Lebenslanges Türenöffnen: Tomi Ungerer zum 90.
Neben Günter Wallraff und Klaus Staeck hat Tomi Ungerer uns kulturell erzogen. Dabei kreuzten sich unsere Wege immer wieder – über seine Kunst und bis zu seinem Tod 2019 auch persönlich. Es war ein lebenslanges Türenöffnen. Woran wir uns an Ungerers 90. Geburtstag gern erinnern.
Wir Jungs von der KunstArztPraxis sind allesamt Kinder der Siebziger, also aus der Sicht der heutigen Kids medial gefühlte Nachkriegszeit. Wir hatten ja nichts, also: nichts Digitales. Unsere GameBoys hießen Jürgen, Christian und Thomas, unsere PlayStation hieß Bolzplatz, unser Twitter Telefonzelle („Fasse dich kurz!“).
Und unser Darknet hieß „Mail Order Kaiser“.
Bei „Mail Order Kaiser“ gab es alles, was uns in der Provinz verlockend und subversiv erschien, also für den Kauf beim örtlichen Buchhändler tabu: Fotobücher für Erwachsene, Bilderbücher für Erwachsene, Sachbücher für Erwachsene. Teils in der Form von Kunst.
Herrn Kaisers Herrschaftswissen
Oft folgten wir Herrn Kaisers Herrschaftswissen und bestellten auch aus den Serviervorschlägen seines Angebots-Katalogs per Postkarte Augen- oder Hirnfutter.
Diskret verpackt brachte der Postmann Wochen später unter anderem Günter Wallraff und Klaus Staeck ins Haus (wir berichteten), aber auch (wie aus gutem Grund bisher verschwiegen) Erich von Däniken. Und eben: Tomi Ungerer.
Das war ein stichelndes Stricheln, das jeden von uns sofort in Beschlag nahm. Und uns lebenslang diverse Türen öffnete. Falltüren inklusive.
Polaroids: Tomi Ungerer in unseren Jugendzimmern (70er und 80er Jahre)
Dabei hatten wir stets den Eindruck, Ungerer habe seine Feder beim Zeichnen nicht in ein Fass voll mit Tinte getunkt, sondern in eine von ihm selbst angerührte, giftig dampfende Melange aus gesundem Menschenverstand und überbordender Phantasie.
Der sparsame Strich
Von Günter Wallraff lernten wir ein bisschen Medienkompetenz, von Klaus Staeck ein wenig Demokratie. Von Tomi Ungerer aber lernten wir mehr.
Wir lernten den Unterschied zwischen blankem Zynismus und tiefschürfender Satire. Wir lernten, dass Menschlichkeit und Misanthropie siamesische Zwillinge sein können.
Wir lernten, dass eine Linie schärfer und böser wird, wenn man sie sparsam setzt. Dass Humor eine echte Waffe sein kann, sofern er mit chirurgischer Präzision und möglichst schamlos operiert – und in der Kunst oft das beste Rezept.
Prä-Astronautik vs. Post-Apokalyptik
So verblassten selbst Erich von Dänikens Aliens in unseren Köpfen schnell gegen Ungerers echt gruselige, sexsüchtige und schönheitsfanatische Zombies aus den USA.
Oder gegen die verstörend umweltzerstörenden Untoten vom anderen – aber im Grunde dann eben doch wieder vom eigenen – Stern.
Die Tür ins alberne Prä-Astronauten-All von von Däniken jedenfalls knallte wegen Ungerers hellsichtigem Post-Apokalypse-Kosmos schnell ins Schloss.
In Klementines porentiefer Waschküche
Geprägt durch Trickfilm-Serien wie „Biene Maja“, „Wickie“ oder „Captain Future“, wäre uns ohne Ungerers Gegen-Bilder neben Volksliedgut wohl auch der Zugang zu Klassikern wie Johanna Spyris „Heidi“ für ewig verriegelt geblieben.
Und ohne Ungerers formschön-geistreiche Plakate würde unser Verständnis von Reklame vielleicht immer noch im wahnwitzigen Nagelstudio von Tilly oder in der müffelnden Waschküche von Klementine eingeschlossen sein.
Unser kollektiver Ungerer-Lebenslauf
Wir haben unsere von Ungerer flankierten Lebensläufe hier einmal zusammengesetzt zu EINEM Türöffnungs-Curriculum unserer Sauerländer Jugendjahre.
In der Sexta entdeckten wir Ungerers US-Zombies von „The Party“ (1969), in der Obertertia die mordenden Friedenstauben und rassistischen Menschenfresser aus „politrics“ (1979). In der Unterprima kamen noch die Giftwolken-Kraken, Raketen-Jongleure und Atomkraftwerk-Nazis vom „Schwarzbuch“ (1984) dazu.
Da hatten wir bereits den Vorabdruck von Ungerers kanadischem Aussteiger-Tagebuch aus diversen „Zeit Magazinen“ herausgerissen und liebevoll zu einem eigenen Heft mit selbst kreiertem Deckblatt zusammengetackert.
Seitdem wussten wir auch, dass man in Personalunion großartige Bilder machen UND ausgezeichnet schreiben kann – etwas, woran sich in der KunstArztPraxis bekanntlich gleich drei KunstÄrzte abarbeiten.
Und das mit weitaus weniger Talent.
Books of Wonder
Den Tomi Ungerer unserer Jugendjahre nahmen wir in Buchform mit ins Studium und später in die Arbeitswelt, nach Münster, Köln und München, wo wir ja Wissenschaftler, Autoren und Fotografen wurden. Und immer wieder kamen neue Türöffner hinzu.
In New York, wo Ungerers Karriere mit Kinderbüchern begann, erstand der KunstArztPraxis-Fotograf 1992 in einer damals von ihm als zauberhaft empfundenen Buchhandlung in der 18. Straße mit signierten Exemplaren von „Flix“ und „Crictor“ unsere ersten Ungerschen Kinderbilderbücher.
Und das trotz einer Abneigung gegen den Autographen-Kult vor allem, weil Ungerers verschlungen kalligraphischer Unterschrift eine Verspieltheit innewohnte, die bezaubernd war.
Der KunstArztPraxis-Wissenschaftler erstand 1999 ein geistreiches Ungerer-Porträt von James Joyce, über den er damals promovieren wollte.
Der KunstArztPraxis-Autor war 2001 auf der Frankfurter Buchmesse sogar persönlich auf einen Empfang zum 70. Geburtstag Ungerers geladen, den der oft und gern von ihm besprochene Diogenes Verlag ausgerichtet hatte.
Er schüttelte Ungerer wohl auch gratulierend die Hand, kann sich aber trotz penetranten Nachbohrens von Wissenschaftler und Fotograf an nichts Geistreicheres erinnern.
Ein Kinderschuh wird Kettenraucher
Nach einem fehlgeschlagenen Versuch in Zürich durften wir Tomi Ungerer als komplette KunstArztPraxis erst 2016 im Auftrag des WDR während seiner „Incognito“-Retrospektive im Essener Museum Folkwang näher kennenlernen. Da sahen wir vieles aus unserer analogen Jugend zum ersten Mal im Original.
Vor allem aber öffnete sich durch die noch nie zuvor gezeigten Collagen und Skulpturen aus Steinen, Hölzern, Wurzeln, Tierskeletten, Kehrblechen, Küchensieben und Sprungfedern abermals die Tür in eine neue Welt, die aus vertrauten, nur eben neu kombinierten und künstlerisch ergänzten Dingen bestand.
In Essen mutierte ein Kinderschuh zum Kettenraucher. Oder zwei rostige Bleche zu zänkischen Weibern. Oder ein Gepäckträger samt Fahrradsattel zum Hund.
Es war der unschuldig-kluge Blick von einem, der weise geworden und deshalb kindisch geblieben war. Besser hätte Picasso das auch nicht machen können.
Elsass im Herzen, Europa im Geist
Im Gespräch erwies sich ein sehr freundlicher, ausgeglichener und redegewandter Ungerer irgendwie dann selbst als seine eigene Collage, denn der europäische Weltbürger mit elsässischem Herzen wechselte zwischen Deutsch und Englisch und Französisch munter hin und her.
Anekdotenreich war das Gespräch, in dem sich ein Leben zu einem aus Kindheit, Jugend und Reife bestehenden Bilderbuch voller erinnerter Skizzen zusammensetzte – und zu dem wir hier noch eine Anekdote hinzufügen können, die allerdings weniger für Ungerer als für die von ihm erzogenen Jungs aus der KunstArztPraxis wichtig war:
In Essen machten wir nämlich ein Foto, das Tomi Ungerer mit seinem Gehstock zeigt: eine typische Collage-Phantasie-Arbeit mit Fahrradklingel-Humor und Türklinken-Schmeichelei. Letztere von Designer Jasper Morrison.
Später fragte die vertreibende Klinkenfirma bei uns an, ob sie das Porträt in den Sozialen Medien posten dürfe. Tomi Ungerer und wir hatten nichts dagegen. So wurde unserer analogen Sauerländer Jugend dank Ungerer in gewisser Weise sogar noch die Tür zum hochmodernsten Digitalen geöffnet. Jedenfalls schließt sich ein Kreis.
Die Türe um die Klinke zimmern
Für kunstarztpraktische Dienstleistungen lassen wir uns gern in Naturalien entlohnen. Deshalb besitzen wir nun ein Exemplar jener Designer-Klinke, die Tomi Ungerer am Gehstock immer drückte: und zwar die Standardbeschlag-Ausführung in Aluminium-Rundrosette, eine Drückergarnitur mit Profilzylinderlochung für 37 bis 41 Millimeter Türstärke, samt Acht-Millimeter-Stabilstift.
Sie soll dereinst die KunstArztPraxis-Türe schmücken, wenn wir uns verändern. Und wenn wir die Tür extra um die Klinke herum zimmern müssen. Bei den vielen Türen, die Ungerer uns bisher geöffnet hat, ist das ja wohl das Mindeste. (28.11.2021)
Anmerkung 1: Der Vollständigkeit halber sei hier auch noch angemerkt, dass wir nach dem Tod Tomi Ungerers im Februar 2019 auch noch zur öffentlichen Trauerfeier in der Kathedrale von Strasbourg eingeladen worden sind, die die Stadt mit dem Musée Tomi Ungerer ausgerichtet hat. Dort hinzufahren haben wir dann aber nicht übers Herz gebracht. DIESE Tür war verschlossen.
Anmerkung 2: Verschlossen war uns auch die Tür zu Ungerers angeblich erotischen Zeichnungen, die der Postmann ein, zwei Mal brachte. Hier blieb es beim etwas enttäuschten Blick durchs Schlüsselloch. Aber vielleicht fahren wir ja noch zu Ungerers Retrospektive in den Hamburger Deichtorhallen. Da wird auch dem „Erotischen“, wie man so hört, viel Raum gelassen.
Appendix: Im Chirurgen-Dschungel (Mr. Ungerer, I presume?)
Für uns waren Ungerers Bilder nicht nur Türöffner: Sie sind bis heute Entdeckungssafaris in die Urwälder gesellschaftlicher und politischer Abgründe. Abgründe zumal, durch die der Künstler mit der Machete seiner Feder und des Stifts öffnende Schneisen schlug.
Deshalb sind wir immer noch glücklich, dass wir Ungerer 2016 bei seiner Erkundung des Essener Museums Folkwang – vielleicht auf der Suche nach Crictor, seiner Schlange, Otto, seinem Bären, Rufus, seiner Fledermaus, Cromwell, Beowulf und Warwick, seinen Krokodilen? – fotografisch im Dschungel wiederfanden. Noch mit dem eleganten Tropenhut auf dem Kopf, dem Regenwaldmantel am Körper und der Fernglasbrille vor den Augen. Und einem skeptischen Forscherblick.
Später erfuhren wir, dass Ungerer sich selbst als eine Art KunstArzt begriff: „Ich vergleiche das Zeichnen mit der Chirurgie. Eine Feder oder ein Stift führen auf dem Papier eine Operation durch.“
Das bringt uns vielelicht ein wenig näher, ändert aber nichts am Umstand, dass Ungerer für uns immer der Mann mit dem Tropenhut und dem Regenwaldmantel und der Entdeckungssafari geblieben ist. DIESE Breiten des Mensch-Seins lagen hinter den Türen, die er uns für unsere eigenen Expeditionen aufstieß.
Homepage von Mail Order Kaiser (inzwischen nicht mehr postalisch, sondern online)
Homepage von „Books of Wonder“ (inzwischen 17. Straße und weniger zauberhaft)
Homepage des Museums Folkwang Essen (auch mit 100 noch das alte)
Tomi Ungerer in den Hambuger Deichtorhallen (bis 24.04.2022)
Was für Sie, verehrte Kunst Ärzte, der geniale Ungerer war, ist für mich F.K.Waechter.Es ist schon eine ganz besondere Spezies, diese zeichnenden Dichter und dichtenden Zeichner, Aufklärer und Wachmacher, die dem Absurden und Monströsen immer auch das Lustige abgewinnen. Das ist gesund, sonst könnte man ja den gallopierenden Wahnsinn nur schwer aushalten. Das Ungerer auch dreidimensionale Kunst gemacht hat war mir neu. Auch deshalb:Danke für den sehr persönlichen Text.