Aus dem Erzähl-Automaten: Francis Alÿs in Köln
Eigentlich gibt es von Francis Alÿs im Museum Ludwig wenig zu sehen, aber das ist trotzdem unglaublich viel. Denn hinter den sieben Werken, die hier aus Anlass der Verleihung des Wolfgang-Hahn-Preises 2023 an den Künstler gezeigt werden, türmen sich großartige Geschichten. Wir erzählen ein paar davon.
Wie Jeder weiß, sind wir große Verächter der biografisch nacherzählenden Kunstkritik. Aber wir lieben Erzählungen, die sich die Kunst aus sich selbst heraus zusammenreimt. Diese Erzähl-Automaten sind uns die liebsten. Und die Konzeptkunst schenkt uns persönlich besonders fruchtbare Exemplare.
Im Fall der Erzähl-Automaten von Joseph Beuys, Yoko Ono, Marcel Duchamp, Martin Kippenberger oder Mark Dion haben wir einige dieser Geschichten sogar höchstselbst weitergesponnen.
Der magnetische Hund, das geschmolzene Eis: die flüchtige Spur
Die Konzeptkunst von Francis Alÿs besteht auch aus Erzähl-Automaten. Seit über 30 Jahren streift der Künstler auf „Spaziergängen“ („paseos“) durch Mexico City und vollführt mit banalen Objekten staunenswerte Dinge.
Beim ersten Spaziergang zum Beispiel zog er 1991 tagelang einen magnetischen Hund am Band durch die Straßen, den der achtlos weggeworfene Metallmüll der Bewohner mästete.
Sechs Jahre später schob er rund neun Stunden einen Eisblock über die erhitzten Steine, bis er geschmolzen und seine Wasserspur komplett verdunstet war.
(Bild: Francis Alÿs beim Spaziergang, Mexico City 2022; © Roberto Ruiz)
„Paradox of Praxis 1“ (1997) ist unser absoluter Lieblings-Spaziergang: harte Arbeit, die bei zunehmend gekrümmtem Rücken, bis zum Kicken mit den Füßen, immer leichter wird.
Aus bildhauerischer Sicht ist die paradoxe Praxis das Gegenteil des magnetischen Hundes: Während der Stadtraum dem Hund permanent Masse zufügt wie einer Plastik, raubt derselbe Stadtraum dem Eisklotz den skulpturalen Körper.
Auf jeden Fall ist Sisyphos am Ende seiner sinnlosen Mühen wieder frei.
Kunst als Kinderspiel oder: Camus hatte doch Recht!
DIESEN Sisyphos, den Künstler Francis Alÿs also, müssen wir uns tatsächlich als glücklichen Menschen vorstellen. Denn er macht ja, was er will: wie ein Kind, das spielt. Und das macht Sinn. Denn Alÿs stellt spielerisch Fragen zur menschlichen und zur künstlerischen Arbeit, zum Verhältnis von Präsenz und Verschwinden, Materie und Idee.
Und schafft dabei noch neue Welten. Hach, darüber könnten wir stundenlang nachdenken.
„Sometimes Making Something Leads to Nothing“ lautet der ironische Untertitel von „Paradox of Praxis 1“. Was sich die Passanten bei Alÿs‘ Passieren mit dem schmelzenden Eisklotz gedacht haben könnten, darf man sich getrost zusätzlich ausmalen. Es ist Teil der ganzen Geschichte, die im Laufe der Zeit an Volumen gewinnt.
Der Körper des Eises ist vergangen, aber die Erzählung schwillt an. Tolltolltoll.
Sehr urbane, subversive, poetische Abenteuer
Es sind sehr urbane, subversive, poetische Abenteuer, die Alÿs bestreitet: Erzähl-Automaten, deren Geschichten sich nicht nur unter den Bewohnern von Mexiko City verselbstständigen, sondern auch in unseren Köpfen. Diese Geschichten ergehen sich im Stadtraum, weil Alÿs ihn durchstreift, hinterlassen erzählende Spuren, eben weil sie vergehen.
Der Rest ist Dokumentation.
Auch die beiden Bilder, die das Museum Ludwig jetzt besitzt, weil Francis Alÿs den Wolfgang-Hahn-Preis 2023 der Gesellschaft für Moderne Kunst erhielt, mit dem immer ein Ankauf verbunden ist, sind solche Dokumentationen von Spaziergängen des Künstlers durch Mexico City. Aber sie sind noch mehr.
Sie sind nämlich selbst die Objekte jener paradoxen Praxen, die zu ihrer Erstellung nötig waren, Teil des konzeptionellen Prozesses. Und dieses Paradoxe finden wir besonders groß.
Alÿs hat sie durch den Stadtraum getragen, von seinem Atelier zu den Ateliers dreier Schildermaler, zwischen dieses Ateliers hin und her – oder zurück.
Von 1993 bis 1997 beauftragte Alÿs Juan García, Enrique Huerta und Emilio Rivera, die eigentlich Emaille-Reklameschilder auf Metallplatten („Rotulos“) für den Stadtraum malten, damit, in ihrer jeweiligen Technik großformatige Kopien seiner kleinen Gemälde anzufertigen – wobei sich die „Erzählung“ (das Motiv) immer ein wenig verändert hat.
(Bild: Juan Garcia in seinem Atelier, Mexico City 1995)
Wir nennen auch das mit den Motiven jetzt mal „Erzählung“, weil Alÿs diese paradoxe Praxis, in deren Folge rund 500 Bilder entstanden, selbst mit dem Kinderspiel „Stille Post“ verglichen hat. In Köln kann man auch die Unterschiede suchen. (Findet ihr sie alle?)
Woraus ergibt sich diese Kunst?
Die Bilder sind also Ausdruck von etwas, was sich verflüchtigt hat, Manifestationen einer Idee, einem ganzen Netz absurder Gänge durch die Straßen, verbunden nur durch ein Konzept, das Francis Alÿs sich ausgedacht hat, also politisch und sozial und ökonomisch aufgeladene reine Poesie.
Was mehr Wert besitzt: Objekt oder Aktion, Konzept oder Bild, Verflüchtigtes oder Präsentes? Keine Ahnung. Ist aber auch egal. Denn es gehört ja irgendwie zusammen. Diese Kunst ergibt sich aus allen Geschichten, die sie erzählt. Nochmal tolltolltoll.
Und welche Geschichten erzählen uns die Bilder der Kölner Mini-Schau? Sie erzählen Geschichten von einem Mann im Anzug, der mit Dingen äußerst merkwürdige Dinge tut.
Wenn man sich den Anzug und die Physiognomie wegdenkt, dann könnte dieser Mann also Francis Alÿs selber sein, der eine seiner paradoxen Praxen ausübt. Dann wären die Bilder Porträts und Selbstporträts, die uns einen Künstler zeigen, der drinnen, im Privaten, dieselben paradoxen Praxen ausführt wie im öffentlichen Raum. Das ist ebenfalls ein Gedanke, der uns sehr gefällt.
Wie schweißreibend das sein kann, offenbart der Umstand, dass im Museum Ludwig sogar die Schuhe mitschwitzen.
Das ist der magische Zaubertrick!
Und was zöge dieser imaginäre Francis Alÿs dann mit seiner rechten Hand unter dem Tafelberg der Tischdecke hervor, unter der er sie verborgen hat, wie der Zauberer das weiße Kaninchen aus seinem Zylinder? Was für ein Ding könnte das sein? Hmmmm???
Wir glauben, dass dieses Zöge ein wildes, buntes Knäuel wäre. Aber kein Wolliges, sondern eines aus all jenen Geschichten, die die Erzähl-Maschine des Schildermaler-Projekts in Vergangenheit und Zukunft in Raum und Zeit aus sich selbst heraus gesponnen hat und spinnen könnte. Also auch diese.
Das ist der Zaubertrick, der in der Kunst per Fingerschnipp die magische Aura schafft.
Da ist also etwas mächtig schief gelaufen beim Schildermaler-Projekt, denn eigentlich ging es ja auch darum, Begriffe wie Aura, Originalität und Autorenschaft zu unterwandern. Und jetzt hängen da im Museum Ludwig diese Bilder, die einen derart mystischen Zauber haben, dass man gar nicht anders kann, als möglichst oft hinzugehen und ihre Geschichten weiterzuspinnen.
Dass dieser Teil des Konzeptes nicht geklappt hat, dafür sind wir Francis Alÿs nicht böse.
Vom Tausch- zum Prestige-Objekt
Bei einem anderen Teil sind wir uns noch nicht ganz sicher. Denn das Schildermaler-Projekt zielte ja auch darauf ab, die Wertschöpfungsketten des Kunstmarkts zu unterwandern, seine Bilder waren Tauschobjekte für Zahnarzt-Besuche oder wanderten für wenig Geld (1.000 Dollar pro Einheit) an Sammler mit Geschmack.
Dass diese Bilder dann später auf Auktionen auftauchten und für Fantastilliarden unter den Hammer kamen, um an den Betonwänden brutalistischer Bankiers-Villen zu enden, kann man Francis Alÿs natürlich nicht vorwerfen.*
*Das mit den brutalistischen Bankiers-Villen haben wir uns nur ausgedacht, Ehrensache.
Aber das mit den Auktionen und den (relativ zu den 1.000 Dollar) Fantastilliarden stimmt.
Aber: Was ist mit dem Preis, dem wir die kleine Ausstellung im Museum Ludwig verdanken?
Warum ging der mit 100.000 Euro dotierte Wolfgang-Hahn-Preis an Francis Alÿs, der inzwischen von einem der weltweit mächtigsten Galeristen in New York vertreten wird, und nicht an Francis Alÿs, Juan García, Enrique Huerta, Emilio Rivera und all die anderen, die an den paradoxen Praxen teilgenommen haben?
Ganz einfach: Weil die Idee im Kunstbetrieb im Jahr 107 n.D.* alles ist und das Handwerk eigentlich gar nichts – auch so eine Sache, mit deren Unterwanderung Francis Alÿs ein Stück weit gescheitert ist.
*nach Duchamp
Warum wir Francis Alÿs trotzdem gern verzeihen
Aber Scheitern gehört zu guter Konzeptkunst ja dazu, Scheitern für 100.000 Euro kann auch nicht Jeder. Dass der New Yorker Galerist nicht Larry Gargosian ist, sondern David Zwirner, ist ebenfalls ein Trost. Und ohne den Preis und die Gesetze des Kunstmarkts hätten wir diese grandiosen Bilder aus Alÿs‘ Erzähl-Automaten, die zum Großteil in Privatsammlungen stecken, nie gesehen.
Überhaupt: Jeder hat das Recht, reich & berühmt zu werden. Wir sind doch nur neidisch.
Und, wer weiß: Vielleicht hat Alÿs das Preisgeld auch fürstlich unter sich und Juan García und Enrique Huerta und Emilio Rivera und all den anderen aufgeteilt? Ist aber auch egal. Geht uns nichts an. Das wäre nämlich eine von jenen biografisch nacherzählenden Geschichten, die wir, wie Jeder weiß, verachten. (28.01.2023)
„Francis Alÿs. Wolfgang-Hahn-Preis 2023“ ist noch bis zum 4. April 2024 im Museum Ludwig in Köln zu sehen. Dazu gehört auch ein Film zum Schildermaler-Projekt. Die begleitende Publikation ist auch sehr schön. Und darin erhalten Juan García, Enrique Huerta und Emilio Rivera hinreichend Würdigung.
Anmerkung 1: Auf die sozialen, ökonomischen und politischen Implikationen von Alÿs‘ Werk sind wir jetzt nicht eingegangen, wir sind ja eher dem Poetischen verpflichtet. Aber auch darüber gäbe es noch viel zu sagen. Und auch über viele seiner anderen tollen Erzähl-Automaten zur Erforschung städtischer Texturen.
Anmerkung 2: Als wir vom Scheitern der besten Erzähl-Automaten sprachen, hatten wir unter anderen Martin Kippenberger im Kopf, dessen Lieber-Maler-male-mir-Idee wir immer noch großartig finden, Weshalb wir Kippenberger ja bekanntlich ein Lieber-Dichter-dichte-mir-Gedicht zum Geburtstag schenkten.
Die Idee, zum Beispiel seine „Paris Bar“-Bilder von einem Auftragsmaler malen zu lassen, ist durchaus mit der Idee von Alÿs vergleichbar, auch in der Intention. Aber anders als Alÿs fand es Kippenberger nicht nötig, den tatsächlichen Maler zu würdigen, in der öffentlichen Wahrnehmung waren die Bilder ausschließlich von ihm. Götz Valien musste klagen und bekam im Urheber-Rechtsstreit 2023 Recht.
Hach, diese biografischen Geschichten! Das Handwerk lebe trotzdem hoch.
Das Museum Ludwig in der KunstArztPraxis:
Die Alchemist*in: Ursula im Museum Ludwig
Gerhard Richter Retro: “Neue Bilder” in Köln (2017)
Sommerloch-Porträts (2): Pierre Huyghes Hund
Martin Kippenberger in der KunstArztPraxis:
Fit für Kippi? Das Martin-Kippenberger-Quiz
Lieber Dichter, dichte mir: Lyrik für Kippenberger
“Liebes Chatbot, dichte mir”: KI für Kippenberger
“Kippenbergers Kosmos steckt im ‘Kafka’”
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