Stella Hamberg: Kraft und Sinnlichkeit
Um Bronze macht die zeitgenössische Kunst einen Riesenbogen. Stella Hamberg nicht. Sie stellt sich dem auch kunstgeschichtlich aufgeladenen Material. Und präsentiert im Arp Museum ein Bestiarium an Kreaturen, die vor Energie und Körperlichkeit nur so strotzen.
Wir waren noch nie in Stella Hambergs Atelier. Der Berliner Osten ist weit weg, die Phantasie liegt uns näher. Deshalb stellen wir uns Stella Hambergs Atelier einfach als eine helle Hölle vor. Voller Berserker, Zerberusse, Haie und Chimären. Und voller Wesen aus längst vergessenen Legenden.
Es blitzt und donnert im Atelier, permanent entlädt sich Energie. Es ist dreckig, schlammig sogar. Es pulsiert. Irgendwo hängt ein Box-Sack. Eine Luftpistole liegt am Boden, ein Vorschlaghammer daneben. An der Wand lehnt ein Enduro-Motorrad. Die Wesen werfen lange Schatten.
Lob des Unberechenbaren
Mitten im Raum steht Stella Hamberg in einer ausgeleuchteten Arena, ihr gegenüber ein überlebensgroßer Berg aus Ton: Jederzeit könnte er sie unter sich begraben. Hamberg geht in die Hocke, lauert. Dann ringt sie mit dem Material, rückt ihm zu Leibe. Knetet, boxt, sägt, sticht, quetscht, klatscht Masse an und entfernt Masse wieder. Vor allem das.
In der höllischen Arena erschafft die Künstlerin mit vollem Körpereinsatz neue Körper, wie im Rausch, bis zur Erschöpfung und darüber. Jeden Tag, 24 Stunden lang. In unserer Phantasie schläft Stella Hamberg nämlich nie.
Wenn Hamberg die Materialschlacht gewinnt, entsteht eine Bronzeplastik, in der die Wucht und der Schwung und die Spuren des Kampfes ebenso mit eingeflossen sind wie das Helle und das Dunkle der Existenz. Die rätselhaft ist, sinister. Poetisch eben.
Wenn sie verliert, entsteht Berechenbares, Perfektion. Dann nimmt Hamberg den Vorschlaghammer vom Boden und haut alles in tausend Stücke. Schlägt auf den Box-Sack ein, ballert vielleicht mit der Luftpistole in der Gegend herum. Und knattert anschließend mit der Enduro-Maschine um den Block.
Rodin war gestern
Eigentlich kommt Hamberg vom Stahl. Irgendwann war ihr das zu kalt, abstrakt und strukturiert, wie sie sagt – zu wenig körperlich, weich, sinnlich vielleicht. Die „Sprache des Modellierens“ sei für sie wesentlich geworden, „weil Ton am besten die Nuancen der Bewegung ausdrücken und Bronze sie am besten übersetzen kann.“
Im Arp Museum kann man erleben, wie Kraft und Sinnlichkeit in diesem Sinn in Bronzekörpern ineinandergreifen. 21 groß- bis mittelformatige Skulpturen und zwei Reliefs aus 15 Jahren wurden hergewuchtet, es ist die umfassendste Museumsschau der 1975 geborenen Künstlerin.
Wer bisher glaubte, seit Rodin sei in der Bronze auch im Hinblick auf Bewegung und Innerlichkeit alles Menschenmögliche gesagt, wird vor Ort eines Besseren belehrt. Hamberg agiert auf Augenhöhe (soweit wir das beurteilen können). Und gießt sogar das Gleichzeitige, das die Futuristen nur distanziert-martialisch konstruieren konnten, in organische Form.
Der Raum-Skulptur-Kontrast
Im Bestiarium von „Corpus“ sind Hambergs Monster wie auf der Bühne zueinander in Beziehung gesetzt. Da ist Leben im Raum, die Exponate stehen in Spannung zueinander. Der Betrachter tritt in ein „begehbares Bild“ – ganz wie Hamberg es sich wünscht.
Und die strahlend weißen Ausstellungsräume stellen eine hinlänglich helle Hölle für die größtenteils dunklen, fast schwarzen Körper dar. Innen und Außen, Licht und Schatten, Bewegung und Verharren bedingen und verstärken sich.
Für die Inszenierung hat man im Arp Museum sogar die Oberlichter aufgerissen. Wenn das Sonnenlicht die Räume flutet, verändern sich die Konturen der Figuren einmal mehr. Das, was den Formen an Dynamik innewohnt, wird durch den äußeren Effekt verstärkt. Weniger dramatisch als mit Blitz und Donner natürlich. Aber spektakulär allemal.
Tonnenschwere Zartheit
Ohnehin sind die expressiven, ungeheuer präsenten Kreaturen und figurativen Abstraktionen mit ihren mal rauen, mal patinierten Oberflächen in permanenter Verwandlung begriffen: Wer sie umrundet, wird stetig überrascht von neuen Ansichten. Es ist ein Ineinandergreifen von menschlichen, tierischen und pflanzlichen Elementen. Das macht die tonnenschweren Skulpturen wunderbar leicht. Und das Grobe bisweilen zart.
Um das wahrzunehmen, sollte man ganz nah herantreten an Hambergs kraftstrotzende, dabei teils aber auch introvertierte Figuren. Dann sieht man auch die Spuren jener Kämpfe, die ihre Schöpferin beim Formen berserkerhaft mit ihrem Material ausgefochten hat. Bis hin zum unscheinbaren Fingerabdruck.
Diese Nähe kann man wagen. Denn so lebendig die Höllenhunde, Haie und Chimären auch wirken: Sie beißen nicht. Hamberg hat sie in ihrer Kampfarena ja bezwungen. (31.05.2021)
Anmerkung: Die Enduro-Maschine soll es wirklich geben (angeblich eine Yamaha XT 600), ebenso den Box-Sack und die Luftpistole. Gut möglich. Wir könnten uns aber genauso gut vorstellen, dass es im Atelier echt blitzt und donnert.
„Stella Hamberg. Corpus“ ist noch bis zum 27. Februar 2022 im Arp Museum Bahnhof Rolandseck in Remagen zu sehen.
Mal wieder mit großer Freude den Blog gelesen. Auch, wenn es diesmal kein Quiz gab. Die Photos sind toll, dagegen stinken die Bilder auf der Museumsseite ziemlich ab. Der Text trägt mal wieder die Handschrift der KunstArztPraxis. Toll.