Joseph Beuys reloaded (2)
Ende 2020 starb mit Franz Joseph van der Grinten der letzte der beiden ersten Sammler und Weggefährten von Joseph Beuys. Gern erinnern wir uns an ein wundervolles Gespräch, dass wir bei ihm daheim über seine Jahre mit Beuys führen durften. Hier exklusiv Teil 2: Jeder Mensch ein Künstler?
KunstArztPraxis: Herr van der Grinten, “Jeder Mensch ist ein Künstler” lautet der wohl berühmteste Beuys-Satz überhaupt. Klingt naiv – oder eben geheimnisvoll. Was hat Beuys denn damit gemeint?
van der Grinten: Mit dem Satz hat Beuys eine tiefgreifende philosophische Erkenntnis mit religiösen Wurzeln auf eine ganz simple Formel gebracht. Das machte er ja gern!
Der Satz bezieht sich auf die Fähigkeit des Menschen, in seiner Kreativität als Schöpfer Gott ebenbildlich sein zu können. Alles, was die Welt verändert, und sei es noch so simpel, ist ein formaler Vorgang, ist eine Substanzveränderung, ist schöpferisch. So hat Beuys das gemeint.
KunstArztPraxis: Schließt das das Politische ein?
van der Grinten: Das schließt im Grunde alle Bereiche des Lebens ein! Es kommt eben einfach auf das Bewusstsein und die Einstellung an. Beuys sagte einmal: “Wenn sich eine Frau, die Kartoffeln schält, bewusst ist, dass sie dabei arbeitet wie ein Bildhauer, dann ist die Kartoffel, die sie schält, eine Plastik.” Noch so eine sehr einfache, sehr tiefsinnige Erläuterung!
Bei Beuys ist die Nachdenklichkeit des in der Ebene aufgewachsenen Landmenschen Voraussetzung. Da hat ihn die niederrheinische Landschaft sehr geprägt. Daher auch seine Kapitaltheorie. Geld ist im Grunde nichts. Das eigentliche Kapital des Menschen ist seine Fähigkeit, seine Welt zu beeinflussen, zu verändern. In diesem Sinn ist jeder ein Künstler.
KunstArztPraxis: Also nicht: Jeder Mensch ist ein Maler, Zeichner, Bildhauer, wenn er nur will?
van der Grinten: Nein! Das ist überhaupt nicht so gemeint, dass jeder, der drei Striche ziehen kann, eine große Zeichnung macht! Im Bereich der Kunst war Beuys sehr anspruchsvoll. Deshalb war er ja auch ein so guter Lehrer und hat mit seiner Arbeit an der Düsseldorfer Kunstakademie so viele standfeste und unverwechselbare Künstler hervorgebracht.
Diesen Anspruch sieht man auch an seinem Werk. Auf dieses Künstlerische muss man sich einlassen, und das braucht Zeit. Wir zum Beispiel haben erst 1961 einen eigenen Text zu Joseph Beuys geschrieben, nach zehn Jahren des Sammelns. So lange haben wir gebraucht, um des Werkes einigermaßen inne zu werden.
Wir hatten zwar immer das Gefühl, das das etwas unglaublich Kostbares sei. Aber verstanden haben wir es anfangs nicht. So ein außergewöhnlicher Künstler war Joseph Beuys. (04.02.2021)
Anmerkung: Das rund vierstündige Gespräch mit Franz Joseph van der Grinten fand Anfang Januar 2006 aus Anlass von Beuys‘ 20. Todestag im Haus des Sammlers am Niederrhein statt. Das Interview wird in der KunstArztPraxis in loser Folge in sechs Teilen veröffentlicht. Es wurde vom Sohn, dem Galeristen Franz van der Grinten, 2021 zusätzlich noch einmal autorisiert.
Joseph Beuys reloaded (I): Der Mensch
Meinung: Joseph Beuys: Krise & Heilung (KunstArztPraxis)
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