In der Strafkolonie: Cardiff & Miller in Duisburg
Mit ihren Arbeiten erweiterten die Documenta-Teilnehmer Janet Cardiff und George Bures Miller den Skulptur-Begriff – und erhielten dafür den Wilhelm-Lehmbruck-Preis 2020. Jetzt läuft die damit verbundene Retrospektive im Lehmbruck Museum. Und die ist einfach sensationell.
Von Franz Kafka haben wir schon in der Jugend fast alles gelesen. Nur seine Erzählung „In der Strafkolonie“ (1919) mit ihrer sachlich-grausamen Beschreibung einer Hinrichtungsmaschine hörten wir im Sauerland zunächst im Radio. 1981 war das, in einer Hörspielfassung des SWR. Mit Bruno Ganz als Offizier und Wolfgang Stender als Forschungsreisendem.
Damals trugen wir Kopfhörer, denn uns reizte eine Aufnahme in Kunstkopfstereofonie: ein aufwendiges Verfahren, das maximalen räumlichen Effekt versprach. Und tatsächlich erinnern wir uns noch lebhaft, wie uns Kafkas Apparat, der dem Todgeweihten das übertretene Gebot zwölf Stunden lang immer tiefer ins Fleisch ritzt, bis er im entziffernden Moment der Erkenntnis seines Vergehens stirbt, lärmend durch die Köpfe sauste.
Das war so plastisch, als wären die Nadeln und Ketten im Quietschen und Knattern körperlich real. Es war vielleicht das erste Mal, dass wir begriffen, dass Klang Raum erzeugen kann. Der Ton im Kopf hatte skulpturale Qualität.
Inzwischen ist Kafkas literarische Apparatur aus der Strafkolonie auf innovative Weise leibhaftig Skulptur geworden. Sie steht im Lehmbruck Museum in Duisburg und dominiert dort visuell und akustisch einen zur Insel gewordenen Saal. Das kanadische Künstlerpaar Janet Cardiff und George Bures Miller hat sie nach der Lektüre der „Strafkolonie“ konstruiert – und komponiert, denn neben Körper, Licht und Bewegung gehören Klänge und Stimmen zum plastischen Gesamtkonzept.
Die Dino-Schatten der Roboterarme
Wer einen lockend beleuchteten roten Knopf drückt, erweckt die höllische „Killing Machine“ (2007) zum Leben. Dann tanzen ihre Roboterarme im Käfig zur Musik aus Lautsprechern und integrierten Instrumenten über einen antiquierten Zahnarztstuhl, der sich unter den imaginären Stichen windet wie das Kafkasche Bett unter der Egge. Und ihre Schatten wandern im Scheinwerferlicht wie schreckliche Echsen einer bedrohlichen Epoche gespenstisch über die Wände.
Am Ende lässt das reflektierte Licht einer Discokugel den Raum taumelnd explodieren, bevor der Raum mit dem Licht und dem Klang und der Bewegung komplett im Nichts der Dunkelheit erlischt. Danach lockt der rote Knopf aufs Neue.
Endloses Scheitern, große Oper
Die aus sich selbst heraus tätige, uns als beseelt erscheinende Maschine mit ihren immergleichen Abläufen: Das ist ein wichtiges Thema bei Cardiff & Miller.
Etwa bei der von Roboterfingern bewegten Marionettentänzerin auf der Schreibtischbühne von „Sad Waltz and the Dancer Who Couldn’t Dance“ (2015), mit der man irgendwie mitleidet, weil sie permanent aufs Neue scheitert und sich ihre Fäden (natürlich ganz nach dem präzisen Willen einer darauf hin orchestrierten Programmierung) immer wieder unentwirrbar verdrehen.
Im Grunde schauen wir bei all dem auch unseren eigenen Sinnlosigkeiten zu, in die wir uns unentwegt verheddern. Aber wir blicken in diese inneren Abgründe mit einer großen, von sanfter Melancholie ebenso wie von ungläubigem Staunen angehauchten Lust.
In letzter Konsequenz führt das Alles zu dem, was Cardiff & Miller im erstmals in Europa präsentierten „Escape Room“ (2021) inszenieren: In dieser begehbaren Maschine erhaschen wir an einem Schreibtisch nicht nur Einblicke in die Arbeit des Künstlerpaares, sondern dringen tief ein ins Herz der zivilisatorischen Finsternis.
Es ist eine Finsternis, in der babylonische Türme, archaische Pfahlbauten, phantastisch möblierte Hochhäuser und utopische Lichterstädte in all ihrer Verlassenheit auf uns warten. Und die sich je nachdem, welchen der Gänge wir durchschreiten, ganz anders beleuchtet und ganz anders erzählerisch offenbart.
In einem der Miniaturzimmer künden die umgestürzten Lautsprecher sogar vom Ende der Installation „The Forty Part Motet“ (2001), deren großartig polyphonen Gesänge wir im Lehmbruck Museum noch in voller Pracht im Surround-Sound – sitzend, oder noch besser: gehend, – erleben können.
So baut in der Duisburger Retrospektive alles Kapitel für Kapitel aufeinander auf.
Im „Escape Room“ haben Cardiff & Miller ein begehbares Bild nicht nur für unsere Isolation im Lockdown geschaffen, währenddessen die Arbeit entstand: Sie haben auch ein Bild für eine Welt animiert, die nach Krieg und Zerstörung als teils re-naturierte Maschine überlebt haben wird, wenn wir schon längst nicht mehr sind.
Skulptur der Spuren
Im Kleinen spiegelt sich das schon in der Arbeit „Opera for a Small Room“ von 2005 wider, in der Cardiff & Miller aus dem Zufallsfund einer Plattensammlung im multimedialen Möglichkeitsraum ihrer Guckkasten-Blockhütte eine imaginäre, posthume Einsiedler-Biografie rekonstruieren.
Getreu eines von uns in der KunstArztPraxis-Sprechstunde immer wieder gern zitierten Mottos bei Paul Valéry: „Ich denke jetzt an die Spuren, die ein Mensch in dem kleinen Raum hinterlässt, darin er sich täglich bewegt.“
Im Grunde ist das, was Cardiff & Miller machen, Kunstkopfstereofonie für alle Sinne. Ihre analogen virtuellen Welten basieren auf einem erweiterten Verständnis von Skulptur, das Elemente der Installation, des Theaters, des Hörspiels und des Kinos ebenso mit einbezieht wie den Besucher und die jeweilige museale, urbane oder natürliche Umgebung.
Die Dramaturgie des Fluchtraums
Cardiff & Miller verstehen sich nicht als Bildhauer, natürlich nicht. Von daher kam die Verleihung des Wilhelm-Lehmbruck-Preises 2020 für sie „ein wenig überraschend“. Aber wenn man Skulptur und Plastik als Ab- und Zunahme von Volumen definiert, dann ergibt die Auszeichnung an das Künstlerpaar einen einleuchtenden, völlig verdienten Sinn.
Denn ihr Werk ist gerade im Hinblick aufs Skulpturale sensationell. Und es ist vom Timing, vom Rhythmus, vom Sound, vom Zauber und von der Poesie her ebenso hypnotisch, geheimnisvoll und vieldeutig wie ein Kafkascher Satz.
Irgendwie ist die ganze Ausstellung von Cardiff & Miller ohnehin wie ein lustvoller Gang durch die Strafkolonie, und ein wenig ist der Besucher in der Situation eines Forschungsreisenden. Oder auch in der Rolle des Verurteilten, der plötzlich mit allen Fasern seines Körpers seine Einsamkeit, sein Vergehen ebenso wie seine Strafe erkennt.
Strafe und Vergnügen
So, wie Kafkas Apparatur, so sind auch die Klangskulpturen von Cardiff & Miller magische Wahrnehmungs- und Erkenntnismaschinen, die den Blick nicht zuletzt ausrichten auf die selbstgemachte Apokalypse. Allerdings natürlich weniger grausam. Und aus der teils auch ironischen Perspektive eines dystopischen Vergnügungsparks, der mit seinen unangenehmen Attraktionen immer wieder angenehm überrascht.
Sterben muss auch von dieser Kunst ohnehin keiner. Und die Erkenntnis formt sich nicht wie bei Kafka in der vollkommenen Körpereinsamkeit des Schmerzes, sondern eher mit Freuden beim offenen Hören und Sehen mit Auge, Ohr und Hirn.
Das gilt auch für die „Killing Machine“. Man selbst liegt eben nicht stundenlang auf dem Vollstreckungszahnarztstuhl. Keine der tanzenden Nadeln schreibt die Begründung des Todesurteils kaligraphisch ins eigene Fleisch. Man selbst setzt die Hinrichtungsmaschine ja nur in Gang.
Bei Cardiff & Miller ist der ganze imposante Spuk der lebendigen Tötungsmaschine nach 4’36 Minuten sowieso vorüber. Bevor er, wenn man es will, für weitere 4’36 Minuten von Neuem beginnt. (04.04.2022)
„Janet Cardiff & George Bures Miller“ ist noch bis zum 14. August 2022 im Lehmbruck Museum in Duisburg zu sehen. Danach zieht sie ins Museum Tinguely nach Basel weiter.
Das Lehmbruck Museum in der KunstArztPraxis:
Beuys, der Schüler: „Alles ist Skulptur“ in Duisburg (teils Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Bizarre Biester: Lynn Chadwick in Duisburg
Stephan Balkenhol: Hüllen für Geschichten (leider gefressen von der Unsichtbarkeits-Maschine)
Hörspiel „In der Strafkolonie“ (1981) des SWR zum Download
Homepage des Lehmbruck Museums
Anmerkung: Der große Frank Zappa hat einmal die Lektüre von Kafkas „Strafkolonie“ vor dem Anhören seines Stücks „The Chrome Plated Megaphone of Destiny“ empfohlen. Gute Idee, denn die wilde Komposition klingt zeitweise tatsächlich wie der Soundtrack zur literarischen Apparatur. Wir empfehlen zusätzlich Zappas Überwachungsoper „Joes Garage“ – eines unserer erklärten Lieblingsalben –, allerdings nach der Lektüre von Kafkas Text.
Volle Zustimmung. Ich hatte immer ein Problem mit dieser Art von Kunst. Die Maschinen von Tingely fand ich immer irgendwie rührend, aber sie haben mich nie wirklich berührt. Diese Arbeit im Lehmbruckmuseum hat mich total gefesselt. Mindestens eine Stunde bin ich dort verharrt. Ein großartiges Erlebnis. Mich hatten schon zuvor die Arbeiten von Donald Judd und die Wand von dem griechischen Arte Povera Meister, dessen Name mir gerade nicht einfällt, total begeistert und natürlich auch die Knieende des Museumnamensgebers. Aber diese Folter Maschine, eine völlig neue, unerwartete Erfahrung. Habe damals gar nicht wahrgenommen dass sie von Kafka inspiriert ist (neben Nabokov mein Liebster). Manchmal habe ich keine Lust, Erklärungen und Beschreibungen zu lesen und lasse die Werke einfach auf mich wirken. Eine magische Entdeckung war das. Wohltuend dass ich im Verfasser des Textes einen Geistesverwandten habe. In meinem Umfeld stehe ich da völlig einsam und verlorenen. Gut dass es das Internet gibt, das ich so oft auch verfluche.
Antwort Ben Wilmes: Iannis Kounellis
Antwort KunstArztPraxis: Ja, Jannis Kounellis. Von dem hängt ein Druck in der KunstArztPraxis. Und Kafka und Nabokov ist neben Kleist auch unser Liebster. Gut, dass Sie kein Alien sind, wir haben den Turing-Test ja gemacht. Halten Sie also bitte aus, Sie sind nicht allein. Ihre KunstArztPraxis.
Antwort Ben Wilmes: Danke für die guten Worte. Bis zum nächsten Jahr. ????