Die Winds-Bräute. „Before the Wind“ in Paderborn
Was ist Wind? Wie kann man ihn fangen – mit Kunst, mit Wissenschaft? Diese Fragen stellen Claudia Brieske und Franziska Baumann im Diözesanmuseum Paderborn im Dialog mit der hauseigenen Sammlung. Das ist nichts weniger als windig, sondern verdient stürmischen Applaus.
Als wir Claudia Brieske 2014 kennenlernten, da peitschte mit einem barometrische Minimum vom Atlantik her kommend gerade eine Regen-Front über Paderborn hinweg. Der Herr hatte auf den Fluren der Fußgängerzone die Winde losgelassen. Vorm Diözesanmuseum klirrten im Sturm die Fahnen.
Claudia Brieske stand in der Senke östlich des Doms gleich nebenan, in Friesennerz und schwarzen Gummistiefeln wie eine mit allen Wassern gewaschene Steuerfrau in einer steifen Brise auf hoher See. Zu ihren Füßen lag eine rund zwölf Meter breite Pferde-Lunge.


In Wirklichkeit war das bionische, vom Glockenschlag des Hohen Doms katholisch belebte Organ mit seinen säkularen Schläuchen und Gebläsen natürlich Kunst; eine Kunst zudem, deren Haut mit Hilfe der irdischen Materialwissenschaft entwickelt worden war.
Gemeinsam mit Videos eines fröhlich sich wälzenden – oder doch eher tragisch gestürzten? – Pferdes in einer Tiefgarage des St. Vincenz-Krankenhauses bildete die Riesen-Lunge die Installation „einatmen : ausatmen“, die Brieske im Auftrag des Diözesanmuseums für die Ausstellungsreihe „Tatort Paderborn“ geschaffen hatte.
Wir erwähnen das nur deshalb, weil uns das Werk, dessen zwei Teile durch eine imaginäre Luftröhre unter dem Friedhof verbunden waren, heute wie eine Vorarbeit zu dem erscheint, was Claudia Brieske gemeinsam mit der Komponistin Franziska Baumann in „Before the Wind“ gemacht hat.
Hier wie dort geht es um luftige Ströme, ein mit Ingenieurskunst entwickeltes Heben & Senken, die Hochs & Tiefs des Atems und der Atmosphäre. Im Grunde geht es um zwei transparente Bewegte, die nur durch DAS sicht- oder hörbar werden, was sie bewegen.
Und die beide zweischneidig sind. Denn Wind & Atem bringen Leben. Und auch – siehe Kyrill, siehe Corona – Krankheit, Zerstörung, den Tod.

„Before the Wind“ (Installationsansicht), Diözesanmuseum Paderborn, 2025


Am Anfang war der Wind Frau Windin!
In Paderborn macht schon der erste Raum deutlich, woher der zweischneidige Wind weht. Nämlich her von den Frauen.
Zu Anbeginn der Schöpfung schwebte ja nicht der Geist Gottes über den Wassern, sondern, zumindest nach der hebräischen Bibel, die „Ruach“ („bewegte Luft“): ein weibliches Werkzeug des HERRn: die Windin eben, die dem Staub – Adam – Odem einhauchte.
Und am Ende aller Zeiten kommt laut Johannes mit dem Erzengel Michael auch die apokalyptische Frau auf ihrer Mondsichel daher, die dem bösen Drachen den letzten Atem raubt.
Ohne einhauchende und aushauchende Frauen also keine Heilsgeschichte.
„Apokalyptische Frau auf der Mondsichel“ (1490, links)
und weibliche Linie Christi, beide aus dem Paderborner Dom
Man kann das ja mal sagen!
„Das ist natürlich eine leichte perspektivische Verschiebung“, sagt Kuratorin Christiane Ruhmann, als wir mit ihr durch die Ausstellung gehen. „Aber man kann das ja mal sagen.“
Vor allem, wenn es so gut funktioniert wie in Paderborn. Und so setzt Christiane Ruhmann vor allem weibliche Figuren aus der eigenen Sammlung mit den Video- und Audioarbeiten von Claudia Brieske & Franziska Baumann in Dialog.
Leben und Tod spannen dabei den religiösen Bogen, in dessen Rahmen die beiden Künstlerinnen sich bewegen. Und Maria Magdalena bekommt endlich jene Würdigung, die ihr die Fake News eines Papstes seit 15 Jahrhunderten zu nehmen suchen.

Eindeutig unser Lieblings-Kunstwerk in der Schau – wie kann man nur so etwas Schönes schaffen?
Altar-Figur der Maria Magdalena, die erst Papst Gregor der Große im 6. Jahrhundert
zur Sünderin stilisierte. In Wahrheit war sie eine jener drei Frauen, die, anders als die Männer,
sofort begriff, dass Christus am dritten Tage auferstanden war! Nimm das, Patriarchat.

„Wir lassen einen universellen, aber auch weiblichen Geist durch die Räume des Museums wehen. Unsere Themen sind in den alten Figuren bereits enthalten.“
Franziska Baumann & Claudia Brieske
Drei weibliche Personifikationen des/der (?) transparent Bewegten haben Claudia Brieske & Franziska Baumann geschaffen, die sie als zeitgenössische Archetypen über die fast schon abstrakte, wüstig-vulkanische Landschaft der Kapverden-Insel Boa Vista – übersetzt: die Insel über dem Wind mit der schönen Aussicht – im Atlantik (!) ziehen lassen:
Die „Windfigur der roten Steinwüste“, die sie als „Hüterin von Geschwindigkeit und Zeit“ begreifen; die „Windfigur der blau-grauen Steinwüste“, die die Kargheit mit einer endlos wirkenden schwarz-roten Notenschrift überschreibt; und die „Windfigur der hellen Sandwüste“ – für die Künstlerinnen „Trägerin der Erinnerung, Klangspeicher und Echo“ zugleich.
Mehr wollen wir an dieser Stelle nicht verraten. Man muss es eh vor Ort gesehen haben.



Wenn Weihrauch, dann im Windkanal!
Nur soviel, weil es uns vor Ort so vorkam: In unseren Augen ist das, was Claudia Brieske & Franziska Baumann geschaffen haben, ein Experiment, den Wind visuell und klanglich sichtbar zu machen wie der Weihrauch bei der Libori-Prozession, den die Böe zerwirbelt. Oder hörbar wie das Gloria der Dom-Messe, das er säuselnd zu uns trägt.
Ein Experiment, das den Wind auf Bild- und Tonträgern einfängt wie ein Strömungsmechaniker, nur eben mit künstlerischen, wenngleich auf Forschung fußenden Mitteln.
Also: wenn schon Weihrauch, dann im Windkanal. Und wenn schon Engelsflügel, Spirituelles in den Lüften: dann geerdet.
Zwar nicht Weih-, aber Rauch im Windkanal: Video-Arbeit
in „Before the Wind“, Diösesanmuseum Paderborn, 2025

Die Scherpen und Schriftrollen-Notate der Videos sind uns deshalb wie die Banderolen, auf die die ganz alten Meister aus der Paderborner Sammlung die Worte der Verkündigung geschrieben haben, die der Heilige Geist vom Erzengel Gabriel zum Ohr Mariä trug.
Und der kuratorische Geist, der durch die Hallen des Diözesanmuseums weht, ist der kluge Geist von St. Assoziationata, der alles verknüpft hat und in uns geströmt ist wie die Taube in die Apostel an Pfingsten.
Ohne diese Atmosphäre, dieses Heben & Senken, diese Hochs & Tiefs der atmenden Bezüge wären wir auf Manches hier Geschriebene gar nicht erst gekommen.
Auch dafür stürmischen Applaus.

„Before the Wind“ (Installationsansicht), Diözesanmuseum Paderborn, 2025


Und dann gibt es – unterm Dach, schon fast in den Lüften – noch ein dreiteiliges Werk von Brieske & Baumann, das jenen (oder jenem) Tornado ins Auge fasst, der sich, vielleicht aus einem barometrischen Minimum über dem Atlantik stammend, A.D. 2022 über Paderborn ergoss.
Das Triptychon zeigt Handy-Videos von Bürger*innen, die seine Zerstörungswut dokumentieren, und wir wagen zu behaupten: Gegen DIESE zyklonische Kraft hätte selbst Claudia Brieskes zwölf Meter starke Pferde-Lunge nicht den Hauch einer Chance gehabt, nicht mal im Schutz der Kirchenmauern. Die Puste wäre ihr unweigerlich ausgegangen.
So ist das ja seit Anbeginn der Zeiten: Der Wind hat’s gegeben. Und der Wind hat’s genommen. (22.06.2025)
Der Sturm fegt der „Windfigur der hellen Sandwüste“ den
Klangspeicher vom Teller. Diözesanmuseum Paderborn, 2025
„Claudia Brieske & Franziska Baumann. Before the Wind“ ist noch bis zum 21. September 2025 im Diözesanmuseum Paderborn zu sehen. Franziska Baumanns „Halleluja“ gibt es als LP im Museumsshop.
Bonus-Track 1: Künstler*innen von „Tatort Paderborn“ 2014
Bonus-Track 2: „Wunder Roms“, Diözesanmuseum Paderborn, 2017
Anmerkung 1: Im ersten Absatz haben wir drei literarische Klassiker zu Wind & Wasserdampf der Luft versteckt. Findet Ihr sie alle?
Anmerkung 2: Nur noch mal kurz zu Kyrill & Corona: So heißen nicht nur Zerstörung & Tod, so heißen auch russisch-orthodoxe Patriarchen, die (gerade) den Krieg Putins gegen die Ukraine toll finden, und selbstbewusste Märtyrerinnen, die (früher) für ihren christlichen Glauben zerstückelt wurden. Das nur, um diese zweischneidige Sache mit Wind & Atem & Religion irgendwie zurechtzurücken.
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