Die Luft der Yoko Ono: “Welt in der Schwebe”
Wir haben es schon mal vom Licht behauptet, aber Luft ist natürlich auch ein ganz besonderer Saft. Davon lebt eine Ausstellung im Kunstmuseum Bonn. Willkommener Anlass, über Diamanten aus Atem und malende Winde nachzudenken. Und über unser Verhältnis zu Yoko Ono.
Im Mittelalter unserer Jugend war Yoko Ono eine Hexe. Eine schwarze Witwe, die Zwietracht sähte zwischen den Beatles. Eine böse Zauberin, an deren Einflüsterungen und Bannsprüchen die beste Band der Welt zerbrach.
So jedenfalls sah es der musikhysterische Mainstream im Sauerland. Wir sahen das natürlich komplett anders.
Für uns war Yoko Ono schon damals die unerreichte Poetin der Lüfte, die Magierin des Flüchtigen, die Apologetin des Unsichtbaren, des schwerelos Verbindenden. Und während die Anderen in stickigen Party-Kellern das blaue oder rote oder weiße Album rauf und runter hörten, nahmen wir Onos Künstlerbuch “Grapefruit” (1964) mit aufs offene Feld.
“Male den Wind”
“Entzünde ein Streichholz und schau ihm beim Verlöschen zu”, lasen wir staunend darin. “Erblicke den Himmel durch deine Besitztümer, indem du sie durchlöcherst.” “Füge deine Schatten zusammen.” “Schicke die Töne des Schnees an jemanden, den du magst.” “Stehe im Abendlicht, bis du durchsichtig wirst.” Oder: “Male den Wind”.
Diese unfassbaren Rituale waren uns pure Dichtung, nah am Haiku. Praktiziert haben wir sie leider nie.
Letzten Montag haben wir das im Kunstmuseum Bonn zumindest ansatzweise nachgeholt. Dort stehen drei wohl aus den USA importierte Kaugummi-Automaten – gewissermaßen einer für jeden von uns. Für 50 Cent kann man dort durchsichtige Kapseln ziehen, in denen Yoko Ono Luft gefangen hat.
Wir hatten das Privileg, bei unserem zweiten Besuch der Ausstellung mutterseelenallein im noch stockdunklen Museum aus jedem Apparat eine Kugel ziehen zu dürfen. Es waren drei tolle Augenblicke. Die Automaten knackten beim Drehen köstlich.
Schwerelose Imagination in Reinkultur
Der “Air Dispenser” (1971) in der Bonner Variante von 2021 ist Teil eines bereits in “Grapefruit” beschriebenen Plans, “an jeder Ecke den Himmelsautomaten statt des Cola-Automaten” zu setzen. Wobei die optimale “Sky Machine” sogar “nichts produziert, wenn man eine Münze einwirft”.
Also schwerelose Imagination statt klebrigem Kapitalismus. Fluxus in Reinkultur.
Egal. Wir jedenfalls stellen uns vor, dass die von uns aus der Maschine herausgezogene Luft in ihrem Plastik-Gefängnis aus Onos New Yorker Atelier nach Bonn gekommen ist, vielleicht sogar durchwirkt von ihrem Atem.
Wenn dem so wäre, dann weht jetzt Onos Odem auch durch die KunstArztPraxis, denn wir haben die entführte Luft aus einer der drei Kapseln daheim in Köln befreit. Dort hat sie sich tanzend und wirbelnd mit der Praxisluft durchmischt, soviel ist sicher.
Auf jeden Fall sind wir durch unsere Tat Teil eines ephemeren Fluxus-Kunstwerks Yoko Onos geworden, das die Welt imaginär verbindet. Und das macht uns schon ein wenig stolz: vor allem auch, weil unser vorletzter Versuch – siehe Appendix unten – vor vielen Jahren gescheitert ist.
Imagine There Are Heavens
Das mit der eingepackten Luft hat Yoko Ono, die nach eigenen Angaben schon in früher Kindheit während des Zweiten Weltkriegs im bombenzerstörten Tokio “Himmel sammelte”, vielleicht von Marcel Duchamp gelernt, den sie in New York kennenlernte: Der nämlich verschenkte schon 1919 rund 50 Kubikzentimeter “Pariser Luft” an ein befreundetes Sammlerpaar. Ein Foto der hübschen Ampulle wird in Bonn gezeigt.
Und auch von Yoko Onos Landsmann Rikuo Ueda ist eine internationale Luftstrom-Sammlung in den Botanisiertrommeln beschrifteter Filmdosen zu sehen. Aber selbst diese seit 1984 entstandenen “Wind Collections” sind ihrerseits so originell, das man nicht das Gefühl hat, die Künstler*innen hätten voneinander abgeschaut.
Jedes Kunstwerk bläst einem nämlich auf ganz eigene Art die Köpfe frei. Ein weiterer Beleg dafür, dass sich ähnliche Ideen in verschiedenen Hirnen künstlerisch komplett anders materialisieren können.
Breathing In the Sky With Diamonds
Will man die rund 20 im Kunstmuseum Bonn versammelten Positionen durch Onos Brille als Versuche betrachten, das Flüchtige immer wieder neu zu bannen, dann könnte man mit Ihnen “Grapefruits” um viele fruchtbare Handlungsanweisungen ergänzen.
“Fülle einen Raum mit der Kraft deiner Lunge”, könnte eine dieser “Instructions” lauten, “Presse deinen Atem zu einem Diamanten” eine andere. “Baue dem Museum einen Mantel aus Strömen.” “Reise blitzschnell durch die Atmosphären vieler Städte.” “Lausche dem Pfeifen der Wolken über Island.” Und: “Schnüre ein Paket aus Luft und schicke es zu den Sternen.”
Oder, als besonders schöne – und noch viel bessere! – Variante der bekannten Ono-Formel “Male den Wind”: “Lasse den Wind für dich malen.”
Grapefruit Tree Fields Forever!
Die Ergebnisse dieser von uns gerade erfundenen Anweisungen kann man im Kunstmuseum Bonn jetzt sehen. Und darauf aufbauend vielleicht selbst Ideen oder Werke entwickeln, die im Sinne Onos und im Sinne der anderen vertretenen Künstler komplett aus der Luft gegriffen sind.
Und dann sollte man mit Onos “Grapefruits” in der Hand staunend durch die Welten wandeln. Und dann um Himmels Willen auch von uns aus gerne mit den Beatles statt der Plastic Ono Band im Ohr. (09.05.2022)
Anmerkung: Hier gab’s mal eine Fotostrecke mit den Kunstwerken der Ausstellung. Aber dann kam die Unsichtbarkeits-Maschine und hat sie alle aufgefressen. Tut uns leid.
“Welt in der Schwebe. Luft als künstlerisches Material” ist noch bis zum 19. Juni 2022 im Kunstmuseum Bonn zu sehen. Kleine Instruction für den Ausstellungsbesuch unsererseits: Stecke ein 50-Cent-Stück in den Münzschlitz des “Air Dispensers”. Schließe die Augen und lausche dem köstlichen Knacken des Automaten. Lasse die Kapsel in deine Handfläche rollen. Spüre den Wind.
Appendix: Yoko Ono spricht mit uns, vergisst aber anzurufen
Einmal hätten wir fast mit Yoko Ono telefoniert, es war ganz knapp. Yoko Ono hatte nämlich fest versprochen anzurufen. Wir wussten nur nicht wann.
Das passende Telefon stand da, Anfang September 2000, irgendwo in einer Ecke der Berliner Villa Starke, wenn wir uns recht erinnern, und zur Installation dieses “Telephone Peace” gehörte Onos täglicher Anruf. Auch heute musste es klingeln, während unserer Anwesenheit, da waren wir uns sicher. Dann würde Yoko Ono in New York sehnsüchtig darauf warten, dass wir in Berlin abhoben.
“When it rings, pick it up.” Dieser Instruction wollten wir folgen.
Stundenlang sind wir um “Telephone Peace” herumscharwenzelt wie ein Planet um die Sonne, abgestoßen und angezogen von einem profanen Industrieobjekt, das nur dadurch zu unserem Fetisch wurde, weil es über unser Denken telepathisch von uns Besitz ergriff. Und wir wurden richtig böse, wenn jemand anderes den Raum betrat, dem Apparat gefährlich nahe kam und auf diese Weise damit drohte, uns den potenziellen Kontakt zu Yoko Ono kaputt zu machen.
Mehrere Stunden ging das so, es war schweißtreibend, wir kamen immer wieder. Aber der Apparat blieb stumm, die geräuschlosen Lockungen verpufften. Alle Hoffnung starb letztlich um 17 Uhr, es wurde geschlossen, man musste gehen. Der Pulsschlag normalisierte sich, sechs Hände wurden wieder trocken.
Yoko Ono hatte offenbar vergessen, Wort zu halten.
In der Zeit des Wartens und Lauerns und Schleichens haben wir viel gelernt über Konzeptkunst. Wie sie, bisweilen ausschließlich, im Kopf entsteht, kraft ihres Daseins persönliche Beziehungen heraufbeschwört, über Hirn und Herz Verbindungen schafft. Wie sie mit wenigen Kniffen Möglichkeitsräume öffnet. Wie sie Chimären gebähren, ein bisschen wahnsinnig und letztlich auch ein Stück weit glücklich machen kann. Und dabei haben wir auch viel gelernt über uns selbst.
Insofern hat Yoko Ono zwar nicht angerufen, aber doch mit uns gesprochen, uns berührt, und zwar über die imaginäre Nabelschnur der toten Leitung. Es war ein gutes Gespräch, ungemein bereichernd. Im Augenblick. Im Nachhinein.
Danke also fürs Nicht-Anrufen, Yoko Ono. Fürs Uns-Vergessen. Und hoffentlich auf bald.
Anmerkung 1: Zum Appendix passt eine Anweisung Yoko Onos aus “Grapefruit”: “Lass 500 Menschen zu einer gesetzten Zeit eine Minute lang an dieselbe Telefonnummer denken.” So geht One Minute Sculpture, Erwin Wurm! One Minute Social Sculpture sogar.
Anmerkung 2, für M.S.: “Was bitte soll das???” ist in der Kunst prinzipiell eine sehr gute Frage – sofern man sie nicht rhetorisch meint.
Das Kunstmuseum Bonn in der KunstArztPraxis:
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Der Kunstarzt ist ein Meister des Wortes und des Blickes! Großartiger Artikel – wieder einmal!
Antwort KunstArztPraxis: DankeDankeDanke! Die anderen beiden KunstÄrzte sind aber auch nicht ohne! 😉 Ihre KunstArztPraxis