wir natürlich Geld wie Heu. Deshalb schließen wir hin und wieder die Patientenpforte und reisen ins befreundete Ausland. Diesmal ging’s nach Bayern, in die Kunsthalle Nürnberg, vor allem zu Erwin Hapke. Hier das Ausflugsprotokoll unserer Schülerpraktikantin Zoë.
Zu einem Praktikum in der KunstArztPraxis gehören eigentlich immer auch Geschichten. Die von Erwin Hapke mag ich besonders. Das war ein Mann, der sein Elternhaus 35 Jahre lang nicht mehr verlassen hat, um alle Wände und Tische mit selbstgefalteten Figuren aus Papier vollzukleben. Wir haben in Kunst mal Origami gemacht, deshalb weiß ich, wie heftig das ist.
Jedenfalls als die Familie die Kunst nach seinem Tod entdeckt hat, waren die KunstArztPraxis-Ärzte die ersten Fremden, die sie im Haus sehen durften. Und als das Haus leergeräumt wurde, um es zu verkaufen, waren sie die letzten. Auch davon erzählen sie hier viel.
Aus seinem Haus wollte Erwin Hapke ein Museum machen, das geht jetzt nicht mehr. Aber ein Teil seiner Faltereien ist trotzdem im Museum angekommen. Nicht in seinem eigenen, verborgenen, aber in Nürnberg. Da läuft gerade die Ausstellung „Geordnete Verhältnisse“, da kann jetzt Jeder die gefalteten Insekten und Vögel und Rinder und Akrobaten von Erwin Hapke sehen.
Als die KunstArztPraxis-Ärzte das erzählt haben, habe ich gleich gesagt: Das will ich sehen! Und die coolen Ärzte haben geantwortet: Dann machen wir einfach wieder einen Betriebsausflug! Also sind wir alle zusammen nach Nürnberg gefahren – diesmal mit dem Zug statt mit den Ford Mustangs.
Nach Nürnberg gehöre sich das so, meinten die KunstArztPraxis-Ärzte. Keine Ahnung warum. Aber die KunstArztPraxis-Ärzte sind ja die Chefs.
Eigentlich hatte ich mich schon auf die ICE-Fahrt gefreut. Aber mit dem Neun-Euro-Ticket ging es natürlich auch. Und in den 14 Stunden hin und zurück habe ich mich auch ganz gut unterhalten. Es waren ja genügend andere Menschen da.
Geordnete Verhältnisse?
Die Stunde in der Kunsthalle Nürnberg war aber schön. Und es war auch etwas einsamer als in den Zügen. Zum Glück hatten wir einen Führer dabei. Von Erwin Hapke wussten die KunstArztPraxis-Ärzte natürlich viel. Aber für den Rest war der Führer nicht schlecht.
Die Ausstellung heißt „Geordnete Verhältnisse“, aber ich finde es schon ziemlich verrückt, wie die Künstler*innen ihre „Verhältnisse“, also ihr Leben mit ihrer Kunst so „geordnet“ haben! Ich käme jedenfalls nie auf die Idee, Kalenderblätter über Jahre mit Wellenlinien vollzumalen und die dann auch noch gerahmt an die Wand zu hängen! Schräg irgendwie.
Jeden Tag ein Bild zu zeichnen wie in einem Kunst-Tagebuch könnte ich mir da schon besser vorstellen. Ein Künstler hat das gemacht, krasserweise als sein Vater Krebs bekommen hat. 107 Tage bis zu dessen Tod. Ich kann nur hoffen, dass es ihm durchs Zeichnen während der Monate etwas besser gegangen ist.
Wie haben sie das bloß gemeint?
Fast so gut wie die Faltfiguren haben mir übrigens die kleinen Bilder von Peter Dreher gefallen. Der hat fast genauso lange wie Erwin Hapke in seinem Atelier immer wieder dasselbe Wasserglas gemalt – mehr als 30 Jahre lang! Am Ende sind über 5.000 Wasserglas-Porträts entstanden, die alle gleich aussehen. In der Kunsthalle Nürnberg hängen 45 davon, ich habe nachgezählt. Und die sind in Nürnberg aneinandergereiht wie an einer Kette.
Der Führer hat uns erklärt, dass Herr Dreher durch das jahrzehntelange Malen des einen Glases den Inhalt seiner Bilder komplett unwichtig gemacht hat und es deshalb auf den Bildern nur noch ums Malen geht. Die KunstArztPraxis-Ärzte hingegen haben behauptet, dass Herr Dreher dadurch die Zeit angehalten hat – wie Erwin Hapke mit dem Falten. Oder wie Hanne Darboven (die mit den gewellten Kalenderblättern).
Ich habe mich in der Kunsthalle nicht getraut nachzufragen, wie sie das meinen. Für mich hat ja eher während der endlosen Zugfahrt die Zeit stillgestanden! Aber ich lasse mir das sicher noch erklären.
Hapkes entstaubte Kunst
Auf der Rückfahrt habe ich die KunstArztPraxis-Ärzte im Gewusel etwas aus den Augen verloren. Aber als wir uns zwischen Retzbach-Zellingen und Langenprozelten wiedergefunden haben, habe ich sie gefragt, wie ihnen das Zimmer mit Erwin Hapkes Origami-Figuren gefallen hat. Da haben die KunstArztPraxis-Ärzte geantwortet, sie haben mit drei lachenden und drei weinenden Augen in den Raum geschaut.
Weinend, weil Hapkes echtes Museum, in dem sie ja selbst fünf Jahre lang ein- und ausgehen durften, für immer verloren ist. Und lachend, weil es Museumsdirektor*innen gibt, die den Werken in ihren Häusern eine neue Heimat geben. Und weil Hapkes entstaubte Kunst in den hellen Räumen und Vitrinen eben nochmal ganz anders zur Geltung kommt.
In Nürnberg geht es vor allem auch um die Schönheit der einzelnen Figuren, die in der Fülle der ganzen Kunst bei Hapke zuhause komplett untergegangen ist. Aber eben auch: klinisch, chirurgisch, antiseptisch. Sagen die Ärzte.
Und das bei Hapke sei Kunst und nicht Origami wie damals bei mir in der Schule. Das soll ich mir hinter die Ohren schreiben.
Diesen Unterschied habe ich auch nicht richtig verstanden. Warum ist Origami keine Kunst? Und Hapke schon? Auch danach werde ich die KunstArztPraxis-Ärzte noch fragen. Wozu macht man schließlich ein Praktikum. Und meins dauert ja noch bis fast zu den Ferien.
Figuren im Schuhkarton
Bei uns in der KunstArztPraxis stehen übrigens gut versteckt auch ein paar Faltfiguren von Erwin Hapke, die durften die Ärzte sich bei der Hausleerung ausleihen. Davon wusste ich lange nichts, denn vor Kurzem wären sie beinahe kaputtgegangen: Die neuen Praxis-Katzen Ari und Baghira hatten sie entdeckt.
Zum Glück hat einer der KunstArztPraxis-Ärzte gesehen, wie die beiden am Medizinschrank hochgeklettert sind. Jetzt stehen die Figuren sicherheitshalber in einem Schuhkarton. Darin habe ich sie gestern gesehen.
Das wäre aber auch wirklich traurig gewesen: 35 Jahre haben die Insekten friedlich in Erwin Hapkes Haus gewohnt und sein Leben geordnet, und kaum werden sie vertrieben, fallen die schnurrenden Wegelagerer über sie her.
Die alte Praxis-Katze Socke hätte sowas nie gemacht, sagen die KunstArztPraxis-Ärzte. Von Socke wird hier fast noch mehr erzählt als von Erwin Hapke. (23.06.2022)
Anmerkung 1: Liebe Zoë, weil du uns dann doch nicht mehr gefragt hast: Zeit ist Bewegung, ein fließendes Nacheinander aus Vergangenheit und Zukunft. Wenn man aber tagaus tagein dasselbe tut, dasselbe malt, dasselbe faltet, dann tritt man quasi aus dem Fluss der Zeit an Land und zeigt dem Vergehen symbolisch den Finger. So in etwa haben wir das gemeint. Und wer im Kunst-Unterricht Origami faltet, faltet in der Regel nach. Erwin Hapke hat aber Figuren gefaltet, die er sich selbst ausgedacht hat. Und er hat sein Haus nach einer übergeordneten Idee und einem System mit einer zweiten Haut aus Faltfiguren überzogen. Das nennt man Konzeptkunst. Bitte wirklich hinter die Ohren schreiben, hörst du? Sonst war das ganze Schülerpraktikum bei uns in gewisser Weise für die Katz. (Und: indirekte Rede üben! Sonst nimmt dich später kein Museum.)
Anmerkung 2: Wir hätten wirklich gerne unter anderem auch die Werke von Sophia Pompèry gezeigt. Aber die gute alte Unsichtbarkeits-Maschine macht sie mal wieder für alle unsichtbar. Dasselbe Schicksal wird in ein paar Wochen übrigens auch unsere Fotos von Peter Dreher und Hanne Darboven ereilen, die wir hier nur zeigen, weil Zoë beide im Protokoll erwähnt hat.
Die Ausstellung „Geordnete Verhältnisse“ ist noch bis zum 28. August 2022 in der Kunsthalle Nürnberg zu sehen. 2023 gibt es dann noch eine Hapke-Ausstellung im Niederrheinischen Museum für Volkskunde und Kulturgeschichte in Kevelaer. Darauf freuen wir uns schon jetzt. Und, liebe Zoë: Vielleicht sehen wir uns da wieder?
Betriebsausflüge in der KunstArztPraxis:
Betriebsausflüge (1): „Kunst für Tiere“ in Rüsselsheim
Erwin Hapke in der KunstArztPraxis:
Erwin Hapke: Welten falten
Erwin Hapke: Das Ende eines Gesamtkunstwerks
Erwin Hapke beim WDR (von & mit der KunstArztPraxis):
Der Welten-Falter (Grimme-nominierte Multimedia-Reportage)
Der Welten-Falter (Podcast-Reihe)
Erwin Hapke im SZ-Magazin (mit Fotos aus der KunstArztPraxis):
Erwin Hapkes Geheimnis
Hallo,
danke für Ihren interessanten Beitrag. Mit den dargestellten Kunstwerken würde man bestimmt hohe Verkaufsquoten bei Auktionen erreichen.
Antwort KunstArztPraxis: Danke. Und: vielleicht. Aber: „Wer Kunst zu Kapital verklärt / verklärt Kunst kapital verkehrt“ (Joseph Beuys). Immer daran denken. Ihre KunstArztPraxis
Die KunstArztPraxis ist der Chronist des Weltenfalters. Erwin Hapke hat ihr viel zu verdanken. Ich wünsche diesem einzigartigen Blog weiterhin viel Zuspruch und die verdiente Anerkennung!