Der will nur spielen!?! Mark Dion in Bonn
Sammeln, Jagen, Forschen, Schöpfen: Seit rund 35 Jahren beschäftigt sich der US-amerikanische Künstler Mark Dion mit dem schwierigen Verhältnis des Menschen zur Natur – auch zu seiner eigenen. In der Bonner Bundeskunsthalle steht jetzt der Homo ludens im Zentrum. Aber nur spielen will Mark Dion nicht.
Seit über zehn Jahren haben wir eine hohe Meinung von Mark Dion. Er ist uns nicht nur als Mensch, sondern auch als Künstler ungemein sympathisch.
Wir sagen das keineswegs, weil Mark Dion uns 2015 in Herford ein Stück seiner Quallen-Tapete schenkte, damit wir die Wände unserer KunstArztPraxis damit auszustaffieren konnten. Oder uns 2022 exklusiv bei der Einrichtung seines Hexenhäuschens im Morsbroicher Schlossgarten Mäuschen spielen ließ, während er in schwindelerregender Höhe Zauberkräuter drapierte. Wir sind ja nicht käuflich! Wo denken Sie hin.
Wir sagen das vor allem deshalb, weil Mark Dion wie wir ein Spielkind ist. Und weil er dabei nach ganz eigenen Regeln spielt. Wie sich das für gute Künstler*innen in unseren Augen gehört.
Wir sagen das, weil Mark Dion sich mit der Bedeutung der Museen für die Gesellschaft befasst, mit den später von der Wissenschaft teils als Fiktion entlarvten Erzählungen der Wissenschaft.
Damit, wie wir Wissen sammeln, archivieren, präsentieren, durch Systeme Kulturen schaffen, uns jene Natur imaginieren, von der wir längst entfremdet sind: alles Themen, die uns wichtig sind.
Entdecken muss man selber. Denken auch!
Weil er Gewohnheiten unserer Weltsicht hinterfragt und alte Ordnungen durch Neuordnung ludensisch infrage stellt. Weil er in Wunderkammern und Raritätenkabinetten denken kann. Weil er uns dabei das Entdecken selbst überlässt und uns das Denken nicht abnimmt.
Und weil er Witz hat und hintergründigen Humor. Hach. Toll.
Wo Pablo Picasso angeblich ein Leben lang versucht hat, wieder wie das Kind zu malen, das er mal war, da versucht Mark Dion, mit dem Intellekt eines Erwachsenen wieder wie ein Kind zu ticken. Dass er selber Vater ist, hat sicher geholfen.
In dieser kindlich tickenden Wirklichkeit kann Mini Maus ganz selbstverständlich mit einem Dinosaurier im Cabriolet um die Häuser cruisen. Oder eine Horde Raubritter vor einem Modellbau-Häuschen gegen einen, ähem: anderen Dinosaurier kämpfen (Mark Dion hat Söhne!).
Aber all dies muss man, wie gesagt, halt selbst entdecken. Wie in einem Raum gewordenen Wimmelbuch – das die Bonner Bundeskunsthalle gerade geworden ist.
Für „Delirious Boys“ hat sich Mark Dion über Monate durch die 70.000 Exponate in der Spielzeug-Sammlung des Berliner Stadtmuseums gewühlt.
Und nach dem Wühlen einen Parcours geschaffen, der jenseits historischer Entwicklungen oder überlieferter Kategorisierungen rein nach subjektiven Bezügen oder ästhetischen Vorlieben, also spielerisch, künstlerisch funktioniert.
Mit einer nach Figurengröße sortierten, anti-evolutionären Tier-Prozessions-Pyramide, einem komplett zum Stillstand verdammten, absurden Autorennen (wobei, nein, halt: „Autorennen“ trifft es nicht!), oder einem ganzen Dorf voller hoch herrschaftlicher Puppenhäuser.
Und einer rund fünf Quadratmeter großen Kriegslandschaft, die an die inszenierten Tableaus von Schlachten mit Zinnsoldaten im 19. Jahrhundert erinnert.
Nur eben nicht nach dem exakt vorgegebenen Verlaufsplan der Militärgeschichte, sondern mit der zeitlosen Schlagkraft überbordender Phantasie. Lauter künstlerische lucky strikes.
Und dann gibt es noch eine Puppen-Klinik, die formal noch am ehesten an jene Installationen erinnert, die Dion in der Vergangenheit zur Illustration unserer teils rassistischen, tier- oder menschenverachtenden Versuche arrangiert hat, uns die Welt anzueignen, Natur durch Kolonialismus und „Verstehen“ zu unterwerfen.
Und einen mannshohen Giftschrank, der auf Wunsch vom Wach-Personal der Bundeskunsthalle geöffnet wird, gibt es auch. Darin findet sich neben einem entlarvenden Satz Schwarze-Peter-Karten, auch ein Brett-Spiel mit dem unschönen Titel „Durch Kampf zum Sieg“, dessen zentrale Spielfigur eine Schrumpf-Version von Adolf Hitler ist.
Wir sind uns nicht sicher, aber wir glauben, sie hat einen beim totalen Spiel-Sieg hebbaren (rechten) Plastik-Arm.
Ja, man kann auch viel lernen in „Delirious Toys“: vor allem darüber, wie Spiele seit jeher versucht haben, Jungen und Mädchen in Rollen wie Soldat und Mutter zu pressen, sie zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft zu machen, Ideologien zu infiltrieren.
Wie gruselig das im Grunde ist, arbeitet Dion auch an seinen Puppen-Arrangements heraus: Eine davon hat er in einer gläsernen Sarg-Vitrine wie das untote Schneewittchen aus dem Märchen rituell aufgebahrt.
Andere Exemplare wirken, aus der Distanz der Geschichte mit Bedrohlichkeit aufgeladen, wie historische Varianten von Chuck, der Mörderpuppe. Zumindest auf uns.
Und wer wie wir durch die vierte Wand der pompösen Puppenhäuser geschaut hat, der könnte ob der Einsamkeit der darin hockenden, traurig aufs Erwachsen-Werden wartenden Kinder ganz melancholisch werden.
Dies alles ist lehrreich, aber nicht belehrend: weil Mark Dion ja eben wie wir ein Spielkind ist. Und als solches regt er eben nicht nur zum kritischen Reflektieren an, sondern auch zum Spinnen eigener, teils mythischer Geschichten.
Ein Funke davon ist trotzdem da
Zugegeben: In früheren Ausstellungen Mark Dions haben wir letzteren Aspekt schon stärker empfunden, und Manches in „Delirious Toys“ fanden wir auch etwas öde. Aber ein Funke davon ist unserer Meinung nach trotzdem da.
Deshalb haben wir beschlossen, Mark Dion nicht nur als Menschen, sondern auch als Künstler weiterhin äußerst sympathisch zu finden. (03.11.2024)
„Mark Dion. Delirious Toys“ läuft noch bis zum 9. Februar 2025 in der Bundeskunsthalle in Bonn.
Apendix: Vom krummen Lauf der Geschichte. Für Mark Dion (2022)
Im Grunde ist es für uns Erdlinge unbegreiflich, aber die Jagd und der Krieg sind der Bevölkerung des Planeten Xera nicht auszutreiben. Zwar gibt es in xeranischen Apotheken diverse Salben und Tinkturen, die versuchen, das Übel zu lindern. Aber irgendwann bricht die Krankheit doch immer wieder bei Jedem durch.
Kein Haus auf Xera, das nicht Tage nach dem Richtfest schon Ruine, kein Kind, dass nicht kurz nach der Geburt schon Waise wäre – von ausgestorbenen Tieren ganz zu schweigen. Kurzum: Die Lage ist verzweifelt.
Ein wenig ist es auf Xera so wie einst auf unseren Osterinseln, deren Bewohner im vollen Bewusstsein der drohenden Ödnis sogar den letzten Baum noch fällten, um ihre steinernen Götzenbilder an die Klippen zu rollen. Nur sprechen wir bei Xera eben nicht von einer weltfremden Insel, sondern von einem ganzen Planeten. Und wir sprechen nicht von hehrer Religion, sondern von niederem Trieb.
Dabei gibt es eine simple Lösung: Der Künstler Mark Dion hat ein Gewehr entwickelt, dessen Lauf nicht nur genauso krumm ist wie der der xeranischen Geschichte, sondern rettend auch. Mit ihm lassen sich die dunkelsten Rituale des Kampfes exerzieren, ohne dass Irgendjemand oder Irgendetwas Schaden nehmen muss.
Die Xeranier*innen könnten sich wie gewohnt aufs Übelste beschimpfen, mit den lächerlichsten Beschuldigungen und abstrusesten Bedrohungen überschütten, fußstampfend und wutschnaubend mit der ganzen Potenz ihres Militärapparats voreinander auf- oder abprotzen und schamlos aufeinander zielen.
Ja: Sie könnten sogar den Abzug der Gewehre drücken, und es würde dank des krummen Laufs trotzdem nichts passieren: nichtmal den Maulwürfen und Regenwürmern in der Erde, denn Maulwürfe und Regenwürmer gibt es auf Xera nachweislich nicht.
Jetzt gebricht es nur noch an der Möglichkeit, Dions Waffe nach Xera auszuliefern. Danach wäre selbst auf diesem kriegerischsten Planeten des Universums endlich Frieden.
Der obige Text erschien erstmals 2022 anlässlich der Ausstellung „Marta Maps“ im Marta Herford
Anmerkung 1: Später wollten wir übrigens noch einen weiteren Raum der KunstArztPraxis mit Mark Dions Quallen-Tapete schmücken, deshalb fragten wir an bei Mark Dions französischer Galerie. Und die wollte UN-GE-LOGEN 700 Euro netto pro Tapeten-Rolle – in Worten: siebenhundert €. Netto!! Wir schwören!!! Ganz ehrlich: Da schauen wir auch fürderhin lieber auf die nackte Wand.
Anmerkung 2: Und, weil es in Mark Dions „Delirious Toys“ unbegreiflicherweise fehlt: SO sieht Spielzeug im 21. Jahrhundert aus! Zu kaufen bei Amazon.de, der Mörder-Puppe unter den Online-Shops:
Mark Dion in der KunstArztPraxis:
Morsbroich, zu vermieten: Hexenhaus mit Schlossblick!
Morsbroich: Hexenhaus mit Schlossblick ist vermietet!
Die Bundeskunsthalle in der KunstArztPraxis:
Vom Schlafschaf. Kant und seine Fragen in Bonn
Echt? Peinlich? “Ernsthaft?!” in der Bundeskunsthalle
Reine Bildgebung (15): “Ernsthaft?!” in Bonn
Zur Anm. 1: Die 700 Euro mögen für einen Tapetenwechsel teuer erscheinen (dafür gibt es dann ja eben auch Baumärkte), aber erstens ist es ein AuflagenWERK von Mark, das Teil seiner künstlerischen Produktion ist, und 700 für eine Edition eines weltweit bekannten Künstlers sind nun wirklich nicht übertrieben. Und zum Zweiten weiß ich aus eigener Erfahrung, dass diese Tapeten als Sonderanfertigung allein schon einen hohe Herstellungspreis haben.
Ansonsten: Wieder einmal eine schön zu lesende, kompetente Diagnose. Danke!
Antwort KunstArztPraxis: Das ist alles richtig & gut, lieber Herr Nachtigaller, aber: Rund 6.000 Euro für ein neu tapeziertes Praxis-Zimmer mit einem Auflagenwerk, das wir beim Umzug vernichten müssten, sind & bleiben uns zu viel. Bitte bleiben Sie uns trotzdem gewogen. Ihre KunstArztPraxis.
Liebe Kunstärzte,
ich bin auch absoluter Dion-Fan und habe die Ausstellung schon gesehen und war auch an manchen Stellen mehr an anderen weniger angetan. Aber ihr habt – wie immer – die richtige Diagnose! Und die Fotos von Herrn Dion, wie er das Hexenhaus einrichtet – das ist ja wohl sensationell.
Danke für euren Bericht.
Eure Kulturtussi
Antwort KunstArztPraxis: Wir haben zu danken, liebe Kulturtussi! Und: Bleiben Sie uns gewogen. Ihre Drei von der KunstArztPraxis