Ruth Marten in Köln: Köpfe im Tentakel-Käfig
Mit ihren Collagen und Übermalungen verwandelt die New Yorkerin Ruth Marten seit 15 Jahren alte Kupferstiche und Fotos in surreale Träume – und ist dabei ganz im Hier und Jetzt. Auf ihren neuen Arbeiten streckt auch Corona seine Tentakeln aus. Noch bis Ende Januar 2022 in Köln.
Im November sind wir frisch geboostert und voll heftiger Begier nach Neuem auf die Straße gegangen und haben in der Menge einen Mann entdeckt, der von einem seltsamen Krakenvirus befallen war.
Irgendwie war der Mann in seinem opernhaften Smoking ganz 19. Jahrhundert, aber dann doch auch wieder komplette Gegenwart. Denn er trug um den Kopf einen Kokon aus Tentakeln, durch den die Augen wie durch Gitterstäbe blickten.
Schutzraum oder Krankheitszone?
„Louie C“ heißt dieser Mann, der uns so aufgeregt, angezogen und in Bann gehalten hat, aber sonst wissen wir kaum etwas über ihn. Ist der Kokon Teil seines Körpers, der sein Ich vor der hehren Wahrheit (oder der bösen Lüge) da draußen schützen soll? Oder ist er Ausdruck dieser (oder jener) heimtückischen Krankheit, die uns momentan alle zu befallen droht?
Eine unterm Ärmelsaum sichtbare Tentakelspitze deutet Letzteres an. Aber sicher sein können wir da nicht. Es wäre vergeblich, dies zu erforschen, hat ein kluger Mann aus Philadelphia seinem frisch genesenen Erzähler 1840 in den Mund gelegt. „Denn wir werden weder ihn noch sein Tun tiefer durchschauen“.
Gesehen haben wir Louie C in Ruth Martens Ausstellung „The Moon’s Mirror“ in der Galerie van der Grinten in Köln. Entstanden ist das übermalte Foto in der schlimmsten Phase der New Yorker Pandemie, und uns scheint der Mann im Krakenkäfig ein wundervoll unwirklicher Ausdruck jener monadenhaft-hermetischen Realität zu sein, in der wir seit Corona leben.
Vasenmasken und Blütenhauben
Überhaupt spiegeln sich im phantastischen Schein von „The Moon’s Mirror“ eine Menge Wesen, die ganz ähnlich sind wie Louie C – und doch auch wieder ganz anders als er.
Da gibt es Frauen mit Gardinen vor den Augen, deren Drapierung die Faltungen ihrer Rüschenkleider imitiert. Oder Menschen, deren Köpfe so perfekt von einer zweiten Haut aus Vasen, Tautierungen oder Blütenhauben umschlossen sind, dass gar nicht auffällt, was der Vorlage zu verdanken ist und was der Übermalung.
Täuschend echte Mimikry
Seit 15 Jahren betreibt Ruth Marten diese Form der künstlerischen, täuschend echten – und bisweilen auch witzig entlarvenden – Mimikry. Damals entdeckte sie auf einem Flohmarkt Bücher mit Stichen des 18. und 19. Jahrhunderts, die sie seitdem collagenhaft verfremdet.
Indem sie sie weiterzeichnet: immer im perfekten Stil des Originals. Altertümlich und aktuell zugleich.
In den letzten Jahren nun sind verstärkt Fotografien hinzugekommen, darunter „Louie C“. In Köln hängen sie neben jenen Collagen, Aquarellen, Tuschearbeiten und Gouachen, die man hierzulande seit der großartigen Retrospektive „Dream Lover“ zu Ruth Martens 70. Geburtstag 2018 im Brühler Max Ernst Museum kennt.
Und auch darauf wirft man im Schatten der Pandemie einen anderen Blick.
Denn Marten verhilft den rationalen Stichen aus aufklärerischer und nachaufklärerischer Zeit ebenso wie den in dokumentarischer Absicht entwickelten Fotografien zu einer neuen, phantastischen Dimension. Und hält den absurden Phantasmen und erschreckend erfolgreichen Desinformationskampagnen unserer postfaktischen Epoche im Mondspiegel so auch die polyphone Wahrheit der surrealen Kunst entgegen.
Doppelbödig und anspielungsreich ist das in jedem Fall. Wie bei Louie C, dem Mann der Menge, der mit seiner Krakenmaske unergründlich ist wie der dunkelste Fleck der Tiefsee. Sein Abbild schimmert im typischen Sepia-Ton der Schwarz-Weiß-Fotografie des 19. Jahrhunderts. Und dieser Ton ist nach dem Farbstoff aus dem Tintenbeutel von Sepien benannt, deren Verwandter Louie Cs Kopf umschließt.
Ist das zu weit hergeholt? Und, wenn ja: Ist das nicht vollkommen egal?
Die Kokons des Rätsels
Bei Ruth Marten dürfen unserer Meinung nach die Assoziationen sprießen – sofern man der Versuchung widersteht, sich auf eine Bedeutung festzulegen. Gedacht hat sich die Künstlerin nämlich nichts bei ihren Geschöpfen. Und das im besten Sinn des Satzes.
Das Schwierigste in der Kunst sei, eine Botschaft zu vermeiden, hat uns Marten schon vor einigen Jahren bei einem unserer Treffen verraten: Die Kokons des Rätsels zu weben ist verteufelt komplex.
„Kein Konzept, keine Bedeutung“: Dieser Aspekt ihres Sinnlosigkeitssuchens hat sich laut Marten – „vielleicht als Gegengewicht zur häuslichen Quarantäne“ – während der Pandemie in New York noch verstärkt.
In der Einsamkeit verbunden
„Während ich in erzwungener Einsamkeit lebte, fühlte ich mich nichtsdestoweniger sehr verbunden mit meiner Community und all den Leben, die wir zusammen erfunden haben“, notiert Ruth Marten zur neuen Ausstellung. Dieses „Phänomen der Verbundenheit“ käme auch in den in Köln gezeigten Arbeiten zum Tragen.
Vielleicht deuten wir den krakenhaft maskierten Gesichtsausdruck von Louie C also völlig falsch? Vielleicht sucht sein für uns vergitterter Blick in der Menge nur nach gleichartigen Wesen, mit denen er sich zwanglos verbinden kann?
Dann fährt sein Kopf bald wohl seine Tentakeln aus, um sich mit den Fangarmen Anderer lustvoll zu verknoten – und so glücklicher Teil einer neu erblühten Gemeinschaft von Einzigartigkeiten zu werden.
Aber wie gesagt: Wir können Louie C. nicht ergründen. Und eben deshalb haben wir seit unserer ersten Begegnung in der Menge im November immer wieder über ihn nachgedacht: ebenso wie über die anderen, wundervoll antiquierten Zeitgenossen, deren multiple Leben Ruth Marten erfunden hat.
Das hat uns in der Pandemie viel Trost geschenkt. Und uns Geboosterte mit unserer heftigen Begier nach Neuem auch ein wenig anders mit dem vielarmigen Schrecken da draußen umgehen lassen. (10.01.2022)
„Ruth Marten. The Moon’s Mirror“ ist noch bis zum 29. Januar 2022 in der Galerie van der Grinten in Köln zu sehen. Also: Husch, husch: Beeilung!
Ruth Marten im Max Ernst Museum Brühl 2018
Anmerkung: Für Ruth Martens „Dream Lovers“ wurden die beiden Ausstellungsmacher Jürgen Pech und Friederike Voßkamp 2019 mit dem renommierten Justus Bier Preis für Kuratoren ausgezeichnet. Komplett zu Recht.
Appendix: Sticheleien zu Ruth Marten
Geboren wurde Ruth Marten 1948 in New York. Studiert hat sie Zeichnung und Keramik, aber sie kommt buchstäblich vom schmerzhaften Kunst-Stich her. Als es in den USA – und für sie als Jüdin auch aus religiösen Gründen – noch streng verboten war, arbeitete sie ab 1972 als eine der ersten Tätowiererinnen im New Yorker Untergrund.
Später tätowierte Marten bei Performances während der 10. Pariser Kunstbiennale unter anderem Marina Abramović. Inzwischen gibt sie Kupferstichen und Fotos eine neue Haut. Oder neue Haare. Denn bevor Marten ihre Leidenschaft fürs Tätowieren wegen der Aids-Krise 1980 aufgab und nach einer Phase als Illustratorin ihre Passion für Kupferstiche entdeckte, galt Haaren ihr künstlerisches Hauptinteresse.
„Wir leben in einer stürmischen Collage, die sich ständig verändert“, sagt Marten. Das erinnert an Oscar Wildes Bonmot, dass das Leben die Kunst nachahme und nicht umgekehrt. Und es zeigt, in welcher Tradition Martens Kunst in Wahrheit zu verorten ist: In einem Umfeld von Zeichnern wie Edward Gorey oder Robert Crumb, die sich dem Pop ebenso verdanken wie dem feinen, ebenso dekorativen wie tabulosen Strich (und Stich) des „Fin de sick sick siècle“ (Gorey).
Mit ihrem Schwanken zwischen Realität und Traum, Historie und Gegenwart, Wissenschaft und Kunst ist Marten aber auch ganz nah bei Max Ernst, dessen drei Collageromane sie bewundert. Deshalb war ihre große Retrospektive im Max Ernst Museum Brühl 2018 genau am richtigen Platz.
Trotz all dieser Bezüge ist Martens künstlerische Mimikry gänzlich originell. Deshalb ist es wohl nicht übertrieben, wenn wir an dieser Stelle behaupten, dass die Welt das, was Marten macht, so noch nie gesehen hat.
Homepage der Kölner Galerie van der Grinten
Homepage des Mx Ernst Museums Brühl
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